© Unsplash / Chris Davis

Neue Sammelklagen im Zivilrecht ab Mitte 2023

Die EU-Verbandsklagenrichtlinie verpflichtet die Mitgliedstaaten zur Einführung zivilrechtlicher Sammelklagen bis Ende des Jahres. Ein erster Entwurf des federführenden BMJ enthält unter Berücksichtigung von Verbraucher-, Unternehmens- und Justizinteressen viele positive Aspekte, wird aber vom BMUV blockiert. Das BMUV will, dass Ansprüche auch noch nach Beginn der Gerichtsverhandlung zu einer Sammelklage angemeldet werden können.

Die EU hatte im Dezember 2020 mit der „Richtlinie über Verbandsklagen zum Schutz der Kollektivinteressen der Verbraucher“ ihre Mitgliedstaaten zu Einführung von zivilrechtlichen Sammelklagen verpflichtet. 

Diese Verbandsklage soll anerkannten Verbrauschutzorganisationen ermöglichen, bei Verstößen von Unternehmen, die eine große Zahl von Verbrauchern schädigen, die Ansprüche von (allen) betroffenen Verbrauchern stellvertretend in einer Klage geltend zu machen. Dies gilt für Verstöße gegen verbraucherschützende Vorschriften aus zahlreichen Gebieten, u. a. des Wettbewerbsrechts, des Datenschutzes, der Umwelt, Energie, Telekommunikation oder Gesundheit. Auch Ansprüche von Fluggästen oder Bahnkunden aufgrund von Annullierung oder großer Verspätung sind erfasst. Bei Erfolg der Verbandsklage sollen die Verbraucher ihre Leistungen direkt vom Unternehmen erhalten, ohne ein weiteres, zivilrechtlich und -prozessual auf Schadenersatz ausgerichtetes Gerichtsverfahren anstrengen zu müssen. 

Zur Umsetzung der Richtlinie hat das BMJ 

einen Gesetzesentwurf veröffentlicht, welcher derzeit mit den anderen Ministerien ressortabgestimmt wird. Dieser Entwurf ist bereits seit Mitte September 2022 bekannt: Er greift viele positive Aspekte aus einem Umsetzungsvorschlag auf, den der BDI und 13 andere Wirtschaftsverbände im Sommer 2021 bei Professor Bruns in Auftrag gegeben hatten.

Positive Aspekte des BMJ-Entwurf

Die auf Befriedigung von Verbraucheransprüchen gerichtete Verbandsklage – im Entwurf als „Abhilfeklage“ bezeichnet – tritt den bestehenden Möglichkeiten von Unterlassungs- und Musterfeststellungsklagen hinzu. Verbandsklageverfahren sollen zweistufig durchgeführt werden. Zunächst prüft das Gericht, ob überhaupt ein Verstoß vorliegt und im Falle des Bestehens verurteilt es das Unternehmen zur Zahlung eines Gesamtbetrages. Anschließend erfolgt die Verteilung in einem Umsetzungsverfahren durch einen gerichtlich bestellten Sachwalter. Im Umsetzungsverfahren können Unternehmen dann auch der Anerkennung von einzelnen Ansprüchen von Verbrauchern widersprechen. Verbleibt nach dem Umsetzungsverfahren ein Restbetrag, so wird diese an das Unternehmen zurückgezahlt. Ein „Strafschadensersatz“ wird so vermieden.

Hinsichtlich der Klagebefugnis für Verbandsklagen orientieren sich die Anforderungen an denen der Musterfeststellungsklage, so dass im Verhältnis der beiden Kollektivklagemöglichkeiten keine Wertungswidersprüche entstehen. An Verbandsklagen von klagebefugten Verbraucherschutzverbänden können sich Verbraucher verbindlich bis zum Ablauf des Tages vor dem ersten Termin der mündlichen Verhandlung anmelden (frühes „opt-in“). Im Übrigen gelten die allgemeinen zivilprozessualen Grundsätze, insbesondere binden Urteile auch angemeldete Verbraucher und die Verfahrenskosten sind von der unterliegenden Partei zu tragen – Verbraucher sind keine Partei der Verbandsklage. Auch soll es keine neuen Möglichkeiten zur Offenlegung von Beweismitteln geben. 

