Brüsseler EU-Viertel © Patrick C. Freyer

EU-Wiederaufbauplan: Kritische Verhandlungsphase hat begonnen

Die COVID-19-Pandemie hat tiefe Spuren in der wirtschaftlichen Entwicklung Europas hinterlassen. Die ohnehin schwierigen Diskussionen über den EU-Haushalt finden seit Ausbruch der Krise unter völlig neuen Voraussetzungen statt. Zu Beginn der entscheidenden Verhandlungsphase setzt sich der BDI für ein ehrgeiziges Wiederaufbauprogramm und Zukunftsinvestitionen ein, die die Wirtschaft umfassend stärken sollten.

Die Verhandlungen des Mehrjährigen EU-Finanzrahmens (MFR) – inklusive des Wiederaufbauinstruments „Next Generation EU“ – stehen seit Wochen im Mittelpunkt der EU-Agenda. Die beginnende Rezession in ganz Europa hat den Handlungsdruck deutlich erhöht. Während Deutschland im ersten Quartal einen Rückgang des Bruttoinlandsprodukt (BIP) im Vergleich zum Vorquartal von -2,2 Prozent zu verkraften hatte, fiel dieser in den von der Pandemie besonders gebeutelten EU-Mitgliedstaaten mehr als doppelt so hoch aus: Italien -4,7, Spanien -5,2 und Frankreich -5,8 Prozent. Die Erwartungen der EU-Kommission für das Gesamtjahr sind entsprechend düster. Das BIP dürfte in einigen Mitgliedstaaten sogar um bis zu zehn Prozent zurückgehen. Die Staatsschulden werden wahrscheinlich stark ansteigen und die wirtschaftliche Kluft zwischen den Ländern bedenklich wachsen. Nicht jeder Mitgliedstaat in Süd- und Mittelosteuropa hat finanzielle Möglichkeiten wie die Bundesrepublik, um die Krise für Unternehmen und Beschäftigte abzufedern.

EU-Haushaltsverhandlungen im Zeichen der Corona-Krise

Infolge der aktuellen Wirtschaftskrise machen die Verhandlungen zum EU-Haushalt spürbar Fortschritte. Das letzte Treffen der Staats- und Regierungschefs im Februar war noch ein Misserfolg auf ganzer Linie. Es war den Anwesenden nicht einmal gelungen, Wege aufzuzeigen, wie eine Einigung in den nächsten Monaten erzielt werden konnte. Weder die sogenannten „Sparsamen Vier“ (Dänemark, Niederlande, Österreich und Schweden) noch die sogenannte „Kohäsionsgruppe“ überwiegend süd- und mittelosteuropäischer Mitgliedstaaten zeigten Kompromissbereitschaft. Seither hat die Krise die Verhandlungsdynamik signifikant befeuert: Jenseits bekannter Konfliktlinien mussten alle nationalen Regierungen „out of the box“ denken – vor allem hinsichtlich der Rolle öffentlicher Gelder zum wirtschaftlichen Wiederaufbau Europas.

Ausgangspunkt der Diskussionsfortschritte waren der deutsch-französische Vorschlag für ein Wiederaufbauprogramm und der neue Kommissionsvorschlag für den MFR in Höhe von 1,1 Billionen Euro sowie ein 750 Milliarden Euro schweres Wiederaufbauinstrument. Mit der Tagung des Europäischen Rates (ER) vom 19. Juni sind die EU-Haushaltsberatungen nun in die entscheidende Phase eingetreten. Inzwischen besteht Konsens in zentralen Fragen: Die Mitgliedstaaten sind sich unter anderem darüber einig, dass die Krise eine außergewöhnliche Antwort erfordert und die Finanzierung hauptsächlich durch Anleihen erfolgen soll, die die EU-Kommission am Kapitalmarkt platziert. Allerdings besteht weiterhin Diskussionsbedarf zur Laufzeit des Wiederaufbauinstruments oder zur Datenbasis, auf deren Grundlage die Gelder in die Mitgliedstaaten fließen sollen.

In den nächsten Wochen wird ein Kompromissvorschlag von ER-Präsident Charles Michel erwartet. Mitte Juli 2020 wollen die Staats- und Regierungschefs wieder zu einer Sitzung zusammenkommen. Videokonferenzen hingegen erschweren echte Haushaltsverhandlungen, so die Erkenntnis nach fünf Videokonferenzen in den letzten Monaten. Bis Ende Juli soll eine politische Einigung zwischen den EU-Mitgliedstaaten vorliegen. Im Anschluss müssen noch die Verhandlungen mit dem Europäischen Parlament abgeschlossen werden.

BDI für ehrgeiziges wirtschaftliches Wiederaufbauprogramm   

Die Vorschläge der EU-Kommission zum Wiederaufbau Europas stellen eine angemessene Antwort auf die schwerste Wirtschaftskrise seit dem Zweiten Weltkrieg dar. Sowohl von dem vorgeschlagenen großen Volumen für das Wiederaufbauinstrument von 750 Milliarden Euro als auch von dem Verhältnis zwischen Zuschüssen (500 Milliarden Euro) und Krediten (250 Milliarden Euro) sollte der Gesetzgeber keinesfalls mehr abrücken. Entscheidend ist, dass die Verhandlungen unter deutscher Ratspräsidentschaft zügig abgeschlossen werden.

Bei der Unterstützung von Forschung und Innovation muss die EU dringend nachbessern. Das Forschungsprogramm Horizont Europa soll mit zusätzlichen 13,5 Milliarden Euro ausgestattet werden, so die Kommissionspläne. Damit stünden insgesamt aus MFR und Wiederaufbauinstrument 94,4 Milliarden Euro zur Verfügung – mindestens 120 Milliarden Euro sind jedoch notwendig, um die politischen Ziele beim Klima- und Umweltschutz sowie der Digitalisierung zu erreichen.

Zudem sollte eine kalkulierbare und zeitnahe Verwendung von Infrastrukturmitteln für Energie, Verkehr und Digitales gewährleistet werden. Planungs- und Genehmigungsverfahren müssen dringend beschleunigt und entbürokratisiert werden. Nur so lässt sich das volle Potential der bereitgestellten Mittel ausschöpfen. Über die vorgeschlagenen 150 Milliarden Euro an Krediten für strategische Industrien hinaus müssen weitere dringend benötigte Mittel zur umfassenden Stärkung der europäischen Wirtschaft bereitstehen.

Auf neue Steuern und Abgaben auf EU-Ebene zur Finanzierung des Wiederaufbaus wie Digital- und Plastiksteuern oder neue einseitige CO2-Abgaben sollte die EU hingegen verzichten. Sie wären „Gift“ für die wirtschaftliche Erholung Europas.