Die europäische Alternative: Unser Weg in Zeiten des globalen Umbruchs
„Die Welt ist aus den Fugen.“ Mit diesem Zitat aus Shakespeares Hamlet beschrieb Bundeskanzlerin Angela Merkel 2016 ein verbreitetes Gefühl in der deutschen Bevölkerung. Krisen und Konflikte in und um Europa, Massenflucht und Migration aus instabilen Weltregionen und zuletzt die Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten – all das schien anzuzeigen, dass die bekannte, etablierte Weltordnung, in der Europa einen sicheren Platz hatte, Risse bekam.
Die internationale Ordnung hat sich nachhaltig verändert, und Europa muss die Kraft aufbringen, seinen Platz in Teilen neu zu definieren und zu finden. Ein Zurück zu den stabilen, sicheren Zuständen der alten Welt wird es nicht geben. So ist eben nicht im Sinne eines kontinuierlichen Prozesses das „Ende der Geschichte“ eingetreten, das Francis Fukuyama nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zuvor so eloquent beschrieben hatte.
Diese Illusion ist zunehmend der ernüchternden Erkenntnis gewichen, dass die Welt nicht nur aus demokratisch verfassten und damit marktwirtschaftlich prosperierenden Staaten bestand. Illusorisch war es zu glauben, der globale Süden und die asiatisch-pazifische Region würden auch durch die enge wirtschaftliche Verflechtung mit den westlichen Industriestaaten allmählich Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit einführen und die Gesellschaftssysteme sich in der modernen Welt zunehmend angleichen – diese Konvergenzthese lässt sich nicht pauschal aufrechterhalten. China als zentrale Regionalmacht und aufstrebende Weltmacht fordert das westliche Wertesystem und auch geltende Völkerrechtsnormen heraus. China widerlegt damit die Annahme der Konvergenz am deutlichsten: Je stärker China wirtschaftlich wird – und die Gesellschaft insgesamt wohlhabender –, desto stärker sind die Ressourcen für diese einzigartige Form des Ein-Parteien-Autoritarismus und den Export seiner illiberalen Ideen und Vorstellungen von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Hongkong ist das deutlichste Beispiel für dieses Bestreben Chinas und wohl nur eine weitere Episode auf dem Weg, langfristige strategische Ziele umzusetzen. China ist längst in vielen Bereichen auf dem Weg zur Technologieführerschaft und fest entschlossen, diese zu erreichen. Es besteht also ein grundsätzlicher Wettbewerb zwischen Ideen gesellschaftlicher Systeme und internationalen Ordnungsmodellen.
Ist eine Entkopplung Europas von China deshalb unvermeidbar, um souverän und unabhängig im internationalen Ordnungsgefüge aufgestellt zu sein? Diese antagonistische Sichtweise teilen wir als Herausgeber nicht – und wollen zur Debatte ermutigen, wo die Grenzen zwischen Kooperation und Abwehr zerstörerischer Einflüsse gezogen werden können. Lediglich von Systemrivalität oder gar Feindschaft zu sprechen unterschätzt auch die innergesellschaftlichen Dynamiken und nicht vorhersehbaren internationalen Überraschungen. Wir dürfen uns auch nicht von der Staatsrhetorik blenden lassen, Chinas Politik und Gesellschaft sei für immer und ewig ein monolithischer Block. Kooperation und Anreize zum Ausgleich müssen immer Bestandteil internationaler Politik sein, sonst wird die grundlegende Annahme eines Kulturkampfes zur selbsterfüllenden Prophezeiung. Vielmehr muss der Blick darauf gerichtet sein, was Europa der Welt anbieten kann und wie ein gesellschaftlich freiheitliches Modell mit gleichzeitiger ökonomischer Prosperität funktioniert.
