Integration der Türkei in den europäischen Binnenmarkt. Dilek Aydin, TÜSIAD/ TISK © Dilek Aydin

EU-Türkei Beziehungen: „Wertebasierte Zusammenarbeit erfordert einen zukunftsorientierten Prozess“

„Demokratische und wirtschaftliche Reformen können nicht voneinander abgekoppelt werden“ sagt Dilek Aydin. Sie leitet seit 2017 das Brüsseler Verbindungsbüro der größten türkischen Industrie- und Arbeitgeberverbände TÜSIAD und TISK. Im Interview spricht sie über die schwierige Lage in Europas Nachbarschaft, die Bedeutung der EU-Beitrittsperspektive für ihr Land und ihre Erwartungen an die nächste Bundesregierung und die EU.

Die Türkei grenzt an zahlreiche Länder, in denen es in den letzten Jahren zu militärischen Konflikten gekommen ist. Was bedeutet die schwierige politische Lage in der Region für die Türkei und die türkischen Unternehmen?

Globale und regionale Machtverschiebungen schaffen einen fruchtbaren Boden für Instabilität und Konflikte in Europas Nachbarschaft. Jüngste geopolitische und geoökonomische Entwicklungen zeigen uns: Die Ideale und Annahmen des späten letzten Jahrhunderts können nicht mehr als selbstverständlich angesehen werden. Die liberale und regelbasierte Ordnung wird infrage gestellt – selbst in Regionen, in denen wir dies am wenigsten erwartet hätten.

Ausgrenzende und fehlgeleitete Politiken können für unsere Gesellschaften verheerend sein. Die Botschaft der türkischen Wirtschaft ist klar: Eine starke Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, unabhängige und robuste Institutionen sind von zentraler Bedeutung für politische, wirtschaftliche und soziale Stabilität. Dabei geht es nicht nur um Stabilität, sondern auch um nachhaltigen Frieden, Lebensqualität, sozialen Zusammenhalt, Innovation, Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit. Kurzum: Es geht um die Verwirklichung eines nachhaltigen Entwicklungsmodells in all seinen Dimensionen.

Für die türkische Wirtschaft stellt sich daher die grundlegende Frage, wie eine Agenda für das 21. Jahrhundert entwickelt werden kann, um bei allen UN-Zielen für nachhaltige Entwicklung Fortschritte zu erreichen. Die türkische Wirtschaft hat hierfür kürzlich einen umfassenden Fahrplan vorgelegt, der sich auf drei Grundpfeiler konzentriert: Menschen, Wissenschaft und Institutionen.   

Wie bewertet TÜSIAD die politische und wirtschaftliche Entwicklung in der Türkei?

Die Folgen der COVID-19-Pandemie sowie der notwendige grüne und digitale Wandel erfordern eine umfassenden Reformagenda. Dank der Maßnahmen, die seit Beginn der Krise ergriffen wurden, hat sich die türkische Wirtschaft schnell erholt.

Dennoch bleiben strukturelle Probleme bestehen. Für ein nachhaltiges Wachstum aus der Krise müssen kurzfristige Maßnahmen wie eine straffe Geld- und Haushaltspolitik oder glaubwürdige Inflationsbekämpfung mittelfristig durch eine ehrgeizige Strukturreformagenda ergänzt werden. Sie sollte sich auf die Bereiche Arbeitsmarkt, Steuern, Kapitalmärkte, grüne und digitale Transformation, Energie, Landwirtschaft und Bildung konzentrieren.

Die Stärkung der Rechtsstaatlichkeit sowie der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Justiz sind ebenfalls entscheidend für eine wettbewerbsfähige Wirtschaft. Die Erfahrungen der Türkei der letzten Jahrzehnte zeigen deutlich: Demokratische und wirtschaftliche Reformen können nicht voneinander abgekoppelt werden. 

Welche Erwartungen haben Sie an die nächste deutsche Bundesregierung in Bezug auf die deutsch-türkischen Beziehungen?