Ebenfalls zu begrüßen ist, dass durch die Verbandsklage nur die Verjährung für angemeldete Ansprüche gehemmt werden soll und Sperrwirkung gegenüber Parallelklagen von angemeldeten Verbrauchern sowie anderen Verbandsklagen mit demselben Streitgegenstand entfalten soll. 

Des Weiteren sind Anforderungen an die Prozessfinanzierung zum Schutz vor Missbrauch vorgesehen und das Gericht hat bei Verdacht einer missbräuchlichen Prozessfinanzierung Überprüfungsmöglichkeiten.

Kritische Punkte im BMJ-Entwurf

Die vorgeschlagene Begrenzung des Streitwertes auf 500.000 Euro erscheint nicht sachgerecht, weil EU-Verbandsklagen auch in Fällen mit Streitwerten in Höhe von mehreren Millionen Euro Anwendung finden sollen. Eine solche Begrenzung würde faktisch die beklagten Unternehmen benachteiligen, da ihre Rechtsanwaltskosten bei erfolgreicher Klageverteidigung regelmäßig über RVG-Kosten liegen werden, gleichwohl nur in sehr begrenztem Umfang ersatzfähig wären.

Soweit der klagende Verbraucherverband vom Unternehmen eine über den im Urteil bestimmten Betrag hinausgehende Zahlung verlangen können soll, wenn der Urteilsbetrag im Umsetzungsverfahren nicht zur Deckung allerangemeldeten Verbraucheransprüche genügt, wird dies im Konflikt zum allgemeinen Zweck eines Urteils, Rechtsfrieden zu schaffen, stehen: Unternehmen hätten nach Zahlung des im Urteil tenorierten Betrages keine Rechtssicherheit, dass damit die angemeldeten Ansprüche befriedigt sind, wenn nach Urteilsverkündung und Rechtskraft eine weitere Zahlung verlangt werden kann.

Umsetzung in Deutschland voraussichtlich erst 2023

Die Veröffentlichung des BMJ-Entwurfs als Regierungsentwurf wird derzeit in der Ressortabstimmung vom Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz (BMUV) blockiert, da letzteres vor allem die späte opt-in-Möglichkeit für Verbraucher anstrebt. Ein Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens bis zu Ende Dezember 2022 erscheint insofern nicht mehr möglich. Allerdings droht aufgrund der Anwendungsfrist der Richtlinie, die bis zu Ende Juni 2023 läuft, auch keine unmittelbare Anwendung der Richtlinie.

„Forum Wirtschaft und Verbraucher 2022“ – Impulse und Diskussionen 

Die Verbandsklage war auch Thema beim Forum Wirtschaft und Verbraucher Mitte Oktober in Berlin, den BDI, Handelsverband Deutschland (HDE), Markenverband und Zentralverband der deutschen Werbewirtschaft (ZAW) regelmäßig gemeinsam veranstalten. 

Nach der Keynote von Staatssekretärin Rohleder (BMUV) war erster Themenschwerpunkt der Richtlinienvorschlag der Europäischen Kommission zur Stärkung der Verbraucher für den ökologischen Wandel, der Teil des europäischen „Green Deal“ ist. Zweiter Schwerpunkt war dann die Erörterung der Umsetzung europarechtlicher Vorgaben für die Verbandsklage. Die Position des BDI konnte auf einem Panel mit Vertretern der Wissenschaft (Prof. Bruns, links), der EU-Kommission (Nils Behrndt, z. v. links) und des BMJ (Barbara Jansen, mitte) verdeutlicht werden.