Dieses Buch soll den Blick auf die vielfältigen Aspekte – historische, politische, soziale und ökonomische – richten, um an konkreten Beispielen und Politikfeldern an einem „Leitbild“ und an Grundsätzen zur internationalen Zusammenarbeit Europas mitzuarbeiten. Wir haben als Herausgeber deshalb eine vielfältige Autorenschaft für diese Debattenplattform gewonnen, die sowohl Überblicke zum internationalen Geschehen bietet als auch in den Schwerpunktthemen ganz konkret Anspruch, Realität und Perspektiven für ein selbstbestimmtes, souveränes Europa herausarbeitet. Die zentrale Frage des Buchs ist deshalb, welchen Weg Europa einschlagen soll, um im globalen Wettbewerb künftig zu bestehen und sich als Alternative neben den USA und China zu entwickeln. Wir möchten damit einen Beitrag leisten, eine wichtige Diskussion in eine breitere Öffentlichkeit zu tragen.
Die Welt ist nicht mehr unipolar, wie viele in Politik- und Wirtschaftswelt noch lange nach dem Kalten Krieg glaubten, sondern multipolar ausgestaltet. Die USA haderten zuletzt unter US-Präsident Trump mit ihrem Anspruch als globale Führungsmacht. Sein Nachfolger Joe Biden korrigiert diesen Kurs nun und setzt durch Allianzen und Bündnisse wieder auf eine starke westliche Gemeinschaft. Der heraufziehende Konflikt der Großmächte USA und China zwingt die Europäer zunehmend, sich zu positionieren.
Was haben Wirtschaft und Industrie damit konkret zu tun? Durch die exportorientierte Wirtschaft ist unser Land eng mit den größten Wirtschaftsräumen der Welt verflochten. Hochwertige Technologieprodukte sind von länderübergreifenden Lieferketten abhängig. Vertiefte Handelsbeziehungen sichern uns Absatzmärkte für Produktions- und Konsumentengüter sowie hochwertige Dienstleistungen. Unser Wohlstand hängt damit entscheidend von einer starken Industrie ab, die nur gedeiht, wenn ausreichend faire internationale Wettbewerbsbedingungen vorliegen. Unser marktwirtschaftliches System, das auf Unternehmer- und Vertragsfreiheit gründet und dem Staat eine ordnende Funktion – etwa in der Wettbewerbs- und der Währungspolitik – zuweist und relativ freie Märkte absichert, steht international staatsdominierten Wirtschaftsmodellen gegenüber. Das wird im steigenden Ausmaß zum Problem, denn wechselseitig gelten unterschiedliche Investitionsbedingungen: Staatliche Unternehmen werden einseitig bevorzugt, während der wechselseitige Marktzugang asymmetrisch ist. Darüber hinaus bergen bestimmte Schlüsseltechnologien, wie in der Telekommunikation, die Gefahr, politisch instrumentalisiert zu werden. Ferner können Rohstoffe dem Zugang Dritter entzogen werden, um so die eigene Wettbewerbsposition zu verbessern. Das Kernproblem liegt also darin, dass Wirtschaft immer stärker in ein geopolitisches Strategiekonzept integriert wird, um Machtressourcen für die politische Herrschaft auszubauen, Abhängigkeiten zu schaffen und andere Länder beeinflussbar zu machen. Das steht unserem Gesellschaftssystem und Wertvorstellungen diametral entgegen.
Lässt die EU sich im Systemwettbewerb innerlich spalten, kann sie nach außen nicht als relevanter internationaler Akteur auftreten. Das galt im geringeren Maße bezüglich der US-Positionierung während der Präsidentschaft von Donald Trump, im stärkeren Maße jedoch hinsichtlich der Seidenstraße-Initiative Chinas, die Vereinbarungen mit Regionen und Ländern der EU anstrebt.
Deutschland und Europa können sich jedoch weder international davor abschotten, wie die politische Rechte glauben machen will, noch ist es empfehlenswert, staatliche Lenkung der Wirtschaft nachzuahmen, um die persönlichen Freiheitsrechte zu sichern – das wiederum ist ein Irrglaube bei Teilen der politischen Linken.
