Europa braucht sich nicht zu verstecken. Ein neues Selbstbewusstsein für die Stärke der europäischen Gemeinschaft und ihrer zugrundeliegenden Werte und Interessen ist gefragt © Pexels/Dominique Roellinger

Der europäische Weg – Europas Rolle im geopolitischen Wettbewerb

Deutschland profitierte wie kaum ein anderes Land von der europäischen Friedensdividende nach dem Zweiten Weltkrieg. Dank verlässlicher Partnerschaften konnten sich die Deutschen ganz auf ihre industrielle Stärke konzentrieren, ohne außenpolitisch Verantwortung zu übernehmen. Doch diese Zeit ist vorbei. Statt des messianischen Glaubens an die Wandel-durch-Handel-Diplomatie, braucht es ein deutsches Selbstbewusstsein für die Stärke der europäischen Gemeinschaft und ihrer zugrundeliegenden Werte und Interessen.

Kaum ein anderes Land hat von der europäischen Friedensdividende nach dem Zweiten Weltkrieg so profitiert wie Deutschland. Verlässliche Partnerschaften mit seinen europäischen Nachbarn und liberalen Partnern jenseits des Atlantiks ermöglichten es West-Deutschland – und nach 1989 der wiedervereinigten Republik – sich auf seine industrielle Stärke zu konzentrieren. Außenpolitisch wurde von den Deutschen kaum mehr erwartet, als sich in das von den USA geführte liberale Weltgefüge einzugliedern. Während Deutschland derart flankiert zum Verfechter ordnungspolitischer Reinheit wurde, um seine soziale Marktwirtschaft auf Grundlage freien Wettbewerbs zu gestalten, überließ man es anderen, den Liberalismus international zu vertreten und zu verteidigen. Besser noch: Niemand erwartete von Deutschland einen substanziellen Beitrag, da das Land zunächst noch unter Bewährungsprobe stand. So konnten sich die Deutschen auf das Mantra „Wandel durch Handel“ zurückziehen.

Europa muss sich im geopolitischen Wettbewerb positionieren

Die Welt hat sich gewandelt. Heute ist vielmehr gefordert, den messianischen Glauben an die Wandel-durch-Handel-Diplomatie und das damit verbundene übersteigerte Sendungsbewusstsein kritisch zu hinterfragen. Statt dieses Sendungsbewusstseins braucht es ein deutsches Selbstbewusstsein für die Stärke und die Bedeutung der europäischen Gemeinschaft und ihrer zugrundeliegenden Werte und Interessen. Daraus ergibt sich ein deutlicheres Bekenntnis zu eben diesen Werten und Interessen – auch wenn das eine Abkehr von lupenreiner Ordnungspolitik bedeuten kann. Europa muss nicht aktiv als Lehrer glänzen, sondern passiv als Beispiel strahlen. Kurz: Statt primär mit den Vorzügen des offenen Handels zu werben, sollte Europa mit den Wohlstandsgewinnen seines Handelns Nachahmer motivieren.

Mit Wohlstandsgewinnen Nachahmer motivieren statt rein normativ zu argumentieren

Menschen- und Freiheitsrechte sowie die Überzeugung von der Notwendigkeit einer nachhaltigen Umgestaltung der Wirtschaft lassen sich nicht verordnen. Sie müssen sich zunächst einmal bewähren. Die Dividende wäre, dass unser Gesellschaftsmodell aus dem weltweiten Systemwettbewerb als Gewinner hervorgeht. Dieser Ansatz bedeutet jedoch keinesfalls, dass die moralische Kraft des europäischen Modells nicht auch aktiv gegenüber illiberalen Partnern verteidigt werden muss: Diese stellen immer selbstbewusster den Wert des Individuums infrage und ihm sodas Wohlergehen nationaler Kollektive wieder gegenüber. Gerade Deutschland ist hier in der Pflicht, in Europa und darüber hinaus solchen Versuchen klare Grenzen aufzuzeigen. Trotz seiner Herausforderungen bleibt Europa ein leuchtender Beweis dafür, dass die Übertragung nationaler Souveränität an eine supranationale Gemeinschaft zu mehr Einheit, Freiheit und Wohlstand führen kann.

