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Wohlstand durch Wissen: Deutschland braucht neuen Schub

Arbeit und Kapital, einst die wichtigsten Wachstumsträger, sichern Deutschlands Wirtschaftskraft nicht mehr. Über die nächsten 15 Jahre muss der Wohlstand mittels Technologie und Wissen geschaffen werden, der technische Fortschritt wird zum alleinigen Wachstumstreiber werden. Neue Geschäftsmodelle werden entstehen, zugleich aber auch Risiken für den sozialen Zusammenhalt. Deutschland muss dringend die Weichen für diesen Wandel stellen. Es droht zum Wachstumsschlusslicht unter den großen Ländern zu werden.

Konjunkturell wie strukturell kann Deutschland auf starke Jahre zurückblicken. Und dennoch: Die Frage, wie das Land in der mittleren Zukunft politisch und wirtschaftlich dastehen wird, beschäftigt viele im Land. Die Frage ist so wichtig wie dringlich. Die gute Lage Deutschlands täuscht über schwierige langfristige Trends hinweg. Denn über das nächste halbe Jahrhundert droht Deutschland zum Wachstumsschlusslicht unter den großen Volkswirtschaften der Welt zu werden.

Der demografische Wandel wird die Wachstumsbeiträge von Arbeit und Kapital in den nächsten Jahrzehnten auf ein niedriges, möglicherweise sogar negatives Niveau absenken. Über die nächsten fünfzehn Jahre muss Deutschlands Wohlstand durch Technologie und Wissen geschaffen werden – der technische Fortschritt wird zum alleinigen Wachstumstreiber. Doch dies spiegelt sich kaum in Deutschlands politischem Diskurs wider.

Bis 2030 dürfte eine Welle großer Strukturreformen entstehen. In diesen Jahren können viele Weichen für modernes Wirtschaften gestellt werden. Deutschland wird insbesondere einige seiner wirtschaftsnahen Dienstleitungen stärker dem Wettbewerb öffnen und leistungsfähiger organisieren müssen.

Enorme Chancen und große Sorgen

Deutschland dürfte sich zu einer industriellen Wissensgesellschaft fortentwickeln. Moderne Dienstleistungen, neue industrielle Wertschöpfung und hohes Innovationstempo werden die Wirtschaft prägen. Dies bietet enorme wirtschaftliche Chancen, setzt aber eine moderne Industriepolitik mit starken Akzenten auf Bildung, Forschung und technischen Fortschritt voraus. Deutschland muss die Weichen für diesen Wandel stellen. Die Konsequenzen für die Wirtschaftspolitik sind bislang noch nicht in allen Feldern berücksichtigt worden.

Die Zeichen der Veränderung in der Weltpolitik, in der Technik und in der gesellschaftlichen Entwicklung sind so stark, dass Sorgen über die Zukunft der Arbeit, des sozialen Zusammenhalts, der Umwelt und des Wohlstands aufgekommen sind. Der Anteil klassischer Industrieländer wie Deutschland am weltweiten Wirtschaftswachstum wird künftig deutlich schrumpfen. Bis 2030 rechnet die OECD vor allem mit deutlich steigenden Anteilen von China und Indien bis 2060 mit erheblichen Zuwächsen Afrikas.

Zur Anhebung des Wachstumspotenzials sind nicht nur ein stärkeres Arbeitsangebot nötig, sondern auch die Steigerung der Qualifikationen der Arbeitnehmer, verstärkte Bruttoanlageinvestitionen und eine höhere Produktivität. Produktiver wird Deutschland durch Investitionen und Innovationen in Wirtschaft und Gesellschaft.

Insgesamt betrachtet ist die gesamtwirtschaftliche Investitionstätigkeit jedoch nach dem Ende des Einheitsbooms Mitte der Neunzigerjahre schwach verlaufen. Trotz der guten Beschäftigungsentwicklung im letzten Jahrzehnt altert der Kapitalstock in vielen Branchen des verarbeitenden Gewerbes und in der öffentlichen Infrastruktur.

Stärkere Innovationskultur notwendig

Deutschland muss mehr als bisher über industriepolitische Weichenstellungen mit sehr langer Perspektive entscheiden. Noch immer gibt es eine Reihe hervorragender Standortmerkmale. Doch die Schwächen bei Gründungen, Risikokapital, öffentlichen Investitionen und regulatorischen Rahmenbedingungen für wenige Schlüsseltechnologien müssen nun gezielt angegangen werden.

