Joana Valente © Joana Valente

Portugiesische EU-Ratspräsidentschaft: „Jetzt darf es kein Business as usual geben“

„Die Übernahme der EU-Ratspräsidentschaft in der Corona-Krise bedeutet eine große Verantwortung“ sagt Joana Valente. Sie leitet seit 2019 das Verbindungsbüro des portugiesischen Arbeitgeberverbandes „Confederação Empresarial de Portugal (CIP)“ in Brüssel und spricht im Interview über die EU-Ratspräsidentschaft Portugals, die Auswirkungen der Corona-Krise auf die portugiesische Wirtschaft und die Erwartungen an die nächste deutsche Bundesregierung. 

Wie beurteilen Sie die wirtschaftliche Lage in Portugal?

Die portugiesischen Unternehmen haben der Pandemie erfolgreich die Stirn geboten und viele Arbeitsplätze gesichert. Hinter uns liegt jedoch ein hartes Jahr. Die meisten Unternehmen haben ihre Reserven aufgebraucht und kämpfen ums Überleben. Leider ist die Unterstützung für Unternehmen in Portugal unzureichend und liegt weit unter dem Niveau der meisten EU-Mitgliedsstaaten. Wenn die Beschäftigung aufrechterhalten und die grüne und digitale Transformation der Wirtschaft gelingen soll, braucht Portugal Unternehmen, die nicht nur überleben, sondern auch investieren und Innovation vorantreiben können. Das europäische Wiederaufbauprogramm und die EU-Fonds bieten eine große Chance. Jetzt darf es kein Business as usual geben. 

Was kann die Wirtschaft von der aktuellen portugiesischen EU-Ratspräsidentschaft erwarten?

Die Übernahme der EU-Ratspräsidentschaft in der Corona-Krise bedeutet eine große Verantwortung. In den ersten drei Monaten der Ratspräsidentschaft ist es Portugal gelungen, in schwierigen Dossiers – beispielsweise im digitalen Bereich – voranzukommen und mehrere Gesetzgebungsverfahren abzuschließen, sodass die Programme des mehrjährigen EU-Finanzrahmens 2021-2027 starten können. Bei so vielen Dossiers ist es jedoch wichtig, dass die Ratspräsidentschaft ihre Ressourcen auf diejenigen konzentriert, die einen besonders positiven Einfluss auf die Stärkung der EU haben. Alle Maßnahmen im Bereich der europäischen Sozialpolitik sollten unter voller Berücksichtigung des europäischen sozialen Dialogs entwickelt werden.

Was sind die drei wichtigsten europapolitischen Prioritäten des portugiesischen Arbeitgeberverbands?

1. Eine kohärente wirtschaftliche Wiederaufbaustrategie lancieren und umsetzen: Dies beinhaltet den nationalen Aufbau- und Resilienzplan sowie eine moderne Strategie zur Verwendung der EU-Strukturfonds. Diese beiden Politiken sollten vollständig aufeinander abgestimmt und auf strategische und einfache Weise entwickelt werden, um das noch nie dagewesene Maß an verfügbaren Finanzmitteln optimal zu nutzen.

2. Die wirtschaftliche Agenda in den Mittelpunkt der EU-Politik stellen: Europa braucht eine starke Wirtschaft, die sich auf widerstandsfähige und innovative Unternehmen stützt. Dies ist Voraussetzung dafür, dass Europa die grüne und digitale Transformation mit einem soliden europäischen Sozialmodell meistern kann.

3. Eine ehrgeizige internationale Agenda entwickeln, die Protektionismus ablehnt: Die EU-Handelsagenda muss weiterentwickelt, Protektionismus bekämpft und wichtige Handelsabkommen vorangetrieben werden.

Was ist die wichtigste europapolitische Erwartung der portugiesischen Arbeitgeber an die nächste deutsche Bundesregierung? 

Die deutsche Politik wird mit dem Ende der Kanzlerschaft von Angela Merkel einen tiefen Wandel durchlaufen. Die europäischen Partner erwarten, dass Deutschland treibende Kraft des europäischen Integrationsprozesses bleibt - gerade in den schwierigen Jahren nach der Corona-Krise mit vielen disruptiven Veränderungen. Angesichts der intensiven Einbindung deutscher Unternehmen in globale Wertschöpfungsketten sollte Deutschland weiterhin einen entscheidenden Beitrag sowohl zum wirtschaftlichen Zusammenhalt der EU als auch zur Weiterentwicklung einer offenen, nachhaltigen und durchsetzungsfähigen europäischen Handelspolitik leisten. Dabei stellen die bilateralen Beziehungen der EU zu den USA, China, Afrika und den Mercosur-Staaten eine besondere Herausforderung dar. 

Was ist Ihre persönliche Vision für die Zukunft der EU?

Die Europäische Union funktioniert nicht problemfrei. Ihre Schwächen sind in den letzten Jahren immer wieder deutlich geworden. Dennoch gilt: In einem Prozess von „trial and error“ entwickeln wir Europa weiter. Die diversen Krisen der letzten Jahre haben gezeigt, dass wir gemeinsam stärker sind. Die Europäische Union ist das wohl mutigste und bedeutendste politische Projekt aller Zeiten. Die EU ist ein Friedensprojekt und steht für Werte, die es zu bewahren und verteidigen lohnt.