© Fotolia

Nach EuGH-Urteil im Rechtsfall Malamud: Nachjustierung des EU-Normungsrechtsrahmens nötig

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat im März 2024 entschieden, dass ein überwiegendes öffentliches Interesse am freien Zugang zu vier harmonisierten europäischen Normen (hEN) besteht. Was zunächst positiv erscheinen mag, lässt jedoch noch viele Fragen offen und beunruhigt Vertreter der Wirtschaft und Normungsorganisationen.

Die Dokumentenzugangsverordnung (1049/2001) legt das Recht auf freien Zugang der Öffentlichkeit zu Dokumenten der EU-Institutionen für EU-Bürgerinnen und -Bürger fest. Unter Bezug auf diese Verordnung hatte der US-amerikanische Internetaktivist Carl Malamud über seine Nichtregierungsorganisationen (NGO) Public.Resource.Org und Right to Know bei der EU-Kommission den freien Zugang zu vier hEN unter anderem zur Spielzeugsicherheit, beantragt. Die EU-Kommission lehnte den Antrag mit Verweis auf den Urheberrechtsschutz ab. Daraufhin klagten die NGOs vor dem Gericht der Europäischen Union (EuG), welcher der EU-Kommission Recht gab. Im Berufungsverfahren urteilte der EuGH in letzter Instanz jedoch für den Kläger, bestätigte die Auffassung, dass hEN Teil des Unionsrechts seien und stellte ein überwiegendes öffentliches Interesse am Zugang zu den vier genannten hEN fest (Rechtssache C-588/21 P).

Auswirkungen des Urteils: Finanzierung der Normungsorganisationen gefährdet?

Das Urteil lässt einen Interpretationsspielraum offen. Es ist kein Grundsatzurteil und bezieht sich zunächst nur auf die vier angefragten hEN, jedoch könnte die Rechtsprechung die Begründung des überwiegenden öffentlichen Interesses künftig auf alle hEN anwenden. Eine generelle Aussage zum Urheberrechtsschutz von hEN hat der EuGH nicht getätigt. Allerdings bleibt die Frage offen, wie stark ein Urheberrechtsschutz noch ist, wenn ihn ein überwiegendes öffentliches Interesse aushebeln kann.

Hieraus könnte ein Problem für die Finanzierung der Normungsorganisationen erwachsen, denn diese finanzieren die Entwicklung von Normen mit deren Verkauf an die Anwender. Letztlich müsste entweder der Urheberrechtsschutz gesetzlich gestärkt oder ein alternatives Finanzierungsmodell für die Normungsarbeit konzipiert werden.

Ungeklärt bleibt auch die Frage der Anbindung von europäischer an die internationale Normung. Ein Großteil der hEN basiert auf den internationalen Normen von ISO, IEC oder ETSI. Diesen vorgefertigten internationalen Kern übernehmen und ergänzen die europäischen Normungsorganisationen CEN und CENELEC mit Vorgaben aus EU-Gesetzen. Das Resultat spiegelt sich in den jeweiligen hEN. Mit Blick auf die mögliche Anwendbarkeit des Urteils auf alle hEN könnte dies die Zusammenarbeit der europäischen und internationalen Ebene gefährden. Sollten die internationalen Normungsorganisationen den Urheberrechtsschutz ihrer Normen auf EU-Ebene als nicht mehr voll gewährleistet ansehen, könnten sie die Zusammenarbeit mit der EU einschränken oder gar einstellen. Eine Abkopplung der europäischen von den internationalen Normen hätte tiefgreifende Auswirkungen auf die europäische Wirtschaft, denn die Übernahme internationaler Normen stellt die Anbindung des europäischen Binnenmarktes an die globalen Märkte sicher und ist daher unverzichtbar.

Derzeit wartet die Normungsgemeinschaft auf die Schlussfolgerungen der EU-Kommission aus dem Urteil. Diese hatte ab dem Tag der Urteilsverkündung 30 Tage Zeit, das Urteil umzusetzen. Inzwischen ist die Frist verstrichen.

Nachjustierung des Rechtsrahmens erforderlich

Wenn die europäische Wirtschaft weiterhin von einem international wettbewerbsfähigen Binnenmarkt profitieren möchte, ist es essenziell, den EU-Normungsrechtsrahmen zu überarbeiten und zu stärken. Insbesondere ist die Zusammenarbeit zwischen EU-Kommission und Normungsorganisationen gemäß dem New Legislative Framework zu erhalten. Bei dieser Aufgabenteilung erlässt der Gesetzgeber verbindliche Schutzziele und grundlegende Anforderungen an Produkte. Die europäischen Normungsorganisationen erarbeiten über hEN technische Vorgaben, die freiwillig in der Anwendung sind und die Vermutungswirkung auslösen. Dieser dynamische Ansatz bietet größte Flexibilität bei der Umsetzung rechtlicher Anforderungen und ermöglicht eine praxisnahe, dynamische und damit innovationsfreundliche Regulierung.