Hans-Toni Junius, Vorsitzender BDI/BDA-Mittelstandsausschuss © Christian Kruppa

Etwas ratlos vor der politischen Praxis in Europa

Als Familienunternehmer in sechster Generation und als Vorsitzender des BDI/BDA-Mittelstandsausschusses ist Hans-Toni Junius ein überzeugter Europäer. Ein Jahr vor der Europawahl beschreibt er, was er von Brüssel wahrnimmt und von dort erwartet. Gleichzeitig fordert er Mittelständler dazu auf, die Vorteile der EU auch in den Betrieben klar zu benennen und sich beherzt für Europa zu engagieren.

Der BDI/BDA-Mittelstandsausschuss tagte kürzlich in Brüssel. Warum?

Im Sommer 2023 erleben wir unsichere, politisch und wirtschaftlich schwierige Zeiten. In Deutschland lahmt die Konjunktur, stocken die Investitionen, fehlen die Perspektiven. Das Vertrauen schwindet angesichts sinkender Aufträge, steigender Zinsen, hoher Inflation, außenwirtschaftlichen Schwierigkeiten und immer neuer Belastungen.

Statt notwendiger Entlastung gibt es mehr und immer neue Auflagen. Ich denke an Energie und Umwelt, Unternehmensführung oder Außenhandel. Das erleben wir Mittelständler in Deutschland. Zur Wahrheit gehört: davon stammt einiges aus Europa.

Wie also bewerten Sie die EU in mittelständischer Perspektive?

Im Vorstand des BDI/BDA-Mittelstandsauschuss haben wir uns Gedanken gemacht, was aus Europa wie bei uns ankommt. Das ging von „A“ wie Außenwirtschaft bis „Z“ wie Zulassung von Anlagen entlang der IED-Richtlinie. Es blieb immer wieder offen, ob wir das positiv oder negativ bewerten.

Per Blitzlicht in den industriellen Mittelstand hat der BDI im Mai in knapp 400 Rückläufen herausgefunden: nur 51 Prozent der Mittelständler sehen Europa als Teil der Lösung und heftige 26 Prozent sehen Europa als Teil des Problems, wenn es um die eigene Wettbewerbsfähigkeit geht. Das ist ein Alarmzeichen!

Was war Ihre Erwartung an das Treffen mit EU-Entscheidern?

In guten Zeiten können wir Unternehmer manches schultern und ertragen. Aber die Zeiten sind aktuell nicht gut und bleiben extrem unsicher. Wir wissen nicht, was auf uns nach Corona und Krieg in Europa sowie durch Transformation und allgemeines „de-risking“ noch zukommt. Warum kommt von der EU in dieser Situation kein positives Signal für unsere Unternehmen?

So wie wir Unternehmer vorsichtig und pragmatisch denken und handeln müssen, sollte es auch die Politik tun. Das gilt für Berlin genauso wie für Brüssel. Immer muss es darum gehen, die vielen Vorgänge auch mittelstandspolitisch sauber einzuordnen und hilfreich auszugestalten. Manchmal allerdings erstaunt mich, wie Brüssel wirkt.

Brüssel erstaunt Sie? Na dann konkret: Wie nehmen Sie die EU-Kommission wahr?

Der EU-Kommission scheint ein mittelstandspolitischer Kompass zu fehlen. Die Rolle des KMU-Beauftragten ist seit Jahren verwaist, die vielen Generaldirektionen überbieten sich im Regulierungswettbewerb. Es wirkt, als weiß die linke Hand manchmal nicht, was die rechte tut. Im Ergebnis entstehen immer mehr Vorgaben, die uns am Ende die „license to operate“ kosten können. Ich denke an das teilweise schwierige Zusammenwirken von „Green Deal“ und „Taxonomie“, an technologische Vorgaben unter dem Stichwort „BREF“ oder an Stoffverbote etwa im Kontext REACH oder geplant für „PFAS“.

Und wie blicken Sie auf das EU-Parlament?

Das ist inzwischen so bunt besetzt und das Thema wettbewerbsfähige Wirtschaft so wenig im Fokus, dass dort die Vorschläge der Kommission oft sogar weiter verschärft werden. Letztes Beispiel ist das europäische Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz. Schon das deutsche Gesetz ist für uns schwierig und eine neue Belastung. Aber für die europäischen Vorgaben hat das Parlament in Brüssel an Berichtspflichten und Haftung noch draufgesattelt – und wir werden das in der Praxis umsetzen und mit zusätzlichen Belastungen klarkommen müssen.

Es bleibt der Ministerrat. Wie steht es hier?

Auch da gibt’s wenig Hoffnung, wenn ich den deutschen EU-Botschafter Clauß richtig verstehe. Der hat Berlin in einem Brandbrief dazu aufgefordert, frühzeitig Positionen innerhalb der Bundesregierung abzustimmen, um damit in Brüssel rechtzeitig für deutsche Interessen eintreten zu können – auch für uns Mittelständler. Bislang ist das offenbar nicht der Fall, die Enthaltung im Rat gilt inzwischen als „German vote“. Aber wie wir alle wissen: wer schweigt, der stimmt zu. So kommen wir da auf keinen grünen Zweig.

