BDI-Präsident Siegfried Russwurm Ⓒ BDI/Christian Kruppa

,,Deutschland hat das Zeug zu mehr“

Siegfried Russwurm ist seit dem 1. Januar 2021 die Stimme der Industrie in Deutschland. Im FAS-Interview spricht der neue BDI-Präsident über die Rolle des Staates in der Corona-Pandemie, den Wert von "made in Germany" und die Erwartungen an den neuen US-Präsidenten.

Herr Russwurm, Sie treten in denkbar schwierigen Zeiten als Industriepräsident an, wie schlimm wird das Jahr 2021 für die deutsche Wirtschaft?

2020 im Rückspiegel macht mich vorsichtig bei Prognosen. Leicht wird 2021 sicher nicht. Corona ist bitterernst. Zugleich gibt der Impfstoff Hoffnung. Der Brexit ist höchst bedauerlich, aber neue Realität. Gewisse Zuversicht erlaubt der Ausblick auf die Präsidentschaft von Joe Biden in den USA. Spannend wird, wie sich Deutschland nach der Bundestagswahl ordnen wird. All das beschäftigt die Industrie. Und aufpassen müssen wir, dass Megathemen wie Digitalisierung und Klimaneutralität im Corona-Krisenmodus nicht zu sehr in den Hintergrund treten.

Der Staat hält mit Milliarden-Paketen dagegen, wer wird dafür am Ende bezahlen?

Wir alle, früher oder später.

Fürchten Sie aufflammende Verteilungskämpfe?

Die sehen wir jetzt schon, wenn nach höheren Steuern für Unternehmen oder einer Vermögensabgabe gerufen wird. Dahinter steckt der Irrglauben, dass es irgendwem helfen würde, den Unternehmen Mittel für Investitionen zu entziehen. Wenn die Last zu hoch wird, leiden Unternehmen und mit ihnen unser Land.

Rechnen Sie mit einer Pleitewelle?

Coronabedingt hat die Politik 2020 Insolvenzregeln vorübergehend ausgesetzt und direkte Finanzspritzen gegeben. Das hat zunächst auch solche Insolvenzen verhindert, die es ohne Corona gegeben hätte. Die werden wir irgendwann sehen. Außerdem wird die Wirtschaft selbst im besten Fall bis Ende des Jahres nicht das Niveau vor der Corona-Krise erreicht haben. Dass schwache Anbieter irgendwann aus dem Markt ausscheiden, um neuen Platz zu machen, gehört zur systemischen Stärke einer Marktwirtschaft, auch wenn das für direkt Betroffene bitter ist.  

In drei Wochen wird Joe Biden ins Amt eingeführt, was erwarten Sie vom neuen amerikanischen Präsidenten?

Seine drängendste Aufgabe ist es, den Zusammenhalt in Amerika einigermaßen zu kitten. Nach 25 Jahren als Manager für einen globalen Konzern habe ich viele Freunde in Amerika. An denen erlebe ich, wie tief gespalten das Land ist. Ob ich mit jemand aus Ohio rede oder aus Massachusetts, das macht einen gewaltigen Unterschied. Für uns Europäer setze ich darauf, dass sich das Verhältnis zu Amerika wieder bessert. Ich bin überzeugter Transatlantiker und halte nichts von Äquidistanz zu den USA und China. Amerika und uns in Europa verbindet so vieles. Ich hoffe, alle Beteiligten besinnen sich wieder stärker darauf.   

Wird Präsident Biden die Handelskonflikte entschärfen?  

Dafür spricht vieles: Die USA wie China, und Europa sowieso haben ein Interesse am Weltmarkt, weil alle davon profitieren. Dennoch ist klar, dass in der künftigen US-Regierung nicht nur leidenschaftliche Freihändler sitzen werden. Der Slogan „Buy American“ stammt von den Demokraten, darauf wird der neue Präsident Rücksicht nehmen müssen.

Dann drohen weiter Autozölle, wie von Donald Trump ins Spiel gebracht?

Eher nicht. Ich glaube an die Vernunft. Präsident Biden wird nicht die deutschen Automarken auf der Fifth Avenue zählen, und vor allem wird er wissen, dass BMW mehr Autos in Spartanburg und Mercedes in Tuscaloosa bauen, als in den USA fahren. Sie stärken also Amerikas Exporte in die Welt.