Die Wahlen in Deutschland wurden in der Türkei aufmerksam verfolgt. Dies ist Folge der langjährigen Beziehungen zwischen den beiden Ländern. Sie basieren auf einer umfassenden Wirtschaftspartnerschaft, vielen deutschen Staatsbürgern mit türkischem Hintergrund und weit zurückreichenden politischen Verbindungen. Deutsche Unternehmen in der Türkei sind meist Mitglieder von TÜSIAD. Sie sind die wichtigsten Handels-, Investitions-, Tourismus- und Technologiepartner der Türkei, die trotz des Auf und Ab der Weltwirtschaft und der politischen Verhältnisse gute Geschäfte machen.

Deutschland und die Türkei sollten eine konkrete Agenda für die Vertiefung ihrer Beziehungen entwickeln, die Antworten auf die Herausforderungen unserer Zeit gibt. Die Prioritäten der türkischen Wirtschaft sind eine engere Zusammenarbeit in den Bereichen grüne und digitale Transformation, Forschung und Innovation sowie die Stärkung der Wirtschaftsbeziehungen.

Was sind die Prioritäten von TÜSIAD in den Beziehungen zwischen der EU und der Türkei?

Die EU-Beitrittsperspektive der Türkei war in den 90er und 2000er Jahren ein kluger Rahmen für die EU-Türkei Beziehungen. Auch heute erfordert eine wertebasierte Zusammenarbeit einen zukunftsorientierten Prozess mit starkem Engagement, konkreten Zielen und im Geiste der europäischen Integration.

Wir haben vier Vorschläge für die Weiterentwicklung der EU-Türkei Beziehungen:

  1. Reaktivierung einer konstruktiven Integrationspartnerschaft, auch in den Bereichen Migration und Handel. Dabei sollten wir auf transaktionelle Kooperationsmodelle verzichten.
  2. Beibehaltung der Rechtsgrundlage unserer Beziehungen, d.h. einer EU-Beitrittsperspektive für die Türkei.
  3. Vorrangige Aufnahme von Verhandlungen über die Modernisierung der Zollunion zwischen der EU und der Türkei im Einklang mit der Agenda für nachhaltige Entwicklung.
  4. Einbeziehung des Europäischen Green Deal in die Verhandlungen zur Modernisierung der Zollunion.

Zu einem ganz anderen Thema: Lobbyarbeit in Brüssel. Als BDI-Vertreter in Brüssel wissen wir, wie man Lobbyarbeit für die Interessen eines Wirtschaftssektors innerhalb der EU betreibt. Was sind die Herausforderungen und vielleicht auch die Chancen, die Interessen einer Wirtschaft außerhalb der EU gegenüber den EU-Institutionen zu vertreten?

An einer starken Interessenvertretung der türkischen Wirtschaft gegenüber den EU-Organen geht heute kein Weg vorbei. Die Regeln, die in Brüssel gesetzt werden, sind für die Türkei sehr wichtig. Dies hängt mit dem sog. "Brüssel- Effekt" zusammen: Der Einfluss europäischer Regelungen und Standards reicht weit über die EU-Grenzen hinaus. Zudem ist die Integration der Türkei in den europäischen Binnenmarkt weit fortgeschritten.

Es ist eine große Herausforderungen Interessen in Brüssel zu vertreten, ohne aus einem EU-Mitgliedstaat zu kommen. Denn wir vertreten nicht unmittelbar die Interessen von EU-Wählern und- Steuerzahlern. Daher arbeiten wir besonders hart daran, eine verlässliche Informations- und Analysequelle für die EU-Institutionen zu sein. Und wir kooperieren sehr eng mit dem europäischen Wirtschaftsverband BusinessEurope, und seinen Mitgliedern, den nationalen Industrie- und Arbeitgeberverbänden. Uns verbinden gemeinsame Interessen und Visionen für ein global wettbewerbsfähiges Europa.