Gesamtgesellschaftlicher Einsatz für Europa gefragt  – auch der Wirtschaft

Um es deutlich zu sagen: Mit „Deutschland“ ist bei dieser Aufforderung zu mehr europäischem Engagement nicht nur die Politik gemeint. Es handelt sich um eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, der sich auch die deutsche Wirtschaft offensiver als in der Vergangenheit stellen muss. Aktuelle Diskursverschiebungen innerhalb der Industrie machen deutlich, dass die Erkenntnis gereift ist, kurzfristigen Gewinn nicht auf Kosten der liberalen Ordnung erwirtschaften zu können, die den Erfolg deutscher Unternehmen erst ermöglicht hat. Eigentum verpflichtet nicht nur laut Grundgesetz gegenüber dem Allgemeinwohl, sondern bedarf zur Absicherung auch eines rechtsstaatlichen Rahmens. Auch der Klimawandel, der die Existenzgrundlage der Industrie zu gefährden droht, hat längst den Blick von der nächsten Aktionärsversammlung in Richtung langfristig angelegter Erfolgsstrategien verschoben. Dies trifft ebenso auf Finanzmarkt-Akteure zu, deren Anforderungen sich auf Druck von Politik und Medien hin verändert haben. Nicht zuletzt trägt die wachsende Sensibilität der Konsumenten in Europa – mit 70 Prozent des Absatzes deutscher Güter der unumstrittene Heimatmarkt – dazu bei, dass sich Unternehmen ihrer sozialen und ökologischen Verantwortung bewusster werden. Die Globalisierung hat dafür gesorgt, dass Kunden die globalen Auswirkungen von Kaufentscheidungen entlang der gesamten Lieferkette kritisch hinterfragen. Damit nehmen sie Unternehmen in die Pflicht.

Europa braucht sich nicht zu verstecken

Für die deutsche Industrie bedeutet ein erfolgreicher Weg in die Zukunft also, sich dessen Leitplanken gewahr zu werden. Es kann eben kein rein deutscher Weg, sondern muss ein originär europäischer Weg sein. In diesem Sinne sind aktuell diskutierte Ansätze für die europäische Außenpolitik, wie „strategische Souveränität“ oder „offene strategische Autonomie“ begrüßenswert. Eine wichtige Lehre ist: Europa braucht sich nicht zu verstecken! Es hat einmalige Stärken, die es im internationalen Wettbewerb um die Ideen gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Ordnung einsetzen muss. Anstatt auf eine erzwungene Harmoniekultur, die Sicherheit und Wohlstand zum Preis der Freiheit schafft, setzt Europa auf individuelle sowie unternehmerische Freiheit – und auf einen Staat, der Freiheitsrechte sichert, statt sie für eine uneingeschränkte gesellschaftliche Kontrolle zu beschneiden. Auf Grundlage dieser Analyse müssen praktische Schlussfolgerungen gezogen werden.

Warenexport durch Regelexport stärken

Um ihren Platz zu finden, muss sich die EU zunächst ihres Alleinstellungsmerkmals bewusst werden – ihres Markenkerns, der sie von anderen Mächten unterscheidet. Dazu gehört eine realistische Inventur der eigenen Stärken und Schwächen.

Militärische Fähigkeiten als klassische „Hard Power“ einer Weltmacht gehören in Europa bisher nicht zum Markenkern. Die EU setzt außenpolitisch stattdessen auf deliberatives Ausverhandeln. Innerhalb der NATO gilt es, Strategien und Fähigkeiten zu entwickeln – und dies nicht nur, um die Vereinigten Staaten von ressourcenzehrenden Einsätzen in Nordafrika oder im Nahen Osten zu entlasten oder um ihnen den Rücken in Asien-Pazifik freizuhalten.