In der digitalen Wirtschaft dagegen dominieren die Amerikaner. Haben wir den Kampf gegen deren Internetgiganten verloren?

Das Risiko ist offensichtlich. Und deshalb ist es so wichtig, dass wir aus Europa heraus besser werden. Dabei rede ich nicht von Autarkie, das wäre Unsinn. Aber es geht um Souveränität. Ein Netzwerkprojekt wie Gaia-X, die europäische Cloud, kann dazu beitragen.

Wie hell strahlt das Markenzeichen „Made in Germany“ heute noch?

Unser Ruf ist weiterhin erstklassig. Aber dieses Markenzeichen darf nicht zu einer Museumsmarke werden. Deshalb sind Innovationen so wichtig und Schnelligkeit. Was hierzulande möglich ist, zeigt aktuell die Entwicklung von Corona-Impfstoffen übrigens wie so häufig durch die erfolgreiche Zusammenarbeit von Mittelständlern und großen Konzernen. Die Welt verfolgt das mit großem Respekt.

Aber Deutschland muss auf vielen Gebieten Geschwindigkeit aufnehmen. Wir müssen beweisen, dass wir Zukunft wollen! Statt aufgeschlossen zu sein für Neues, betonen mir zu viele zuerst die Risiken und rufen nach Regulierung. Im Infrastrukturausbau fehlt es massiv an Tempo: bei der Digitalisierung von Schulen und öffentlicher Verwaltung, bei dem Ausbau der Energienetze und Verkehrswege. Dass Bahnstrecken wie der Anschluss an den Brennerbasistunnel bei uns Jahrzehnte brauchen, ist ein Armutszeugnis.

Daran ist der Protest der Bürger nicht unschuldig. Schon der Bau von ein paar Kilometern Autobahn provoziert Aufstände, wie in Hessen jüngst zu besichtigen. Fordern Sie den Mut der Politik zu neuen Autobahnen?

Bei den Verkehrsprojekten Deutsche Einheit gab es einen guten Ansatz. Das ist 30 Jahre her, hat sich damals aber bewährt. Wenn der Bund im Verkehrswegeplan nach ausgiebiger Diskussion eine Autobahn beschließt, dann dürfen die Dinge nicht auf x-Ebenen darunter endlos verzögert werden. Für Stromtrassen und Pipelines gilt dasselbe. Irgendjemand stört sich immer an einem Großprojekt. Diese Nicht-in-meinem-Vorgarten-Haltung schadet dem Land.

Vor Ort sind Grüne oft Teil des Protestes. Schreckt Sie die Vorstellung, dass die Öko-Partei im Herbst Teil einer Regierung wird?

Mir geht es nicht um Farbenlehre. Mir geht es um Offenheit für Technologie und gegen übermäßige Bürokratie – den Anspruch stelle ich an alle, die politische Verantwortung tragen.

Was wäre Ihre Wunschkoalition?

Das wäre Spekulation. Vorerst gibt es doch weder überall Wahlprogramme noch Spitzenkandidaten oder -kandidatinnen. Und selbst wenn, dann werden wir immer mal wieder mit plötzlichen Einfällen und Kehrtwenden überrascht.

Meinen Sie Söders plötzliche Begeisterung für die Frauenquote in Vorständen?

Er hat sie im bayerischen Kabinett immerhin selbst eingeführt. Andere Ideen sind weniger berechenbar. Unternehmer und Manager freuen sich über Vernunft und Verlässlichkeit.

Nur die FDP kommt in diesen Planspielen kaum vor. Können Sie es sich erklären, warum die FDP nicht vom Überdruss an der Großen Koalition profitiert. Hat der Liberalismus ausgedient?

Ein freiheitsliebender Lebensstil und ein liberales Weltbild haben viele Anhänger in unserem Land. Wie gekonnt Parteien dieses Feld bespielen, ist eine andere Frage. Für die Industrie ist entscheidend, dass Politiker egal welcher demokratischen Partei für die Soziale Marktwirtschaft eintreten, selbstverständlich ergänzt um den Aspekt Nachhaltigkeit.

Passt dazu ein Staat, der sich direkt an Unternehmen beteiligt?

