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EU-Strommarktreform: Fit für Netto-Null?

Nach dem Energiekrisenjahr 2022 und fünf Notfallmaßnahmen hat die Europäische Kommission im März 2023 ihren Vorschlag für eine Reform des EU-Strombinnenmarkts auf den Weg gebracht. Deren Grundpfeiler: „Mehr erneuerbare Energien, mehr Verbraucherschutz und mehr Wettbewerbsfähigkeit.“ Kann so der Industriestandort Europa an Attraktivität und strategischer Resilienz gewinnen und die Energiesouveränität gestärkt werden?

„Über zwei Jahrzehnte lang hat die Gestaltung des Strommarktes den europäischen Unternehmen und Verbrauchern gute Dienste geleistet und ihnen die Vorteile des Binnenmarktes zugutekommen lassen“, sagte EU-Energiekommissarin Kadri Simson anlässlich der Vorlage des Reformvorschlags im März 2023. In der Tat hat der liberalisierte Strombinnenmarkt den Bürgerinnen und Bürgern der Europäische Union allein im Jahr 2021 beachtliche Kosteneinsparungen von rund 34 Milliarden Euro gebracht. Doch die Energiekrise, ausgelöst durch Russlands Angriff auf die Ukraine, habe eine Reihe von Mängeln im derzeitigen System aufgezeigt, die die EU-Kommission beheben will. So soll die Reform den Ausbau erneuerbarer Energien beschleunigen, Haushalte und Unternehmen besser vor Preisschwankungen, Preisspitzen und Marktmanipulation schützen und die Rechte der Verbraucher stärken.

An den Grundfesten des bestehenden Marktdesigns, insbesondere der Einschaltreihenfolge der Kraftwerke („Merit Order“) und dem Prinzip der Grenzkostenbepreisung („Marginal Pricing“), will die EU-Kommission allerdings zurecht nicht rütteln. Schließlich waren nicht diese, sondern eine Verknappung des Energieangebots infolge des russischen Gaslieferstopps die Ursache für die außergewöhnlich hohen Großhandelspreisspitzen im vergangenen Jahr.

Mehr erneuerbare Energien für eine erschwingliche Energieversorgung und wettbewerbsfähige Industrie

Um die EU-Klimaziele zu erreichen, müssen sich die erneuerbaren Energien bis 2030 verdreifachen. Massive und zeitnahe Investitionen in ihren Ausbau sind daher entscheidend für das Gelingen der Klima- und Energiewende. Der Reformvorschlag zielt entsprechend darauf ab, den Anteil fossiler Brennstoffe an der Stromerzeugung zu senken. Die niedrigeren Kosten der erneuerbaren Energien sollen auch für die Verbraucher spürbar sein. Gelingen soll dies durch langfristige Verträge mit Preisbindungen bei nichtfossiler Energieerzeugung und Maßnahmen, die flexible Lösungen wie Laststeuerung und Energiespeicherung ermöglichen.

Langfristige Verträge wie Strombezugsverträge (PPAs) sollen einerseits stabile Einnahmen für die Stromerzeuger sicherstellen und Anreize für Investitionen in erneuerbare Energien schaffen. Andererseits sollen sie die Industrie vor Preisschwankungen schützen und weniger preisanfällig machen.

Wollen die Mitgliedstaaten neue Investitionen in kohlenstoffarme und erneuerbare Stromerzeugung über staatliche Beihilfen fördern, so soll dies künftig in Form von zweiseitigen Differenzverträgen erfolgen. Überschussgewinne aus diesen Verträgen sollen die Mitgliedstaaten an die Endverbraucher weitergeben, um deren Stromrechnungen zu senken – eine weitere Maßnahme, um die Preise für die Stromerzeuger zu stabilisieren und die Verbraucher direkter von den niedrigeren Kosten erneuerbarer Energien profitieren zu lassen.

Die Industrie begrüßt, dass die EU-Kommission auf eine Stärkung der Rolle von längerfristigen Lieferverträgen (PPAs) und zweiseitigen Differenzverträgen setzt, um Preisschwankungen einzudämmen und einen Anreiz für Investitionen in saubere Technologien zu geben. Diese Verträge müssen jedoch freiwilliger Natur bleiben und so ausgestaltet werden, dass auch mittelständische Unternehmen sie in Anspruch nehmen können.

Mehr Verbraucherschutz und Consumer Empowerment

Eine breite Auswahl bei den Stromverträgen soll Verbraucher schützen. Sie sollen sowohl langfristige Festpreisverträge als auch risikoreichere Verträge mit dynamischer Preisgestaltung abschließen können. Damit verbunden ist ihr Recht auf mehrere Stromzähler. Außerdem sollen Konsumenten ein Recht auf Energie-Sharing erhalten und beispielsweise überschüssigen Strom aus ihrer Photovoltaikanlage an Nachbarn verkaufen können.

Der Kommissionsentwurf sieht zudem den Ausbau nicht fossiler Flexibilitätsinstrumente wie Laststeuerung und Speicherung vor. Ab 2025 sollen die Mitgliedstaaten alle zwei Jahre Berichte über den Flexibilitätsbedarf ihres Stromsystems erstellen und auf dieser Basis indikative nationale Ziele festlegen. Die Mitgliedstaaten können auch neue Förderungen für Laststeuerung und Speicherung einführen. 

Ausblick: Europa muss als Innovations- und Industriestandort noch attraktiver werden

Es ist gut, dass die Kommission ihre Reform auf den bewährten Fundamenten der EU-Strommarktregulierung – Grenzkostenbepreisung und Merit Order – aufbaut. Damit stellt sie weiterhin sicher, dass günstigere, erneuerbare Energien zuerst zur Deckung der Verbrauchernachfrage herangezogen werden und der grenzüberschreitende Stromhandel zwischen den Mitgliedstaaten in Krisenzeiten angekurbelt wird. Das stärkt sowohl Klimaschutz als auch Energiesouveränität.

Im Sinne der strategischen Resilienz Europas und seiner industriellen Wertschöpfungsketten muss die Politik auf europäischer Ebene jedoch alle Voraussetzungen dafür schaffen, dass die Industrie über wettbewerbsfähige Industriestrompreise international konkurrenzfähig bleiben kann. Europa muss als Innovations- und Industriestandort im globalen Vergleich deutlich attraktiver werden.

Der Kommissionsvorschlag ist keine Notfallmaßnahme. Das Europäische Parlament und der Rat der Europäischen Union sollen ihn „so schnell wie möglich“ als regulären Gesetzgebungsvorschlag im ordentlichen Verfahren verhandeln. Die Kommission setzt dabei auf eine Einigung im Herbst noch vor dem Start der nächsten Heizperiode.