Ein emanzipiertes Europa, das seine Interessen im direkten Umfeld unmissverständlich kommuniziert und notfalls verteidigt, ist für den Erfolg des europäischen Wegs unabdingbar. Die Destabilisierung unserer Nachbarregionen hat unmittelbaren Einfluss auf die europäische Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. So nehmen Flüchtlingsbewegungen von Menschen, die aufgrund langwieriger Bürgerkriege ihre Heimat hinter sich lassen müssen, die Mitgliedsstaaten in eine moralische Pflicht. Eine emanzipierte und vorausschauende europäische Nachbarschaftspolitik mit erweiterten militärischen Fähigkeiten, die in erster Linie der Abschreckung, aber auch einer aktiven Krisenvor- bis Nachsorge dienen, bedeutet daher weder eine Aufgabenteilung zur Entlastung der USA noch eine Abwendung vom transatlantischen Verhältnis – und schon gar nicht eine Politik der Äquidistanz gegenüber den Vereinigten Staaten und China. Sie bedeutet auch keine Abkehr von Diplomatie als dem primären Mittel europäischer Außenpolitik. Stattdessen unterstreicht sie den Anspruch der EU, ein ernst zu nehmender Akteur zu sein.

Europäische Marktmacht bedeutet Hard Power

Anders als militärische Fähigkeiten, können Marktgröße und -macht der EU schon jetzt als zentrales Element der europäischen „Hard Power“ gelten. Der Binnenmarkt ist längst über sich hinausgewachsen. Obwohl der Anteil der EU-Bevölkerung an der Weltbevölkerung mit etwa 450 Millionen Menschen bei nur fast sechs Prozent liegt, erreichte der Anteil der EU-27 an den weltweiten Exporten im Jahr 2019 mit knapp 13 Prozent mehr als das Doppelte. Der Anteil an der globalen Wirtschaftsleistung beträgt mit 13,3 Billionen Euro (2020) rund 15 Prozent. Investoren aus der Europäischen Union stellen 37 Prozent der weltweiten Bestände an Direktinvestitionen, während die EU ihrerseits das wichtigste Ziel für international tätige Investoren ist. Bisher wird gerade dieses offensichtliche Pfund, mit dem zu wuchern wäre, auch von den Mitgliedsstaaten selbst unterschätzt. Ein stärkeres (Selbst-)Bewusstsein für die eigene Bedeutung kann dazu führen, dass auch Nicht-EU-Unternehmen europäische Standards adaptieren, um am Binnenmarkt stärker zu partizipieren. Darauf verweist der von Anu Bradford geprägte Begriff „Brüssel Effekt“, der die EU als regulatorische Supermacht definiert, die weltweit gültige Standards setzt. Eine Orientierung an diesen höchsten Standards minimiert die Kosten für globale Unternehmen und erhöht dadurch deren Bereitschaft, diese Standards zu adaptieren.

Der Brüssel Effekt: Globalisierung europäischer Standards

Das Beispiel der europäischen Regeln zur Datensicherheit, die inzwischen bis weit über die Grenzen der EU Anwendung finden, steht beispielhaft für den „Brüssel Effekt“. Während China durch die breite Anwendung von Überwachungstechnologie einerseits enorme Datenmengen sammelt, andererseits den freien Fluss von Informationen einschränkt, wo dieser das Informationsmonopol der Partei oder Wirtschaftsinteressen berührt, strebt Europa danach, die richtige Balance von Datenschutz und -freiheit zu finden. Dieser Ansatz unterscheidet sich auch fundamental von dem der Vereinigten Staaten, wo den Kräften des Marktes vertraut und auf eine Selbstregulierung der Digitalindustrie gesetzt wird.

