Deutsche Wirtschaft wappnet sich für No-Deal-Brexit
Die Brexit-Verhandlungen gehen in ihre entscheidende Phase und noch immer ist die Frage
offen, ob es zu einem No-Deal Brexit kommt. Vor diesem Hintergrund hat Deloitte
gemeinsam mit dem BDI den 5. Brexit Survey durchgeführt, an dem 248 Unternehmen mit
wirtschaftlichen Verbindungen ins Vereinigte Königreich teilgenommen haben. Ziel war
herauszufinden, welche Erwartungen die Unternehmen hinsichtlich der Verhandlungen und
der Brexit-Konsequenzen für den Standort Deutschland haben und wie sie selbst für den
Brexit planen und sich vorbereiten.
„Ohne Verlängerung der Verhandlungsfrist bleiben nur noch etwa 180 Tage bis zum Ende
der Übergangsperiode, das geht schnell“, sagt Dr. Alexander Börsch, Chefökonom bei
Deloitte. „Wie auch immer der Brexit dann aussehen wird – ob mit Deal oder ohne: Die
deutsche Wirtschaft fühlt sich zum Großteil auch auf einen ‚Worst Case‘ gut vorbereitet,
dennoch erwartet eine beträchtliche Anzahl an Unternehmen hohe Schäden. Europa ist den
deutschen Unternehmen sehr wichtig, die Furcht vor einem Zerfall von EU als Folge des
Brexit ist hoch. Bei der Weiterentwicklung der EU plädieren die Unternehmen für eine
Vertiefung der europäischen Integration in ausgewählten Politikfeldern und eine Vertiefung
des Binnenmarktes als Prioritäten.“
BDI-Hauptgeschäftsführer Dr. Joachim Lang sagt: „Unsere Unternehmen beobachten die
Brexit-Verhandlungen sehr genau. Mit der andauernden Unsicherheit passen sie ihre
Wertschöpfungsketten an. Der schleppende Verhandlungsverlauf erschwert wichtige
Investitionsentscheidungen. Es besteht die Gefahr, dass sich die Verlagerungen weg von
Großbritannien auf andere Standorte beschleunigen, wenn sich nicht sehr bald eine
Perspektive für eine Wirtschaftspartnerschaft abzeichnet.“
Mehr als die Hälfte hofft auf Einigung oder Aufschub, ein Drittel befürchtet harten Brexit
Die im Mai durchgeführte Umfrage zeigt, dass weit mehr als die Hälfte der Firmen zu dem
Zeitpunkt immer noch auf eine Verschiebung der Verhandlungsfrist (25 Prozent)
beziehungsweise auf einen rechtzeitigen Abschluss und Ratifizierung eines umfassenden
Freihandelsabkommens (26 Prozent) setzte. Weitere 18 Prozent erwarten ein
Basisabkommen. Diese Hoffnungen aufgegeben hatten da indes fast ein Drittel (30 Prozent)
– sie glauben nicht mehr an eine rechtzeitige Einigung und stellen sich daher auf einen
harten Brexit ein. Ebenfalls 30 Prozent planen für diesen Fall einen Stellenabbau in
Deutschland. Verhandlungskonflikte mit Großbritannien sehen die Unternehmen vor allem
bei der EU-Forderung nach fairem Wettbewerb (58 Prozent), gefolgt von den Themen
Steuern (45 Prozent) und Subventionen (43 Prozent).
Unternehmen für mehr europäische Integration, aber fokussiert
Mit dem Brexit bricht für die Europäische Union eine neue Zeitrechnung an. Die Sicht der
Unternehmen ist ausgeprägt pro-europäisch: 43 Prozent befürworten für die Zeit nach dem
Brexit eine vertiefte europäische Integration – fokussiert auf ausgewählte Politikfelder wie
Außen- und Migrationspolitik. 25 Prozent plädieren für eine stärkere allgemeine Integration
und Zentralisierung.
