Frankreich übernimmt Ratspräsidentschaft: „Die Wirtschaft erwartet konkrete Ergebnisse“
In Frankreich stehen die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen an. Welche Rolle spielen Europa und die französische Ratspräsidentschaft im Wahlkampf?
Frankreich befindet sich in einer außergewöhnlichen politischen Lage mit zwei entscheidenden Wahlterminen während der Ratspräsidentschaft: die Präsidentschaftswahlen am 10. und 24. April, gefolgt von den Parlamentswahlen am 12. und 19. Juni. Als unerwartete Folge des Brexit und der Covid-19-Pandemie sind die Forderungen nach einem Austritt Frankreichs aus der EU (sog. Frexit) beziehungsweise aus der Eurozone verstummt. Die Wahlkämpfer erkennen die Errungenschaften Europas an und ringen um die besten Reformrezepte. Europa und die französische Ratspräsidentschaft stehen nicht im Mittelpunkt der politischen Auseinandersetzung. Zentrale Wahlkampfthemen wie Energiepreise, Migration, Souveränität, der ökologische Wandel der Wirtschaft, Bildung oder der Schutz vor externen Bedrohungen erfordern jedoch europäische Lösungen.
Was kann die Wirtschaft von der aktuellen französischen EU-Ratspräsidentschaft erwarten?
Die Wirtschaft erwartet konkrete Ergebnisse. Die Empfehlung der Reflexionsgruppe, die die Regierung eingesetzt hat, war eindeutig: Frankreich solle die Präsidentschaft eher im Geiste von Robert Schuman als von Victor Hugo durchführen, d.h. konkrete Fortschritte statt großer Visionen. Selbstverständlich braucht Frankreich eine umfassende Vision für die Zukunft Europas, die einen Wachstumspfad hin zu einer dekarbonisierten Wirtschaft aufzeigen muss. Bei der Präsidentschaft geht es jedoch vorrangig darum, dass Frankreich als realistischer und ehrlicher Makler die wichtigsten EU-Gesetzgebungsverfahren voranbringt und dabei die Wettbewerbsfähigkeit unserer Unternehmen fest im Blick behält.
Was sind die Prioritäten des französischen Arbeitgeberverbands für die Ratspräsidentschaft?
MEDEF hat drei Prioritäten für die Ratspräsidentschaft: Wir wollen
- ein wettbewerbsfähiges, dekarbonisiertes Europa, das seine Souveränität stärkt; dafür muss die EU bei folgenden Gesetzgebungsverfahren vorankommen: CO2-Grenzausgleichmechanismus, Gesetze für digitale Dienste und Märkte, Schutz vor Zwangsmaßnahmen von Drittländern, Instrument für das internationale Beschaffungswesen, Chips Act und Umsetzung der globalen OECD-Vereinbarung über eine Neuverteilung der Besteuerungsrechte und eine Mindeststeuer;
- ein effizientes Europa, das jegliche legislative Belastung für Unternehmen vermeidet und
- ein Europa, das die Bürger besser mit dem europäischen Projekt verbindet.
Was ist die wichtigste europapolitische Erwartung der französischen Arbeitgeber an die neue deutsche Bundesregierung?
Deutschland kommt in den nächsten Monaten eine Schlüsselrolle zu – im Rahmen der G7-Präsidentschaft und in der EU. Die französische Wirtschaft erwartet vor allem, dass die neue deutsche Bundesregierung sich weiterhin aktiv in der EU engagiert. Die Länder Europas stehen vor großen Herausforderungen, die eine starke und kohärente europäische Antwort erfordern. Nur gemeinsam können wir den ökologischen Wandel gestalten, die Energiekosten eindämmen, strategische Autonomie etwa im Gesundheitsbereich oder in der Halbleiterindustrie erlangen, die beruflichen Kompetenzen von morgen erwerben, internationale Spannungen abbauen und die Migrationsfrage lösen.
Was ist Ihre persönliche Vision für die Zukunft der EU?
Die Zukunft Europas hängt nicht von einem neuen institutionellen Rahmen oder dem einen großen politischen Wurf ab. Entscheidend kommt es auf unsere gemeinsame Fähigkeit an, eine starke Industrie und Arbeitsplätze in Europa zu entwickeln, die die Voraussetzung für die Verwirklichung des Europäischen Modells bilden. Europa wieder stark machen, das sollte unser Motto sein.