Mit der Datenschutzgrundverordnung wurden EU-Bürger zunächst mit grundlegenden Rechten im Binnenmarkt ausgestattet, die gleichzeitig eine Übermittlung personenbezogener Daten in Staaten mit niedrigeren Standards außerhalb der EU verbieten. Dadurch wurde international ein Anreiz zur Orientierung am europäischen Regelwerk geschaffen. Den Europäern hier nicht entgegen zu kommen, hätte juristische und wirtschaftliche Konsequenzen – unabhängig davon, dass die Sachargumente für eine Angleichung an die EU-Regeln zumindest aus Sicht internationaler Wertepartner überzeugend sind: Europäische Normen, die im Geiste eines sozial bewussten Liberalismus den Schutz und die Selbstbestimmung des Individuums zum Kern haben, wurden so zum Goldstandard. Dies erhöht nicht nur die Sicherheit für Bürger rund um die Welt, sondern auch die Berechenbarkeit für Unternehmen durch die globale Vereinheitlichung hoher Standards. Gleiches gilt für den Kilmaschutz: Hier bietet der „European Green Deal“ Potenzial, für europäische Nachhaltigkeitslösungen und -standards globale Nachahmer zu finden. Ambitioniertes Handeln macht sich bezahlt und führt heraus aus der Spirale des Gefangenendilemmas, das in der internationalen Klimapolitik die zögerliche Umsetzung von Klimaschutzmaßnahmen bezeichnet, angesichts der ungewissen Bereitschaft anderer Länder, selbst Maßnahmen zu ergreifen.

Handelspolitik als ein Mittel zur internationalen Durchsetzung hoher Sozial- und Umweltstandards

Grundlage für den Erfolg des „Brüssel Effekts“ ist ein selbstbewusstes Eintreten für die Freiheit des Individuums und den Schutz der Umwelt – also für Werte, die als Resultat europäischer Geistesgeschichte für moralisch richtig erachtet werden und im 20. Jahrhundert im Rahmen internationaler Abkommen auch universelle Gültigkeit erfahren haben. Dieses anzustrebende Selbstbewusstsein der EU beinhaltet explizit auch die Überzeugung, dass Handelspolitik ein probates Mittel zur internationalen Durchsetzung hoher Sozial- und Umweltstandards sein kann: Zugang zum Binnenmarkt erhält, wer Bereitschaft zur Einhaltung europäischer Normen bekundet. Dies ist auch im ureigenen Interesse europäischer Arbeitnehmerinnen, Arbeitnehmer und Unternehmer, für deren nachhaltige Produkte auf diese Weise weltweite Absatzmärkte geschaffen werden, wobei gleichzeitig der Anreiz zur Verlagerung von Produktion in Länder mit niedrigeren Standards reduziert wird.

Zwar muss eine Überfrachtung von Abkommen durch Nachhaltigkeits-Standards vermieden werden, um Verträge überhaupt noch abschließen zu können. Doch kann ein Verzicht auf diese Standards in vorauseilendem Gehorsam und mit Blick auf chinesisch dominierte Handelsblöcke keine Alternative sein. Es darf hier kein Unterbietungswettlauf beginnen, zumal viele Länder zu verstehen beginnen, dass Chinas vermeintlich bedingungslose Angebote zu politischer Abhängigkeit und Einflussnahme führen. Im Gegensatz dazu ist die Durchsetzung europäischer Standards in einem Überbietungswettlauf nicht neo-kolonialistisch zu nennen, da sie auf freiwilliger Zustimmung zu einem universellen Wertekanon beruht und keine politischen Abhängigkeiten schafft, sondern – im Gegenteil – die Rechtssicherheit für Bürgerinnen und Bürger erhöht. Wer sich gegen europäische Normen entscheidet, kann dies tun, jedoch auf Kosten des erleichterten Zugangs zum Binnenmarkt. Wer sich dafür entscheidet, gefährdet nicht seine Souveränität in innen- wie außenpolitischen Entscheidungen.

Wichtig ist dabei, dass die EU eine kongruente Handelspolitik verfolgt, deren Glaubwürdigkeit nicht bereits an internen Interessenskonflikten scheitert. Wenn etwa Neuseeland in den aktuellen Freihandelsverhandlungen mit der EU Nachhaltigkeits-Standards vorschlägt, die noch über die europäischen hinausgehen, dann darf Europa nicht seinerseits zum Bremsklotz werden. Nicht die EU allein bestimmt das Höchstgebot im internationalen Wettbewerb.