Damit bleibt die Akzeptanz für Europa hoch. Allerdings sank im Vergleich zu 2019 die
Zustimmung zu stärkerer Zentralisierung sehr deutlich, wohingegen die Offenheit gegenüber
einer Integration in ausgewählten Bereichen anstieg. Für die politische Agenda der
europäischen Union in der Post-Brexit-Ära priorisieren die Unternehmen eine Vertiefung des
EU-Binnenmarktes (57 Prozent) sowie den Ausbau neuer Technologien und Sicherheit (beide
48 Prozent) als Prioritäten.
Größtes Risiko: Auseinanderbrechen der EU
Angesichts der stockenden Verhandlungen überrascht es nicht, dass bei rund 38 Prozent der
befragten Unternehmen noch Unsicherheit bezüglich der zu erwartenden Brexit-Ergebnisse
herrscht: Ein Viertel der Befragten bleibt hier optimistisch, während sich bei einer
Minderheit Resignation oder Müdigkeit breitmacht. Die Frage nach den Konsequenzen und
Erwartungen für die EU und Deutschland zeigt die Bedeutung der EU für die deutschen
Unternehmen: Rund 45 Prozent sehen die Gefahr einer auseinanderfallenden EU – damit ist
dieses Risiko in den Augen der deutschen Unternehmen seit 2019 deutlich gestiegen.
Vor einem Jahr stand die Gefahr eines nachlassenden Handels mit Großbritannien noch an
erster Stelle, aktuell befürchten dies 40 Prozent. Besonders hoch fällt diese Besorgnis beim
Maschinenbau (55 Prozent) sowie beim Handel (50 Prozent) aus. Die Gefahr eines
verschärften Standortwettbewerbs durch neue steuerliche Anreize im Vereinigten Königreich
sehen 33 Prozent.
Brexit als Chance für den Finanzplatz Deutschland
Eine Stärkung des Finanzplatzes Deutschland sehen die Unternehmen als größte Chance für
den Standort Deutschland als Folge des Brexit (54 Prozent). Fast die Hälfte erwartet
Verlagerungen durch den Brexit in Richtung Deutschland. Immerhin 44 Prozent der
Unternehmen rechnen zudem mit einer höheren Attraktivität Deutschlands für ausländische
Direktinvestitionen.
Mehrheit sieht sich gut vorbereitet, Corona bremst
Fast drei Viertel der an der Umfrage teilnehmenden Unternehmen fühlt sich gut bzw. sehr
gut auf den Brexit vorbereitet, ein Fünftel hingegen hält sich für schlecht bzw. sehr schlecht
gewappnet. Entsprechend rechnen 38 Prozent der Unternehmen für den Fall eines harten
Brexit mit hohen Schäden für ihr Unternehmen, während mehr als die Hälfte eher geringe
Beeinträchtigungen erwartet.
Die höchsten Verluste für Ihren Bereich erwartet das Bankwesen, das sich zugleich relativ
schlecht vorbereitet weiß, während sich die Automobilindustrie überdurchschnittlich gut
gewappnet fühlt und geringere Schäden auf sich zukommen sieht. Die Corona-Krise spielt
auch bei den Brexit-Vorbereitungen eine Rolle. Zwar hält knapp die Hälfte der Unternehmen
am geplanten Vorgehen unverändert fest bzw. verstärkt seine Maßnahmen, doch immerhin
ein Drittel gibt an, entsprechende Pläne entweder zurückzufahren (6 Prozent) oder
aufzuschieben (28 Prozent).
Maßnahmen: Handel, Lieferketten und Verträge im Fokus
Bei den durchgeführten und geplanten Maßnahmen auf Unternehmensebene stehen
handels- und lieferkettenbezogene Themen wie die Prüfung bez. Betroffenheit von
Dienstleistern und Zulieferern sowie die Vorbereitung auf Zölle und Zollkontrollen. Weitere
Maßnahmen befassen sich mit der Anpassung bestehender Verträge an die neuen
Bedingungen. Auch die Verlegung der operativen Steuerung von EU-Geschäften aus UK nach
Europa ist ein wichtiger Ansatz, der vor allem von Technologieunternehmen genutzt wird –
ebenso wie die Verlegung der Datenverarbeitung nach Europa, die mit 39 Prozent
insbesondere im Bankwesen angewandt wird. Insgesamt zeigt sich, dass eine Mehrheit (59
Prozent) bereits Verlagerungen (Produktionsstätten, Arbeitskräfte, Zielmärkte)
vorgenommen hat. Hauptziel war dabei Europa, gefolgt von Deutschland und Asien.