© Fotolia/eyetronic

Die Krise der WTO

Die Welthandelsorganisation (WTO) ist die Hüterin des freien, regelbasierten Welthandels. Leider ist die multilaterale Organisation mit großen Herausforderungen konfrontiert. Hauptproblem ist die Uneinigkeit der 164 Mitgliedsstaaten. Angesichts des grassierenden Protektionismus, der staatlichen Interventionen und der nationalen Alleingänge muss die WTO in wichtigen Punkten vorankommen, um weltweit gleiche Wettbewerbsbedingungen zu gewährleisten.

 

Ziel der WTO ist es, weltweit Handelshemmnisse abzubauen. Erreicht werden soll das durch verbindliche, nichtdiskriminierende Regeln. Deshalb wird die Verhandlung von neuen Regeln für den Marktzugang als erste Säule der WTO bezeichnet. Abgesehen vom Abkommen über Handelserleichterungen im Jahr 2017 hatten die Mitgliedstaaten jedoch erhebliche Schwierigkeiten, einen multilateralen Konsens zu finden und die groß angelegte Doha-Verhandlungsrunde nicht formell abzuschließen. Auf der 12. Ministerkonferenz (MK12) wurde zwar ein unerwartetes multilaterales Paket geschnürt, aber dennoch besteht weiterhin Uneinigkeit über den weiteren Weg.

Der Reformstau droht die Bedeutung der Welthandelsorganisation für die Wirtschaft zu schmälern. Zwar entwickelt sich der Welthandel weiterhin dynamisch - durch technologischen Fortschritt und Digitalisierung - und zugleich stellen sich zunehmend globale Wettbewerbsfragen. Die Trilaterale Initiative hat vielversprechende Vorschläge zur Reform des Übereinkommens über Subventionen und Ausgleichsmaßnahmen vorgelegt, und die EU hat in ihrer Handelsstrategie vorgeschlagen, neue Regeln aufzustellen, die sich mit dieser Problematik ebenso befassen wie mit dem Verhalten staatseigener Unternehmen und dem Missbrauch der Sonder- und Vorzugsbehandlung. Keiner dieser Bereiche ist im Rahmen der WTO angemessen multilateral geregelt.

Krise des Rahmenwerks

Da eine Einigung unter allen WTO-Mitgliedern derzeit nicht aussichtsreich scheint, setzten die EU und andere Länder darauf, zunächst Verhandlungen mit Gruppen von ambitionierten Mitgliedern zu führen. Derzeit laufen unter dem Dach der WTO plurilaterale Verhandlungen zu E-Commerce, Investitionserleichterungen, Handel und Gender sowie kleinen und mittelständischen Unternehmen. Die deutsche Wirtschaft hofft auf einen Abschluss in den Bereichen elektronischer Handel und Investitionserleichterung bis zur ersten Hälfte des Jahres 2023. Solche plurilateralen Abkommen könnten dann im Idealfall später doch zu einer multilateralen Regelsetzung führen. Leider haben Indien und Südafrika in letzter Zeit die Aufnahme plurilateraler Abkommen in den multilateralen Rahmen blockiert und drohen, notwendige Fortschritte aufzuhalten.

Krise der Transparenz

Eine wichtige weitere Säule der WTO ist neben der Verhandlung neuer Handelsregeln die Überwachung der Einhaltung bereits bestehender WTO-Regeln. Dazu gehört auch die Sammlung von Handelsdaten, um Trends im Welthandelssystem transparent zu machen und zu analysieren. Grundlage für Überwachung und Transparenz ist aber, dass ihre Mitglieder ihre handelserleichternden und handelsbeschränkenden Maßnahmen ordnungsgemäß an die WTO melden. Dieser Notifizierungspflicht wird aber nur mangelhaft nachgekommen. Beispielsweise ist die Zahl der Mitglieder, die keine Subventionen notifizieren, in den letzten Jahren stark angewachsen. Die Dunkelziffer der unangemeldeten Subventionen wird also mutmaßlich immer größer. In vier Vereinbarungen auf der MK12 wurde auf die Notifizierung verwiesen, allerdings oft in sehr schwacher Formulierung und ohne Durchsetzungsmechanismen. Die deutsche Industrie unterstützt daher Vorschläge für effektivere Notifizierungsregeln und neue Sanktionsmöglichkeiten.

Krise der Streitschlichtung

Eine weitere zentrale Säule der WTO stellt die Streitschlichtung dar, die den Mitgliedstaaten die Möglichkeit gibt, gegen potenzielle Verletzungen des Welthandelsrechts vorzugehen und Streitfälle systematisch zu klären. Hier tritt die WTO als eine Art Gericht in Erscheinung. Jedoch ist die zweite Instanz des Streitschlichtungsmechanismus seit Dezember 2019 durch die US-Blockade der Ernennung neuer Mitglieder des Berufungsgremiums (Appellate Body) gelähmt. Eine verbindliche Klärung von laufenden und neuen Streitfällen ist derzeit nicht möglich; mehrere Reforminitiativen zur Überwindung der Blockade ließen die Vereinigten Staaten ins Leere laufen. 

Die EU und 19 weitere WTO-Mitglieder, einschließlich Brasilien, Kanada und China, haben deshalb eine pragmatische Zwischenlösung eingerichtet. Ab April 2020 ermöglicht die Mehrparteien-Interimsvereinbarung zur Beilegung von Handelsstreitigkeiten (MPIA), dass die Teilnehmer untereinander weiterhin von einem funktionierenden zweistufigen Streitbeilegungssystem profitieren können. Der Mechanismus stellt unter dem Dach der WTO für die Unterzeichnerstaaten der MPIA eine unabhängige und verbindliche Berufungsinstanz zur Verfügung, die wieder aufgelöst wird, sobald der multilaterale Berufungsmechanismus der WTO wieder funktioniert.

Es ist vielversprechend, dass die MPIA nun zwei Fälle mit strengen Fristen bearbeitet hat, aber sie muss eine Zwischenlösung bleiben. Darüber hinaus konnten sich die Mitgliedstaaten auf der MK12 zu einem „vollfunktionierenden“ Streitschlichtungsmechanismus bis 2024 verpflichten und auf Initiative der USA wurden technische Gespräche aufgenommen. Diese Verhandlungen müssen jedoch intensiviert und die Bedenken der USA im Konsens mit allen anderen Mitgliedern ausgeräumt werden.

Der BDI hat weiterhin Vertrauen in die WTO. Mit Dr. Okonjo-Iweala im Amt und einem unerwarteten multilateralen Konsens ist es nicht unwahrscheinlich, dass in Genf ein konstruktiverer Geist der Zusammenarbeit wiederhergestellt wird. Alle WTO-Mitglieder haben ein starkes gemeinsames Interesse an einem geordneten, funktionierenden Welthandelssystem. Allerdings müssen die strittigen Punkte wie die Rolle der plurilateralen Initiativen, Fragen der Wettbewerbsverzerrung sowie Transparenz und Notifizierung überwundern werden oder es müssen alternative Strukturen ins Spiel kommen.