Mir fällt es schwer, immer neue Staatsbeteiligungen zu akzeptieren. Jetzt, im akuten Kampf gegen Corona kann das in Einzelfällen ein Ansatz der Politik sein, um Unheil soweit irgend möglich abzuwenden – dafür hoher Respekt und soweit akzeptiert. Trotzdem müssen wir aufpassen. Wenn der Kampf gegen Corona gewonnen ist, müssen solche Beteiligungen auch wieder beendet werden.

Das Volk scheint diese Versuchung kaum zu irritieren, im Gegenteil: Der Glaube an den Staat und seinen Wumms ist immens.

Staatswirtschaft auf Dauer hat noch nie funktioniert. Wo das ausprobiert wurde, ist es immer gescheitert. Deswegen ist es so wichtig, den Menschen Appetit auf Unternehmen zu machen: Unternehmertum ist gut für die Gesellschaft.

Wir haben es mit einem seltsamen Phänomen zu tun: Vor Ort werden Unternehmer oft aufs höchste geschätzt, als Arbeitgeber, Ausbilder, Steuerzahler. In der Gruppe aber werden sie verdächtigt als finstere Typen. Und im „Tatort“ sind sie im Zweifel die Bösewichte. Das muss raus aus den Köpfen! Länder ohne starke Industrie sind klar im Nachteil – das zeigt sich auch jetzt erneut beim Kampf gegen die Pandemie: Rasche Impfstoffentwicklung und massenhafte Produktion brauchen die Leistungskraft der Industrie.

Etliche Branchen, etwa die Autoindustrie, hatten schon vor Corona ihre Probleme.

Der Trend in der Industrie zeigte vorher schon nach unten. Der Anteil industrieller Wertschöpfung liegt heute bei 21 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, vor drei Jahren waren es noch 23 Prozent. Diesen Abwärtstrend müssen wir stoppen.

Wesentliche Stütze der Konzerne ist Asien. Sind wir von China inzwischen so abhängig, dass wir uns keine Kritik mehr an den politischen Zuständen dort erlauben können?

Kritik und Geschäft schließen sich nicht aus. Aber wer meint, dass die chinesische Regierung wegen kritischer Stimmen der deutschen Wirtschaft ihre Politik ändern wird, der irrt. Das Gespräch von Staat zu Staat ist Sache der Politik.

Müssen wir sensible deutsche Unternehmen vor dem Zugriff aus China schützen?

Wer ist wir und wovor schützen? Die Debatte um ausländische Investoren in Deutschland ist zwiespältig. Mal werden sie für Direktinvestitionen gefeiert, weil wir uns über das Geld aus dem Ausland freuen, dann wiederum ist von feindlichen Angriffen die Rede. Vernünftiger ist, Fairness auf dem gemeinsamen Spielfeld zu verlangen und herzustellen. Und da hat die Politik jetzt mit der Einigung auf ein europäisch-chinesisches Investitionskommen einen lange angestrebten Schritt getan.

Es sind Leute wie Daimler-Aufsichtsratschef Bischoff, die nach dem Staat rufen, damit er Deutschlands Industrie vor dem Einfluss Pekings schützt.

Es ist immer schwierig, wenn auf der einen Seite de facto ein Staat – im Falle China ein sehr großer – und auf der anderen private Unternehmen sich gegenüber stehen. Da vermischen sich Ebenen. Sauber wäre: Unternehmen haben mit Unternehmen und europäische Industriepolitik hat mit chinesischer zu tun.  

Vorrangigstes Projekt in Brüssel ist gegenwärtig der Klimaschutz. Kann die Industrie mit schärferen Vorgaben leben? Oder braucht sie wegen Corona eine Verschnaufpause?

Pandemie und Klimaschutz darf man nicht gegeneinander ausspielen. Der Klimawandel stellt uns vor eine Riesenaufgabe, die nehmen wir an. Auf dem Weg zu Klimaneutralität 2050 ist die Industrie nicht Teil des Problems, sondern Teil der Lösung. Die Crux ist: Technisch sind wir weit, unsere Ingenieure verfügen über das erforderliche Know-how. Aber zum Umsetzen gehören neben technischem Können und geeigneten Innovationen auch gesellschaftlicher Wille und passende Rahmenbedingungen. Europa will vorangehen. Dabei darf es seine Industrie nicht überfordern. Wenn unsere klimaneutrale Industrie nicht global wettbewerbsfähig wäre, würde uns niemand nacheifern und wäre dem globalen Klimaschutz nicht gedient.

