Dorothee Stamm, Geschäftsführerin der Medtronic GmbH © Medtronic

Digitale Medizintechnologie ist ein wichtiger Beitrag für eine nachhaltige Gesundheitswirtschaft

Digitale Lösungen haben die Gesundheitsversorgung in den vergangenen Jahren entscheidend vorangebracht. Welche Entwicklungen werden die Zukunft prägen und wie gelangen Innovationen noch schneller in die Kliniken und Praxen sowie zu den Patientinnen und Patienten? Ein Interview mit Dorothee Stamm, Geschäftsführerin der Medtronic GmbH, über die Chancen und Herausforderungen einer zukunftsweisenden Branche.

Frau Stamm, die Medizintechnologie entwickelt sich rasant weiter. Wie haben digitale Innovationen die Gesundheitsversorgung bereits vorangetrieben? Welche Entwicklungen erwarten Sie für die Zukunft? 

Digitale Innovationen haben bereits die Patientenzentrierung gestärkt, die Präzision medizinischer Verfahren verbessert und den Zugang zur Gesundheitsversorgung erweitert. Für die Zukunft erwarten wir, dass sich diese Entwicklungen fortsetzen werden und sich damit auch die gesamte Gesundheitsversorgung weiter transformieren und verbessern wird.

Welche Entwicklungen meinen Sie konkret?

Ein Aspekt ist die Ambulantisierung der Gesundheitsversorgung. Dank moderner Technologie sind Operationen heute oft weniger belastend als früher, weil kleinere Wunden entstehen und der Blutverlust geringer ist. Krankenhausaufenthalte fallen dadurch kürzer aus oder können sogar ganz vermieden werden.

Ein weiterer Punkt ist die Miniaturisierung von medizinischen Geräten. Sie hat die Präzision und Effizienz von Diagnosen und Behandlungen erheblich verbessert. Kleine, aber leistungsstarke Geräte wie Herzschrittmacher und winzige Kapselendoskope in der Größe einer Pille ermöglichen weniger invasive Eingriffe, reduzieren das Risiko von Komplikationen und beschleunigen die Genesung. In Zukunft könnten weitere Miniaturisierungsfortschritte die Entwicklung von noch fortschrittlicheren medizinischen Geräten ermöglichen.

Auch die künstliche Intelligenz (KI) hat die Fähigkeit zur Analyse und Interpretation medizinischer Daten auf ein neues Niveau gehoben. Dank maschinellen Lernens und neuronaler Netze können medizinische Fachkräfte Krankheiten schneller und genauer erkennen, früher diagnostizieren und effizienter behandeln. Die Integration von KI in die medizinische Bildgebung, die Diagnose und sogar in die Erstellung personalisierter Behandlungspläne wird in Zukunft sicher weiter zunehmen.

Und schließlich die Telemedizin: Sie hat sich bereits in den vergangenen Jahren erheblich verändert, insbesondere während der COVID-19-Pandemie, denn sie ermöglicht Patientinnen und Patienten den Zugang zu medizinischer Beratung und Behandlung von zuhause aus. Virtuelle Arztbesuche und die Fernüberwachung von Patienten sind zu einem wichtigen Bestandteil der Gesundheitsversorgung geworden. Wachstum und Verbesserungen in diesem Bereich werden die Zugänglichkeit zur Gesundheitsversorgung weiter erhöhen.

Wo sehen Sie die größten Herausforderungen für die Gesundheitswirtschaft allgemein und die Medizintechnologie im Besonderen?

Die Gesundheitswirtschaft, insbesondere die Medizintechnologie, steht vor einer Vielzahl von bedeutenden Herausforderungen, die sich sowohl auf die Industrie als auch auf die Patientenversorgung auswirken. Der Kostendruck ist ein kontinuierliches Problem in der Gesundheitswirtschaft. Innovative Medizintechnologien sind oft teuer, während Gesundheitssysteme und Versicherungen eine Senkung der Gesundheitsausgaben fordern. Medizintechnologie-Hersteller und -Anwender müssen innovative Ansätze entwickeln, um eine hochwertige Versorgung kosteneffizient zu gestalten.