Reziprozität statt Reinheit

Lange haben europäische Unternehmer und Wirtschaftspolitiker das Wort Reziprozität nicht im Munde geführt. Zu sehr klang es nach dem archaischen „Auge um Auge, Zahn um Zahn“. Im Systemwettbewerb mit staatlich gelenkten Ökonomien und populistischen Regimen implizierte der Terminus eine Abwendung von marktwirtschaftlichen Prinzipien und eine Annäherung an die Unfreiheit anderer Systeme. In den vergangenen Jahren hat sich innerhalb der EU der Widerstand gegenüber reziproken Instrumenten zur Durchsetzung marktwirtschaftlicher Regeln jedoch abgeschwächt – auch in der deutschen Industrie.

Zwar ist das Ringen zwischen Verfechtern ordnungspolitischer Reinheit und Vertretern einer pragmatischen Reform des außenwirtschaftlichen Instrumentenkoffers der EU weiterhin hilfreich, um Exzesse in beide Richtungen einzuhegen. Dennoch bewegt sich die Antwort der EU auf den Systemwettbewerb in die richtige Richtung, um europäische Interessen und Grundsätze durchzusetzen, wie auch Wambach in seinem Beitrag beschreibt.

Systemwettbewerb mit Chinas staatlich geprägter Wirtschaft

Nicht nur der Aufstieg Chinas, sondern auch die bedenklichen Entwicklungen in den anderen BRICS-Staaten sowie in den USA unter Präsident Trump, haben die Europäer aus einer Gemütlichkeit gerissen, die einer gewissen Arroganz nicht entbehrte. Als auf dem alten Kontinent zur Jahrtausendwende noch das Ende der Geschichte zelebriert wurde, arbeiteten China und Russland bereits an einem Gegenkonzept zum sozialen und wirtschaftlichen Liberalismus, das die Welt erschüttern sollte. Währenddessen glaubte Europa weiter an sein Wertesystem als weltweiten Selbstläufer – schließlich war die Demokratie die schlechteste Staatsform, abgesehen von allen anderen. Insbesondere China erweiterte die politische Angebotspalette: Wohlstand und Sicherheit zum Preis der Freiheit. Diesem Versprechen lag ein ebenso problematisches Wirtschaftssystem zugrunde: die parteistaatlich gelenkte Hybridwirtschaft. Die Antwort in den Hauptstädten der alten Marktwirtschaften war, abzuwarten und auf die orthodoxe ökonomische Lehre zu vertrauen, die den freien Markt längst zum Gewinner erklärt hatte. Andere Systeme, das hatte die Vergangenheit gezeigt, würden aufgrund regulatorischer Fehlentscheidungen des Staates zwangsläufig scheitern. Während des Wartens auf die Wirkung der Selbstreinigungskräfte des globalisierten Marktes wuchs die Erkenntnis, dass die Monopolstellung des Liberalismus längst ins Wanken geraten war.

Neuen Bewusstsein für die eigenen Stärken und Interessen

Die Reaktion auf das Ende eines Monopols sollte nicht Panik sein, sondern ein gesunder Kampfgeist: Konkurrenz belebt das Geschäft. Und so liegt in dieser vermeintlichen Krise die Chance, aus Lethargie mit einem neuen Bewusstsein für die eigenen Stärken und Interessen hervorzugehen. Wenn sich die EU nun mit Antidumpingzöllen Regeln zum Schutz geistigen Eigentums, Antisubventionsmaßnahmen oder der genauen Prüfung von Investitionen ein Regelwerk für den Binnenmarkt gibt, um sich auf das Wettrennen mit einem gedopten Konkurrenten einzustellen, dann ist dieses Vorgehen zunächst einmal richtig. Die neuen europäischen Instrumente richten sich schließlich nicht gegen Dritte, sondern dienen der Stärkung der eigenen Konkurrenzfähigkeit. Es geht hier nicht um die Aufgabe des Prinzips freien Wettbewerbs, sondern um die Durchsetzung gleicher und fairer Grundsätze gemeinsam mit liberalen Partnern, damit diejenigen, die sich an die Regeln des freien Wettbewerbs halten, nicht als Verlierer vom globalen Marktplatz gehen.

