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EU-Produktrecht – Mehr Harmonisierung oder Rückfall?

Wird der Rechtsrahmen des Binnenmarkts bei Einsatz von delegierten Rechtsakten und Durchführungsrechtsakten über eine zunehmende und rechtsverbindliche Detailregelung durch die Kommission selbst und eine Schwächung der Stellung von harmonisierten EU-Normen wieder in die Phase der starren Regulierung von vor 1985 zurückfallen? Aufkommenden Innovationshindernissen ist im Interesse von Wettbewerbsfähigkeit und Binnenmarkt rechtzeitig zu begegnen.

New Legislative Framework - eine Erfolgsgeschichte

Ab 1969 wurden in der damaligen EWG Harmonisierungsrichtlinien erlassen, die sehr konkrete technische Vorschriften für Produkte enthielten. Die Rechtsharmonisierung ging demgemäß nur schleppend voran und die dynamische Abbildung des technischen Fortschritts war kaum möglich, da die Regulierung mit diesem nicht Schritt halten konnte. Ein fundamentaler Durchbruch und damit ein wirklich offener Binnenmarkt kam 1985 mit dem New Approach, später New Legislative Framework (NLF).

Demgemäß beschränkt sich die EU-Gesetzgebung bei den Vorgaben an ein Produkt auf die Festlegung der grundlegenden Anforderungen, insb. an Sicherheit und Gesundheitsschutz. Die technische Konkretisierung erfolgt durch harmonisierte EU-Normen (hEN). Hersteller können sich auf diese Normen stützen, die im Auftrag der Europäischen Kommission von den drei europäischen Normungsorganisationen (CEN, CENELEC, ETSI) erarbeitet und im EU-Amtsblatt gelistet werden. Die Anwendung von hEN ist wie bei allen Normen grundsätzlich freiwillig. Bei Anwendung von hEN wird vermutet, dass die dort abgedeckten Anforderungen erfüllt sind (sog. Konformitätsvermutung). Die Übereinstimmung mit den gesetzlichen Vorgaben berechtigt zur Anbringung der CE-Kennzeichnung auf dem Produkt, das damit im Binnenmarkt der EU frei vermarktbar ist, ohne dass nationale Anforderungen die Vermarktung einschränken können. Dieser Ansatz brachte hohe Flexibilität und maximale Innovationsoffenheit mit sich, multiplizierte insb. die Marktchancen von KMU und ermöglichte den barrierefreien Handel im Binnenmarkt, wie wir ihn heute kennen.

Neuer Dreiklang – Harmonie oder Dissonanz?

Impulsgeber für die aktuellen Änderungen war eine politische Entscheidung auf EU-Ebene zur Umsetzung der Ziele des Green Deal. Dazu gehören u. a. Vorgaben oder Anreize zur Herstellung und Finanzierung von nachhaltigen Produkten und zur Kommunikation und Berichterstattung hierüber, sowie die Ausweitung und detaillierte Regelung der EPR-Vorgaben (Erweiterte Herstellerverantwortung, Extended Producer Responsibility). Dies dient der stärkeren regulatorischen Steuerung der politisch hoch gewichteten Umwelt- und Nachhaltigkeitspolitik. Der Regulierungsbaukasten nutzt insofern nun auch die Instrumente delegierter Rechtsakt und Durchführungsrechtsakt, die im AEUV (Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union) etabliert wurden.

Fazit

Die zentrale Frage ist nunmehr, ob der Rechtsrahmen des Binnenmarkts bei Einsatz von delegierten Rechtsakten und Durchführungsrechtsakten über eine zunehmende, rechtsverbindliche Detailregelung durch die Kommission selbst und eine Schwächung der Stellung von hEN wieder in die Phase der starren Regulierung von vor 1985 zurückfällt. Vieles wird vom realen Zusammenspiel der drei Bausteine in den jeweiligen Rechtsbereichen abhängen, insbesondere von der jeweiligen Zuordnung statischer und dynamischer Vorgaben für die Produktanforderungen. Nicht auszuschließen ist allerdings eine steigende Bedeutung der unmittelbaren Rechtssetzung und damit eine Verschiebung von der sachverständigen zur politischen Dimension und von dynamischen zu statischen Vorgaben. Daher ist bei der Anwendung dieser Dreierkonstellation aufmerksam zu beobachten, ob sich die Erstarrungsbefürchtungen bestätigen, um in diesem Fall rechtzeitig auf grundsätzliche Korrekturen und funktional kohärente Strukturen hinzuwirken. Aufkommenden Innovationshindernissen ist im Interesse von Wettbewerbsfähigkeit und Binnenmarkt rechtzeitig zu begegnen.