Das europäische Projekt ist im Kern ein Befriedungsprojekt im Inneren, indem tiefe wirtschaftliche Integration zu institutionalisiertem Interessenausgleich führt und kriegerische Konflikte obsolet macht. Je stärker jedoch die globale Ordnung durch geopolitischen und geoökonomischen Wettbewerb gekennzeichnet ist, der auch militärisches Eskalationspotenzial birgt, desto stärker muss die EU auch eine eigene internationale Gestaltungsmacht werden. Der unmittelbare strategische Vorhof der EU auf dem Balkan steht hier exemplarisch für die Verantwortung, kriegerische Konflikte einzuhegen. Hierzu gehören neben sicherheits- und verteidigungspolitischen Fragen eben auch industrie- und handelspolitische Aspekte sowie Technologiekontrolle und Standardsetzung in den Bereichen Soziales und Nachhaltigkeit. Die einstweilige Rückkehr der USA zum Multilateralismus als Richtschnur internationaler Politik kann die EU nur kurz aufatmen lassen, keinesfalls darf sie sich nun wieder zurücklehnen – das entgegengesetzte Extrem, sich äquidistant zu den USA und China zu positionieren, wäre ebenso grundfalsch. Der europäische Binnenmarkt muss sich gegenüber anderen Wirtschaftsräumen behaupten und eng verbunden bleiben.
Wir sind der Ansicht, dass die EU nur als Teil der transatlantischen Gemeinschaft Gestaltungsmacht erlangen kann. In der Handels-, Technologie- und Klimapolitik müssen europäische Standards als internationales Vorbildmodell entwickelt werden. Das kann die EU nur, wenn sie geschlossen eine gemeinsame internationale Agenda verfolgt, politische Durchsetzungskraft ausbaut und ein wettbewerbsfähiger, hochfortschrittlicher Wirtschaftsraum bleibt. Dadurch ist Europa sowohl attraktiver Partner der USA als auch ernstzunehmender Wettbewerber Chinas.
Für uns steht fest, dass unsere Wirtschafts- und Gesellschaftsform verteidigt werden muss. Die soziale Marktwirtschaft als Grundlage der demokratisch-freiheitlichen Gesellschaftsordnung ist zukunftsfähig. Wir sehen in der Industrie einen Hebel, um u. a. durch kluge Wettbewerbspolitik, Forschungspolitik und Außenwirtschaftspolitik, das europäische Friedensprojekt auch künftig erfolgreich zu machen. Europa steht vor der entscheidenden Aufgabe, eine sogenannte strategische Souveränität zu entwickeln, die zugleich die internationale Handelsvernetzung als Rückgrat unseres Wohlstands stärkt.
Wir sind deshalb davon überzeugt, dass Europa seine Strahlkraft nur behalten kann, wenn es auch seine industrielle Stärke ausbaut. Ja, die Energieversorgung als Grundlage unserer Wirtschaftsweise ist eine zentrale Ursache für den Klimawandel. Aber als de-industrialisierte Weltregion taugt Europa nicht zum Vorbild für die aufstiegsorientierte globale Mittelschicht. Deutschland und Europa müssen auf den Weltmärkten Spitzentechnologien anbieten, damit sich CO2-sparende und CO2-neutrale Technologien durchsetzen und deshalb andere Länder diesem Beispiel des Umbaus der Industrie folgen. Europa kann beweisen, wie diese Transformation marktwirtschaftlich erfolgreich gemeistert werden kann – und damit ökonomisch, ökologisch und sozial nachhaltig ist.
In einer multipolaren Welt mit einem rasanten Bevölkerungswachstum müssen wir uns klar vor Augen führen, dass wir nur wirtschaftlich überleben können, wenn wir an den weltweiten Wachstumsdynamiken teilhaben. Die Welt wandelt sich rasant: Heute sind rund 60 Prozent des Konsumentenmarkts im nordatlantischen Wirtschaftsraum, im Jahr 2040 wird sich nach einer Studie der Vereinten Nationen das Verhältnis genau umgekehrt haben: Dann werden sich nur noch 40 Prozent im nordatlantischen Wirtschaftsraum befinden, 60 Prozent hingegen im globalen Süden.