Stringenz statt Inkonsequenz

Neben ihrer ökonomischen Macht als einer der drei größten Wirtschaftsblöcke sollte auch die „Soft Power“ der EU als Markenkern stärker in den Fokus rücken. Denn der „Brüssel Effekt“ wirkt nicht nur über die wirtschaftlichen Vorteile einer Angleichung an anspruchsvolle EU-Regelwerke. Am Beispiel der Datenschutzgrundverordnung wurde bereits deutlich, dass auch das dahinterstehende Menschenbild eine entscheidende Rolle für die Akzeptanz europäischer Standards spielt.

Gerade im Bereich der Soft Power birgt die EU ungehobene Potenziale, während Systemwettbewerber, wie Russland, die arabische Welt oder China, wenig zu bieten haben. Das chinesische Gesellschaftsbild fällt jenseits autokratischer Herrschaftszirkel nirgendwo auf fruchtbaren Boden. Dies wird allein schon daran erkennbar, dass – im Unterschied zu demokratischen Nachbarn wie Südkorea, Japan oder Taiwan – China beim Export von Kultur nicht an seinen Erfolg beim Güterexport anschließen konnte. Innerhalb der Weltregionen strahlen insbesondere Länder mit vergleichsweise offenen Gesellschaften in ihre kulturellen Sphären aus – etwa der Libanon in der arabischen Welt nach dem Ende des Bürgerkriegs. Ein Zusammenhang zwischen dem Freiheitsgrad von Gesellschaften und ihrem Erfolg bei der Projektion von Soft Power ist zu vermuten. Gleichzeitig hat der Kulturexport-Weltmeister USA durch seine gesellschaftliche Polarisierung an Strahlkraft verloren.

Strahlkraft des amerikanischen Modells geht verloren

Präsident Biden wird versuchen, einen einigenden Weg zu finden zwischen Identitätspolitik und Rechtspopulismus, um auch die Soft Power der USA wieder zu stärken. Kritiker mögen jedoch vorbringen, dass die beschriebene Fehlentwicklung schon immer als Damoklesschwert über dem amerikanischen Liberalismus hing: Wo staatliche Korrekturen als freiheitsfeindlich gelten, während die Globalisierung Fliehkräfte entfesselt, denen aufgrund fehlender staatlicher Interventionen kaum entgegenzuwirken ist, können Gesellschaften vor die Zerreißprobe gestellt werden. Demgegenüber steht ein ausgleichender Liberalismus kontinentaleuropäischer Provenienz, der seinen politischen Ausdruck in der sozialen Marktwirtschaft findet. Das bedeutet nicht, dass Xenophobie und postmoderne Identitätspolitik nicht auch europäische Gesellschaften beschäftigten. Doch wirkt ein solidarisch ausgleichender Staat zumindest derzeit noch extremen Auswüchsen entgegen.

 Die Grundlage der „Soft Power“ Europas ist die Strahlkraft der Freiheit

Die europäische Soft Power in Form der sozialen Marktwirtschaft verliert nur dann an Strahlkraft, wenn ihre Funktionsfähigkeit in Zweifel gezogen wird. Der Kampf gegen die Covid-19-Pandemie, der in der EU aufgrund ihres föderalen Charakters uneinheitlich geführt wurde, hat die Wahrnehmung eines dysfunktionalen Systems verstärkt. Anstatt die unterschiedlichen Lösungsansätze – mit denen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie und zur Gewährung verbriefter Freiheitsrechte immer wieder neu verhandelt wurden – als für Demokratien einzig probates Mittel anzuerkennen, wurde teils bewundernd auf autokratische Systeme geblickt, die mit maximaler Einschränkung des öffentlichen Lebens schnelle Erfolge erzielen konnten. Dabei sind viele populistisch-autoritär geführten Länder bei der Pandemie-Bekämpfung weit weniger erfolgreich gewesen, während Demokratien die Ausbreitung des Virus schnell eindämmen konnten.