Das heißt: Sie sind gegen die Verschärfung der Klimaziele für das Jahr 2030?

Jedes neue Zwischenziel, jede Änderung des Fahrplans verursachen Kosten: Ein zehntel Prozent mehr Kosten, das der Industrie jetzt aufgedrückt wird, bedeutet ein zehntel Prozent weniger Wettbewerbsfähigkeit. Das ist kontraproduktiv. Kein Staat wird die notwendigen Innovationen für eine CO2-freie Welt entwickeln. Da müssen wir den Marktmechanismen und der Innovationskraft der Unternehmen trauen. Wer glaubt, es ginge ohne die Industrie, der ist auf dem Holzweg.

Die Klage über den Standort gehört ins Standardrepertoire eines jeden Wirtschaftslobbyisten.

Natürlich vertrete ich die Interessen der deutschen Industrie und weise darauf hin, welche Bedeutung sie für Arbeitsplätze und Wohlstand in diesem Land hat. Wenn ein Standort nicht wettbewerbsfähig ist, nehmen Investitionen eine andere Richtung. Die Industrie wird nicht unter lautem Getöse mit dem Traktor vor den Reichstag fahren. Aber Unternehmer, im Mittelstand wie in Großkonzernen, entscheiden Tag für Tag, wo die nächste Produktionslinie modernisiert wird oder eine neue Fabrik entsteht. Deshalb müssen wir über unseren Standort reden, über Geschwindigkeit, Flexibilität, Strompreise und Unternehmenssteuern.

Welche Strategie haben Sie sich für Ihre Rolle vorgenommen: Geben Sie eher den Polterer oder den geschmeidigen Verführer?

Aufrechter Ratgeber und Mahner passt besser zu mir. Wenn mich etwas umtreibt, wenn es gegen Innovation und Wettbewerb geht, bin ich zur Stelle. Dabei finde ich es wichtig, zwischen sachlichem Argument und persönlichen Vorhaltungen zu trennen. Sachlicher Streit muss mitunter sein. Ringen um das bessere Argument kann sogar Spaß machen.

Herr Russwurm, Ihr Vater war Akkordarbeiter in einer fränkischen Polsterei, Ihre Mutter arbeitete in einer Siemens-Fabrik. Ist solch ein Aufstieg heute noch möglich, vom Arbeiterkind zum „Boss der Bosse“?

„Boss der Bosse“ ist nicht mein Selbstverständnis und auch nicht das des BDI. Aber ja, natürlich gibt es solche Biographien weiterhin. Gerade die Industrie ist durchlässig für talentierte, ehrgeizige junge Frauen und Männer. Ich gönne jeder und jedem ihr oder sein Erbe, aber es ist gut für eine Gesellschaft, dass man es mit individueller Leistung nach oben schaffen kann.

Was gab Ihrer Karriere den entscheidenden Schub?

Den einen Erweckungsmoment gab es nicht, dafür viele Förderer, angefangen mit dem Grundschullehrer in der vierten Klasse, der meinen Eltern gesagt hat: Der Junge muss aufs Gymnasium.

In der Vorstellung Ihrer Eltern waren Abitur, Studium und Siemens-Vorstand nicht vorgesehen?

Sie taten alles, damit ich es besser habe. Aber Aufstieg bedeutete für sie: Realschule und dann vielleicht kaufmännischer Angestellter. Gymnasium war da eigentlich nicht vorgesehen. Auch später gab es manchen Chef, der gesagt hat: Wag‘ es, Du hast das Zeug zu mehr! Heute möchte ich andere zur Übernahme von Verantwortung ermutigen. Dies und Leidenschaft für Technik und Innovation sind ein echter Antrieb für mich. Die deutsche Industrie, Deutschland hat das Zeug zu mehr: Lust auf Zukunft – gerade nach einem Jahr, dem man gerne den Rücken zudreht.

 

Dieses Interview erschien am 03.01.21 in der FAS.