Einstufung von Titandioxid für nichtig erklärt
Die Diskussion um die Einstufung von Titandioxid als „krebserzeugend oder vermutlich krebserzeugend“ hat die Chemikalienregulierung und damit auch die europäische Industrie bereits seit 2016 intensiv beschäftigt. Die Industrie hat sich hierbei immer wieder mit fundierten wissenschaftlichen und fachlichen Argumenten gegen die Einstufung von Titandioxid ausgesprochen. Titandioxid findet als Weißpigment aufgrund seiner starken Deckungskraft in zahlreichen Produkten Verwendung (z. B. Lacke, Farben, Kunststoffe, Textilien). Zudem wird es als Zusatzstoff in der Papierherstellung, in der Lebens- und Futtermittelindustrie und in kosmetischen Produkten eingesetzt.
Kritischer Präzedenzfall: Einstufung basiert nicht auf intrinsischen Stoffeigenschaften
Im Rahmen des Einstufungsverfahrens wurde von Seiten der Industrie insbesondere kritisiert, dass mit der Einstufung von Titandioxid erstmals ein Stoff allein auf Basis von allgemeinen Partikeleffekten eingestuft werden sollte. Hierbei wurde immer wieder deutlich gemacht, dass dies nicht den Vorgaben der CLP-Verordnung (Einstufung, Kennzeichnung und Verpackung von Stoffen und Gemischen) entspricht und toxikologisch nicht angemessen ist. Auch zahlreiche Mitgliedstaaten und Experten hatten sich in den Beratungen der zuständigen EU-Gremien gegen die von der EU-Kommission vorgeschlagene Einstufung ausgesprochen. Deutschland hatte im Zuge der Diskussionen dafür plädiert, das Thema im Rahmen des Arbeitsschutzes zu behandeln und einen allgemeinen Staubgrenzwert am Arbeitsplatz EU-weit zu etablieren.
Trotz der umfassenden Kritik der Industrie und der abweichenden Positionierung einiger Mitgliedstaaten wurde Titandioxid 2019 als „vermutlich krebserzeugend beim Einatmen“ eingestuft (Kanzerogen der Kategorie 2, CLP-Verordnung). Seitdem bestand eine Einstufungs- und Kennzeichnungspflicht für pulverförmiges Titandioxid sowie für alle pulverförmigen Produkte, die mindestens ein Prozent Titandioxidpartikel in einer Größe von zehn Mikrometer oder kleiner enthalten. Flüssige und feste Gemische, die mindestens ein Prozent Titandioxidpartikel enthalten, mussten nach Anhang VI der CLP-Verordnung durch einen Warnhinweis gekennzeichnet sein, der die Verbraucher auf das mögliche Entstehen von lungengängigen Tröpfchen bzw. lungengängigen Stäuben hinweist (EUH 211 bzw. EUH 212).
Gegen die Einstufung von Titandioxid wurde 2020 von verschiedenen Herstellern, Händlern und Verbänden geklagt. Das EU-Gericht gab den Klägern nun mit einem richtungsweisenden Urteil recht.
Urteil für nichtig erklärt
In Ihrem Urteil kommen die Richter zu dem Ergebnis, dass bei der Einstufung von Titandioxid offensichtliche Fehler bei der Beurteilung der Zuverlässigkeit von Studien gemacht wurden. Die Entscheidung der EU-Kommission zur Einstufung von Titandioxid basierte – nach Einschätzung des Urteils – auf der Beurteilung einer wissenschaftlichen Studie durch den Ausschuss für Risikobeurteilung (RAC), die nicht auf anerkannten und zuverlässigen Untersuchungen beruhte. Überdies kommen die Richter zu dem Urteil, dass im Rahmen des Einstufungsverfahrens gegen die Anforderung der CLP-Verordnung verstoßen wurde, da sich die Einstufung eines karzinogenen Stoffes nur auf Stoffe mit der intrinsischen Eigenschaft Krebs zu erzeugen, beziehen darf.
Mit dem Urteil wurde die Einstufung von Titandioxid und die Kennzeichnungspflicht für Gemische für nichtig erklärt. Bei dieser Nichtigkeitserklärung handelt es sich um einen bisher einmaligen Vorgang in der europäischen Chemikalienregelung. Auch in zukünftig Einstufungsverfahren wird die EU-Kommission die im Urteil aufgeführten Anforderungen an Studienqualität und Stoffeigenschaften berücksichtigen müssen.
Im Januar 2023 hat der BDI ein Webinar zum Urteil des EU-Gerichts zur Einstufung von Titandioxid durchgeführt. Im Rahmen der Veranstaltung wurden Bedeutung und mögliche Auswirkungen des Urteils umfassend beleuchtet (siehe Präsentationen).
Frankreich und die EU-Kommission legen Rechtsmittel ein
Im Februar 2023 haben sowohl Frankreich als auch die EU-Kommission gegen das Urteil Rechtsmittel eingelegt. Das französische Umweltministerium begründet dieses Vorgehen in seiner Bekanntmachung damit, dass das Europäische Gericht in dem Gerichtsurteil eine eigene Bewertung und Interpretation von wissenschaftlichen Daten vorgenommen hat. Gemäß den französischen Behörden habe das europäische Gericht damit seine gerichtliche Kontrolle überschritten. Damit geht der Rechtsstreit in die nächste Instanz und die Einstufung von Titandioxid wird vor dem Europäischen Gerichtshof entschieden werden. Aufgrund der eingelegten Rechtsmittel bleibt die harmonisierte Einstufung von Titandioxid bestehen.