Im Zentrum für wirtschaftliches Handeln steht der einzelne Mensch – ihm werden Lebensgestaltungs- und Aufstiegschancen geboten, seine individuellen Freiheitsrechte gewahrt, unabhängige Instanzen entscheiden bei Rechtsstreitigkeiten. Kurzum: Wirtschaftliche Prosperität in individueller Gestaltungsfreiheit sowie Demokratie und Rechtsstaat sind wechselseitig voneinander abhängig. Die soziale Marktwirtschaft ist der Ordnungsrahmen zwischen Unternehmen, Arbeitnehmern und Konsumenten, der demokratische Rechtsstaat sichert unveräußerliche Rechte. Wir möchten deshalb mit diesem Debattenbeitrag auch der Frage nachgehen, ob die hohen Standards bei individuellen Freiheits- und Selbstbestimmungsrechten auf lange Sicht ein Wettbewerbsvorteil sein können, der auf andere Weltregionen ausstrahlt. Hier unterscheidet sich Europa von den USA, die vielmehr dem Primat des „laissez faire“ folgen und dabei für Freiheitsrechte des Einzelnen eine schützende Regulatorik weitestgehend unterlassen. Denn zunächst scheint ein hoher Standard, beispielsweise bei der Datenverarbeitung, Innovationen und Investitionen abzuschrecken – diese sind aber notwendig, um den Anschluss nicht zu verpassen und weiter auf höchstem Niveau Industrieprodukte, verschmolzen mit Dienstleistungsinnovationen, auf den Weltmärkten anzubieten. Ist das ausgeprägte europäische Rechtsverständnis individueller Freiheit und Selbstbestimmung ein unique selling point Europas im globalen Wettbewerb? Und wenn ja: Wie kann das in politische und außenwirtschaftliche Gestaltungskraft übersetzt werden? Die Annahme der EU als "regulatory superpower" verdient deshalb besondere Beachtung, insbesondere im Digitalsektor. Es muss kritisch hinterfragt werden, wie diese potenzielle geopolitische Machtressource der EU angesichts eines möglichen „Beijing-Effekts“ – der neben fortschrittlichster Telekommunikationstechnik auch den Export politischer Abhängigkeiten impliziert – weiterhin Bestand haben kann und den Binnenmarkt durch Regulierung nicht überfrachtet.
Ausgehend von diesen grundsätzlichen Überlegungen sehen wir als Herausgeber die wichtige Rolle der Wirtschaft in der gesellschaftspolitischen Debatte. Wirtschaft steht nicht außerhalb der Gesellschaft, sondern sie ist Teil derselben und dient dem Gemeinwohl. Damit dieser Anspruch auch in Zukunft gilt, muss sich unser Land grundlegenden Fragen stellen. Dieses Buch wird in einem ersten Teil die Regionen von hervorgehobener Bedeutung für die Frage einer europäischen Alternative im Wettbewerb der Systeme und Ideen behandeln. Im zweiten Teil wird der Fokus auf die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Kernfragen für eine „souveräne“ EU gelenkt. Der dritte Teil versucht Antworten in der internationalen Allianzpolitik sowie Wirtschafts- und Technologiepolitik zu finden.
Dieses Buch soll einen Beitrag dazu leisten, dass sich Deutschland in seiner Europa- und Außenpolitik stärker selbst hinterfragt und die öffentliche Aufmerksamkeit auf Fragen lenkt, die aus unserer Sicht jetzt wichtig sind. Wir hoffen damit einen Anstoß zu geben, wie Wohlstand, Freiheit und Sicherheit in der künftigen Weltordnung gesichert und verteidigt werden können. Als Industrie stehen wir bereit, an diesem Wandel in unserer freiheitlichen Gesellschaft mitzuwirken.
Siegfried Russwurm und Joachim Lang sind die Herausgeber des Bandes "Die europäische Alternative. Unser Weg in Zeiten des globalen Umbruchs", der im Oktober 2021 u. a. mit Beiträgen von Marie-Janine Calic, Daniela Schwarzer, Guntram B. Wolff, Stefan Mair, Janka Oertel, Mikko Huotari, Achim Wambach, Sigmar Gabriel, Lars P. Feld und Ottmar Edenhofer im Herder Verlag erschienen ist.