Sind Sie also ein Europa-Skeptiker?

Als Familienunternehmer und engagierter Bürger bin und bleibe ich vor allem ein glühender Verfechter von europäischer Einheit, von funktionierendem Binnenmarkt und von internationaler Wettbewerbsfähigkeit. Gleichzeitig stimmt, dass ich manchmal schon etwas ratlos vor der aktuellen politischen Praxis in Europa stehe.

Grundsätzlich sind Sie ein EU-Verfechter, konkret aber etwas skeptisch. Wenn Sie einen Wunsch zur EU freihätten, was wäre das?

Für einen wettbewerbsfähigen Mittelstand in Deutschland wünsche ich mir ein zukunftsorientiertes und zukunftsfähiges Europa. Nur ein voll funktionsfähiger EU-Binnenmarkt bietet exportorientierten Unternehmen offene Grenzen. Barrieren für Produkte, Dienstleistungen, Kapital und Beschäftigte müssen verlässlich fallen. Es gilt, freien Transfer über alle Grenzen in Europa sicher, einheitlich und zuverlässig zu organisieren.

Auch operativ – also bei bürokratischer Entlastung und gezielter Förderung – gehören Mittelstand und Familienunternehmen fest auf die politische Agenda der EU. Die europäische KMU-Definition braucht einen frischen Blick, Mid-Cap-Unternehmen sollten mit berücksichtigt werden. Brüssel muss wenige EU-Strategien gezielt formulieren, kohärent aufeinander abstimmen und mit Mittelstandsfokus umsetzen.

Gemeinsam mit vielen Mittelständlern und Familienunternehmern wünsche ich mir fairen Wettbewerb in einem verlässlichen Rahmen für ideenreiches und aktives Unternehmertum. Wir wollen funktionierende Märkte und nur die wirklich notwendige Bürokratie. Übrigens ist bei Bürokratie nicht nur Brüssel, sondern auch Berlin gefordert: die Bundesregierung sollte EU-Recht einheitlich umsetzen – ohne nationale Übererfüllung per „Gold-Plating“. Nur so finden Unternehmen einen einheitlichen Rechtsrahmen im Binnenmarkt.

Gibt’s weitere Wünsche mit Blick auf die EU?

Die Liste ist lang. Eine Sache will ich hier hervorheben: für unternehmerische Erfolge braucht es eine faire und offene Außenwirtschaft. Viele von uns Mittelständlern sind durch Arbeitsteilung, Wissensaustausch, Investitionen und Handel weltweit verflochten. Manche direkt, manche indirekt als Zulieferer in Wertschöpfungsverbünden. In Deutschland hängt jeder vierte Arbeitsplatz vom Export ab, in der Industrie sogar mehr als jeder zweite. Schon das zeigt, wie wichtig gezielte Außenwirtschaftspolitik ist.

Die Erfolgsbedingungen bleiben Multilateralismus, Offenheit und fairer Wettbewerb. Konkret brauchen wir weitere Handelsverträge mit möglichst vielen Partnern. Zehn bilaterale Abkommen sind aktuell wohl in Arbeit etwa mit Kanada, Kenia und Indien sowie mit Staaten in Mittelamerika und Asien.

Zugleich fordert die USA mit dem „Inflation Reduction Act“ die europäische Politik heraus. In den USA wird kreatives Unternehmertum unterstützt, in der EU durch Regulatorik eingeschränkt. Auch China ist für uns als Markt weiter wichtig und die Entwicklungen dort brauchen besondere Aufmerksamkeit.

Im Juni 2024 steht die nächste EU-Wahl an. Was ist Ihre Perspektive?

Bei aller Kritik in manchen Details: Wie wichtig Europa für uns Mittelständler und für jeden von uns persönlich ist, steht außer Zweifel.

Was mich umtreibt ist, wie wir den Wert und die Bedeutung von Europa für uns erhalten können. Ich denke da wie Gustav Heinemann. Er ist so wie ich ein Südwestfale und als ein Gedanke von ihm ist überliefert: „Wer nichts verändern will, wird auch das verlieren, was er bewahren möchte“. Das gilt für unsere Unternehmen, das gilt für den Standort Deutschland und das gilt für Europa.

Mit Blick auf die Europawahl 2024 sehe ich die Politik in der Pflicht, nachvollziehbare Vorschläge für zukunftsorientierte Reformen zu machen. Europa muss auf die Höhe einer neuen Zeit kommen und spürbare Hilfe im Alltag sein – nicht zuletzt in Unternehmen.

Gleichzeitig sehe ich auch uns Mittelständler und Familienunternehmer in der Pflicht: wir müssen die Entwicklungen in der EU konstruktiv begleiten und uns in Brüssel, Berlin und in unseren Betrieben zu den vielen Vorteilen der EU klar bekennen, uns für Europa beherzt engagieren und in unseren Belegschaften für eine hohe Wahlbeteiligung werben.