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Ein geopolitischer Wettlauf um Normen

Normen und Standards gestalten Schlüsseltechnologien und Innovationen. Mit zunehmender Globalisierung unserer Märkte und starken Ambitionen autoritär regierter Staaten steht die Welt wirtschaftlich und politisch vor neuen Herausforderungen. Während China die internationalen Spielregeln der Normung für sich geschickt nutzt, hatte Europa lange Zeit das Nachsehen. Die europäische Normungsstrategie könnte nun zu einem echten Gamechanger werden. 

Während die EU-Kommission mit der bürokratischen Überregulierung des europäischen Normungssystems beschäftigt war und die Generaldirektionen ein Silodenken bevorzugten, nutzten andere Staaten wie China die Gunst der Stunde für sich und bauten ihren Einfluss in internationalen Normungsgremien stetig aus. Die europäische mitsamt der deutschen Industrie ist dadurch mit neuen Herausforderungen konfrontiert. Europas Normungsstrategie, die Anfang Februar 2022 herauskam, trifft den Nerv der Zeit und läutet eine neue Ära des europäischen Normungssystems ein.

Europäisches Know-How und technologische Souveränität in Schlüsseltechnologien priorisieren

Die EU-Kommission setzt schon immer auf das Know-how von Unternehmen bei der Erarbeitung und Priorisierung von Normen. Denn nur mit wirtschaftlicher Expertise wird technologisches Wissen zu globalen Benchmarks. Zügig möchte die EU-Kommission nun Normungsaufträge in strategisch wichtigen Bereichen in Auftrag geben, etwa für die Impfstoff- und Medizinproduktion, das Recycling kritischer Rohstoffe, die Produktion grünen Wasserstoffs oder der Dateninteroperabilität.

Wer den Wandel zu einer grünen und digitalen Wirtschaft mit eigenen Werten und Technologien gestalten will, muss eine globale Vorreiterrolle einnehmen. Ob das neue „High-Level Forum“ bestehend aus Stakeholdern der Normung, Mitgliedsstaaten, Europäischer Kommission und Parlament, zum Austausch von Informationen, der Koordinierung und Stärkung des europäischen Ansatzes auf internationaler Ebene den gewünschten Effekt erzielt, bleibt abzuwarten. Wünschenswert wäre gewesen, bestehende Formate anzupassen. Neue Strukturen bergen das Risiko redundanter Prozesse. Um die Kapazitäten auf Expertenebene zielgerecht einsetzen zu können, sollten bestehende nationale und europäische Foren und Formate auf den Prüfstand gestellt werden. Positiv zu bewerten ist die Eingliederung der Untergruppen des Forums in bestehende Strukturen wie den Industrieallianzen.

Eine große Neuerung ist der „EU excellence hub on standards“ unter Führung eines Chief Standardisation Officer. Das Hub soll internationale Normungsprojekte beobachten und Expertise für die Normung von Schlüsseltechnologien bereitstellen. Eine weitere Aufgabe des Hubs können Normungsexperten als Affront werten. Sollten nicht innerhalb von 24 Monaten harmonisierte europäische Normen vorliegen, hat das Hub die Aufgabe „common specifications“ zur Ausfüllung der grundlegenden Anforderungen von Harmonisierungsrechtvorschriften zu erarbeiten. Begründet wird dies nicht zuletzt mit zu langen Bearbeitungszeiten. Bereits im Juli 2021 legte die europäische Industrie konkrete Vorschläge vor, um die Rahmenbedingungen für die Beauftragung, Bewertung und Zitierung europaweit harmonisierter Normen zu überprüfen und anzupassen: Joint Industry recommendations for effective Harmonised Standardisation – konkrete Lösungsvorschläge liefert die Normungsstrategie allerdings nicht.

Selbstbewusster Schulterschluss starker Akteure in der Normung

Zielstrebige Ansätze liefert die Europäische Kommission zur Förderung der internationalen Zusammenarbeit und nimmt dabei eine globale Perspektive ein. Mit der Finanzierung von Normungsprojekten in afrikanischen Ländern werden wichtige Meilensteine für das Global Gateway gesetzt. Wichtig ist, Normen und Standards zum festen Bestandteil europäischer Handelsstrategien zu etablieren. Deutschland profitiert maßgeblich von europäisch-afrikanischen Handelspartnerschaften und setzt beispielsweise zur Umsetzung der Wasserstoffstrategie auf Importe, auch aus der Sahara.

Verstärkt auf die internationale Zusammenarbeit zu setzten und konkrete Maßnahmen im Trade and Technology Council (TTC) festzuschreiben, sind ein sinnvoller Ansatz. Der BDI ermutigt die Kommission und die Bundesregierung, sich international für das Heranziehen von internationalen Normen in marktzugangsbestimmenden Regulierungen einzusetzen. Digitale Partnerschaften können die Schlagkraft der Normung international und die digitale Wettbewerbsfähigkeit Europas auf internationaler Ebene erhöhen. Erst Ansätze liefert die Transatlantic Business Initiative (TBI) die den digitalen Normungsbedarf identifiziert. Gemeinsam mit G7-Partnern setzt auch Deutschland auf „eine stärkere internationale Koordinierung bei der Setzung von Standards und Normen“ im Cyberraum (Politische Schwerpunkte der deutschen G7-Präsidentschaft 2022).

Mit großer Sorge verfolgt die deutsche Industrie allerdings die gezielte internationale Verbreitung staatlich getriebener Standards aus China im Rahmen der „Belt and Road Initiative“. Die deutsche Industrie sieht die Gefahr zusätzlicher technischer Handelshemmnisse, die den Marktzugang in Drittstaaten erschweren. Im schlimmsten Fall folgt daraus ein Rückgang der Nachfrage nach deutschen und europäischen Technologien und führt zu einer Schwächung der Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit. Grundzüge einer Strategie zum zukünftigen Umgang mit China zwischen Staat, Wirtschaft und Normungsorganisationen bleibt die Kommission weiterhin schuldig.

Verfrühte Normung kann Innovation verhindern

Die Begleitung von Innovationsprozessen durch Normung ist denkbar, sollte jedoch auch defensiv gehandhabt werden und streng nach den Bedürfnissen des Marktes ausgerichtet sein. Normung kann auf unterschiedliche Weise Innovationen fördern oder beschleunigen, aber durchaus – falls thematisch verfehlt oder verfrüht initiiert – auch innovationshemmend wirken. So liefert der „Standardisation-Booster“ den richtigen Anreiz: Dieser unterstützt Wissenschaftler finanziell, um die Relevanz ihrer Ergebnisse für die Normung zu testen.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Strategie neue Ansätze liefert und das Potenzial hat, den Turbo für den europäischen Normungspower zu zünden. Grundlegende Prinzipien müssen jedoch bei der Umsetzung beachtet werden: Normungspolitik braucht wirtschaftliche Expertise. Zudem sind Normen in erster Linie ein Wettbewerbsinstrument. Es braucht daher Praxisbezug und Erfahrung aus der Industrie und im geopolitischen Wettbewerb projektebezogene Kooperationen zu wichtigen Themengebieten.