Zugkraft der freiheitlichen Grundordnung

Wenn sich der Staub der Pandemie gelegt hat, muss sich die EU schnell wieder der Zugkraft ihrer freiheitlichen Grundordnung weit über ihre Grenzen hinaus bewusstwerden – auch aus Gründen des Selbsterhalts. Anstatt den vermeintlichen Erfolg autoritärer Regierungen zum Anlass zu nehmen, das eigene System in Frage zu stellen, sollte die EU die „Soft Power“ des Liberalismus bewusst einsetzen und verteidigen. Europa ermöglicht seinen Bürgerinnen und Bürgern eine nie dagewesene Vielfalt an Lebensentwürfen. Innerhalb seiner Grenzen lässt sich frei reisen und arbeiten. Meinungsvielfalt ist nicht nur geduldet, sondern erwünscht. Ein pluralistischer Ideenwettbewerb befördert ein ständiges Abgleichen angemessener Lösungen für neue Herausforderungen. Freie und bezahlbare Universitäten ermöglichen zumindest prinzipiell das Heben gesellschaftlicher Potentiale. Die Würde des Individuums steht im Mittelpunkt des politischen Wirkens, nicht die Gruppenzugehörigkeit. Gleiche Chancen für alle Bürgerinnen und Bürger durch Ausgleichsmechanismen werden angestrebt. Der Schutz der Natur und des Klimas zum Erhalt einer lebenswerten Umwelt für nachfolgende Generationen bildet einen Pfeiler der europäischen Agenda. Sicher scheitert die Realität gelegentlich am Anspruch, doch ein gemeinsames Hinarbeiten auf dessen Verwirklichung zeichnet die EU aus, so anstrengend dieses Streben auch wirken mag.

In dem Wissen, dass die meisten dieser Werte nicht rein europäisch sind, sondern über die Universalität der Menschenrechte auch weltweit unveräußerlich sind, sollte die EU diese Werte und Prinzipien auch international glaubwürdig und gemeinsam mit ihren Partnern verteidigen. Die Grundlage der „Soft Power“ Europas ist die Strahlkraft der Freiheit. In dieser Gewissheit muss die europäische Politik und Wirtschaft besser darin werden, gute Angebote zu machen und gerade Entwicklungsländern finanziell, sozial und ökologisch nachhaltigere und bezahlbare Alternativen anzubieten. Wie lange schon wird etwa über die europäische Konnektivitätsstrategie diskutiert, ohne dass innerhalb oder außerhalb Europas klar wäre, wie und mit welchen Mitteln diese umgesetzt werden sollte? Strategische Entscheidungen müssen schneller und nachvollziehbarer getroffen und umgesetzt werden. Mindestens ebenso unklar ist jedoch, inwiefern einige autoritär geführte Länder, die potenzielle Adressaten europäischer Angebote wären, die hohen normativen, regulatorischen und menschenrechtlichen Standards bereit wären zu erfüllen. Hier ist die Kooperation mit anderen liberalen Demokratien in den jeweiligen Regionen zielführend, die häufig einen besseren Zugang zu den Zielländern genießen. Zudem ist deutlich zu machen, dass Alternativangebote etwa aus China nur oberflächlich betrachtet nicht an Bedingungen geknüpft sind, sondern langfristige Abhängigkeiten schaffen und Souveränität einschränken.