Darüber hinaus sehen sich die Krankenhäuser mit einem erheblichen Mangel an qualifiziertem Personal und Fachkräften konfrontiert. Die vorhandenen Arbeitskräfte sind vielerorts überlastet, die Versorgungsqualität der Patientinnen und Patienten leidet. Daher ist die Entlastung von Fachkräften eine dringende Herausforderung, der wir als Medizintechnologie-Branche mit innovativen Produkten und Lösungen begegnen können.

Eine erhebliche Hürde für die Medizintechnologie-Industrie sind zudem die verschärften Regularien, insbesondere die neue europäische Medizinprodukteverordnung (MDR) in der Europäischen Union. Die Einhaltung strengerer Vorschriften erfordert umfangreiche Ressourcen auf Unternehmensseite und kann die Markteinführung neuer, innovativer Produkte verzögern.

Als letzten Punkt möchte ich hier noch die Datenschutz- und Sicherheitsbedenken in Bezug auf die Nutzung von Gesundheitsdaten durch die Medizintechnologie-Industrie anführen. Die Nutzung dieser Daten ist entscheidend für die Entwicklung und Verbesserung von Medizintechnologien bei gleichzeitiger Gewährleistung von Datenschutz und Compliance bei der Erfassung und Nutzung von Patientendaten.

Die Bewältigung all dieser Herausforderungen gelingt nur durch eine ganzheitliche Herangehensweise und die enge Zusammenarbeit zwischen Regierungen, Gesundheitseinrichtungen, der Industrie und anderen Stakeholdern. 

Wie gelingt es, Innovationen schneller auf den Markt zu bringen? 

Wir wünschen uns vor allem zügige Verfahren mit klaren Fristen. Der Gemeinsame Bundesausschuss, der für die Marktzulassung verschiedener medizintechnischer Verfahren zuständig ist, hat lange Wartezeiten für Beratungsgespräche, die für eine gute Vorbereitung eines Antrages aber notwendig sind. Bei den Benannten Stellen, die die Zertifizierung von Medizinprodukten übernehmen, stapeln sich die Anträge, und wir warten lange auf die Bearbeitung. 

Erschwerend kommt hinzu, dass die Zertifizierungsstellen hier oft sehr viel Wert auf Studien aus Deutschland legen.  Gleichzeitig sind die Bedingungen für die Durchführung von Studien hierzulande besonders komplex. Die Anerkennung von Evidenz aus anderen Ländern würde uns den Marktzugang ebenfalls erleichtern.

Und wir würden gern mehr digitale Produkte auf den Markt bringen, hier fehlen uns aber vor allem nutzbare Daten. Durch die enge Auslegung der Europäischen Datenschutzgrundverordnung macht der Gesetzgeber Auswertungen und Weiterentwicklungen in Deutschland komplizierter als in anderen europäischen Ländern – trotz gleicher Rechtslage. Dabei ist gerade digitale Medizintechnologie ein wichtiger Beitrag für eine nachhaltige Gesundheitswirtschaft. 

Inwiefern ermöglicht die Digitalisierung der Medizintechnologie eine nachhaltigere Versorgung der Patientinnen und Patienten?

Mit digitalen Produkten nutzen wir vorhandene Geräte, vor allem die Smartphones der Patientinnen und Patienten. Wir brauchen also keine eigene Übertragungstechnik mehr. Außerdem können wir viele Wege vermeiden: Die kontinuierliche Überwachung durch Telemonitoring macht Besuche beim Arzt überflüssig. Ebenso kann Telemedizin den Patientinnen und Patienten durch Ersteinschätzungen helfen, die richtige Versorgungsstufe anzusteuern: Es ist besser, nach einer Videokonsultation beruhigt in die Arztpraxis vor Ort zu gehen, als sich auf der Suche nach schneller Hilfe auf eine Odyssee durch verschiedene Praxen und Kliniken zu begeben. Ein weiterer Aspekt ist die Optimierung vorhandener Produkte mit Software. Ein Beispiel ist unsere Insulinpumpe. Das „alte“ Gerät wird durch ein Softwareupdate besser, es muss nicht ausgetauscht werden. So ermöglichen wir den Patientinnen und Patienten eine bessere Versorgung – ganz ohne Müll und ohne zusätzlichen Aufwand.