Eine stärkere Innovationskultur wird notwendig. Die zukünftige Produktivität wird vom Wissen und der Intelligenz, mit der wir Arbeit, Kapital und Wissen kombinieren, geprägt sein. Radikaler technischer Wandel wird durch dramatisch sinkende Grenzkosten völlig neue Geschäftsmodelle ermöglichen. Dies wird die Wertschöpfung in großen Sektoren wie der Mobilität, der Gesundheit und der Energiewirtschaft verändern, die Kopplung mit Dienstleistungen erhöhen und sehr wissensintensiv werden.

Auch dabei nutzen asiatische Länder den sich bietenden Raum. In China ist ein rasanter Anstieg wissensintensiver Wertschöpfung in jüngerer Zeit festzustellen. Südkorea ist in vielen Feldern Spitzenreiter in der unternehmerischen Umsetzung neuer Produkte und Dienstleistungen.

Die heutigen Marktführer erzielen mit weltweit skalierbaren Geschäftsmodellen hohe Gewinne. Doch der Marktführer von gestern mag heute schon den neuesten Trend verpasst haben und in drei Jahren sind andere temporäre Oligopolisten am Werk. Neue Antworten sind nötig: auf Energie- und Rohstoffknappheit sowie einen wahren Innovationsschub durch die Mobilitätsanbieter, an den sich die Infrastruktur anpassen muss, auf rasante Fortschritte in der Medizin und damit eine Veränderung der Lebenspraxis von Milliarden von Menschen. Zugleich sind Probleme der internationalen Sicherheit wieder virulent geworden.

Europäische Union bietet unterschätzte Potenziale

Vermutlich werden deutsche Unternehmen und Gründer mittelfristig Defizite des deutschen Standorts durch eine Zusammenarbeit mit europäischen Partnern ausgleichen und sich weiterhin weltweit betätigen müssen. Deutschland muss sich noch tiefer in Europa integrieren und in der internationalen Zusammenarbeit Rahmenbedingungen für eine wirtschaftliche Wertschöpfung zum Besseren wenden. Während das Fahrwasser in der bi- und multilateralen Handelspolitik schwieriger geworden ist, bieten sich in der Europäischen Union völlig unterschätzte Potenziale geteilter Chancen.

Europa hat die Chance, politisch als ein stärker geschlossenes Gebilde aufzutreten als jede andere große Weltregion. Aus demografischen, kulturellen sowie sprachlichen, wirtschaftsgeografischen und politischen Unterschieden heraus lässt sich ein politisch attraktives, wirtschaftlich und sozial erfolgreiches und außenpolitisch friedliches politisches Gefüge schaffen. Dagegen steht Asien heute da, wo Europa zu Beginn der Fünfzigerjahre war: bei begrenzten Systemen der Zahlungsbilanzhilfe, freierem Handel, ersten Schritten zur Freizügigkeit, ersten gemeinsamen Förderbanken.

Die Internationalisierung von „Made in Germany“ – das ist die kaum verstandene Erfolgsgeschichte der deutschen Unternehmen. Wir haben ein Jahrzehnt äußerst dynamischer und überraschend stetiger Ausweitung des internationalen Engagements der deutschen Industrie erlebt, die Marktchancen der neuen Länder nutzte. Deutschlands industrielle Entwicklung und Innovationskraft wird allerdings nicht ohne eine Systemführerschaft gesichert werden können. In einer Reihe von Technologiefeldern bestehen erhebliche Chancen, die beherzt genutzt werden müssen.

Gesellschaftliche Akzeptanz fehlt

Problematisch wird, dass in der Gesellschaft die Einsicht in die Quellen des Wohlstands kaum noch eine Rolle spielt. Manche Branchen haben mit vielfältigen Akzeptanzproblemen in der Gesellschaft zu kämpfen. So bleibt ein Großteil wirtschaftlichen Handels in Deutschland auf absehbare Zeit gerade aufgrund der Internationalisierung des Wirtschaftens eine kritisch hinterfragte Größe. Der überwältigende Konsens über eine gute Balance von Weltmarktintegration und wohlfahrtsstaatlicher Politik, kurz: von sozialer Marktwirtschaft, des letzten halben Jahrhunderts bröckelt, das Unbehagen an der Welt nimmt zu. Produktivität und sozialer Zusammenhalt müssen auch in der digitalen Welt gut austariert werden. Noch ist dies Zukunftsmusik. Ob diese bald in Dur oder in Moll erklingen wird, hängt von der politischen Gestaltung ab.