Europa muss Farbe bekennen

In der Zusammenarbeit mit autoritären Staaten muss Europa auch Farbe bekennen. Zur glaubwürdigen Verteidigung liberaler Werte und Prinzipien gehört, konsequent rote Linien zu ziehen und zielgerichtet zu sanktionieren, wenn diese überschritten werden. Dabei müssen gelegentlich auch wirtschaftliche Interessen hintanstehen. Dies gilt, zumal Unternehmensinteressen aufgrund einer kritischen Öffentlichkeit ohnehin berührt werden, wenn diese als Stütze menschen- und umweltrechtsverachtender Maßnahmen wahrgenommen werden. Immer häufiger sehen sich Unternehmen, die in autoritär regierten Märkten investieren, vor die Wahl gestellt, bei fortgesetzter Aktivität Sanktionen in diesen Märkten zu riskieren, wenn sie dort Grenzüberschreitungen kritisieren oder durch Boykottaufrufe europäischer Kunden unter Druck zu geraten, wenn sie dies nicht tun. Die kritische Öffentlichkeit hält es zunehmend für unzureichend, wenn europäische Unternehmen auf ihren Beitrag zur Etablierung von Arbeits- und Sozialstandards in ihrem unmittelbaren Produktions- und Vertriebsumfeld in autoritären Staaten verweisen. Die Durchsetzung rechtsstaatlicher Prinzipien in autoritären Ländern ist immer weniger durch die Politik allein zu bewältigen, darf aber auch nicht auf die Unternehmer abgewälzt werden. Die Antwort kann nur in einem gemeinschaftlichen Wirken liegen.

Definierte Richtlinien unternehmerischer Verantwortung

Auch die Unternehmen unterliegen ihren eigenen, immer klarer definierten Richtlinien zur unternehmerischen Verantwortung. Darüber hinaus werden sie von europäischen Gesetzgebern verstärkt in die Pflicht genommen – als Ausdruck des demokratischen Wählerwillens. Angesichts eines blutigen Militärputsches in Myanmar, chinesischer Zwangslager in Xinjiang, Angriffen auf Journalisten in Saudi-Arabien oder der Zerstörung des Regenwaldes in Brasilien, müssen Unternehmen Konsequenzen ziehen, wenn andernfalls europäische Gesetze gebrochen würden oder eigene Leitlinien nicht mehr erfüllt werden können. Noch wird über die Definition solcher roten Linien gestritten. Wenn sich die Wirtschaft hier nicht schnell einigt, wird ihr die Entscheidung von Politik und Gesellschaft abgenommen, zum Preis der eigenen Glaubwürdigkeit. Ehrlicher wäre die offene Zustimmung etwa zu Sanktionen im Falle klarer Verbrechen gegen Mensch und Natur, solang diese Sanktionen einen rechtssicheren Konnex zwischen Tat und Sanktionen und keine Kollektivstrafen gegen ganze Wirtschaftszweige oder Länder beinhalten.

Der europäische Weg: Kooperation, Konfrontation und Wettbewerb

Nur aus einer Position der Selbstgewissheit, der Glaubwürdigkeit und des stringenten Eintretens für europäische Werte und der sich daraus ergebenden Interessen kann und wird Europa in die Welt hineinwirken. Damit strategische Souveränität selbstbewusst gelebt wird, darf die EU die Konfrontation nicht scheuen, wo diese aus Gründen der eigenen Überzeugungen unabdingbar ist. Langfristige Ziele müssen kurzfristigem und reaktivem Taktieren übergeordnet werden. Mit dem Mut zur Auseinandersetzung ist die Fähigkeit zu verbinden, mit systemischen Herausforderern zu kooperieren, wo dies möglich ist, etwa bei der Umsetzung des Pariser Klimaabkommens. Konfrontation und Kooperation bilden das Spannungsfeld, innerhalb dessen sich die EU dem Wettbewerb mit internationalen Partnern und Rivalen stellen muss. Agiert Europa in beiden Spannungsfeldern klug – und rüstet seinen eigenen politischen Werkzeugkasten auf – hat die Gemeinschaft die große Chance, zu einer Zukunftsmacht zu reifen und Partner weltweit auf ihrem Weg mitzunehmen.

Dieser Beitrag von Joachim Lang und Wolfgang Niedermark enstammt dem Band "Die europäische Alternative. Unser Weg in Zeiten des globalen Umbruchs", der im Oktober 2021 u. a. mit Beiträgen von Marie-Janine Calic, Daniela Schwarzer, Guntram B. Wolff, Stefan Mair, Janka Oertel, Mikko Huotari, Achim Wambach, Sigmar Gabriel, Lars P. Feld und Ottmar Edenhofer im Herder Verlag erschienen ist.