Interview

© Charlotte Andersdotter/Svenskst Näringsliv

Schwedische Ratspräsidentschaft: „Die EU braucht eine Strategie für dauerhafte Wettbewerbsfähigkeit“

„Neben Krisenmanagement braucht Europa eine strategische Agenda, die sich auf Wettbewerbsfähigkeit konzentriert“, fordert Charlotte Andersdotter. Sie leitet seit 2021 das Verbindungsbüro des führenden schwedischen Wirtschaftsverbands „Svenskt Näringsliv“ in Brüssel und spricht im Interview über die schwedische EU-Ratspräsidentschaft, Erwartungen an Deutschland und die Folgen des Kriegs in der Ukraine.

Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine führt zu schwerem menschlichen Leid, einer großen Sicherheitskrise und wirtschaftlichem Schaden in Europa. Wie sind die schwedischen Unternehmen von dem Krieg betroffen?

Insgesamt ist die schwedische Wirtschaft nicht besonders von Russland oder der Ukraine abhängig. Etwa ein Prozent der Ausfuhren gehen nach Russland und ein noch geringerer Prozentsatz in die Ukraine. Gleichzeitig sind viele Unternehmen von den höheren Transportpreisen betroffen oder weil sie keinen Zugang zu bestimmten Rohstoffen, wie z. B. Metallen, haben, die nur in diesen Ländern erhältlich sind.

Zudem hat der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine gezeigt, dass die Industrie, Schweden und der Rest Europas in Bereichen wie der Energieversorgung verwundbar sind. Die Ungewissheit über die Entwicklung der chinesischen Sicherheits- und Handelspolitik trägt ebenso zur Unsicherheit bei wie der Klimawandel, der die Transportsysteme in Europa beeinträchtigt. Die während der Pandemie entstandenen – und zum Teil noch andauernden – Unterbrechungen der Lieferketten werden nun durch den Krieg in der Ukraine verschärft. All diese Faktoren zusammen führen zu einer hohen Inflation und steigenden Preisen.

Was erwarten die schwedischen Unternehmen von der EU, um die Krise zu überstehen?

Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine, die anhaltende Energiekrise, die steigenden Inflationsraten und der Druck auf die europäischen Volkswirtschaften werden den schwedischen Ratsvorsitz prägen. Das vielleicht wichtigste Thema für die europäischen Unternehmen ist die Fähigkeit, diese Krisen zu bewältigen.

Eine gesunde und wettbewerbsfähige europäische Wirtschaft ist eine grundlegende Voraussetzung dafür, dass wir die Ukraine nachhaltig unterstützen und die weiteren Krisen meistern können. Neben Sicherheit und Klimawandel hat Ministerpräsident Ulf Kristersson im Rahmen der schwedischen EU-Erklärung vom 16. November 2022 die Wettbewerbsfähigkeit Europas als dritten wichtigen Bereich für die Zusammenarbeit hervorgehoben. Es ist wichtig, dass diese Erkenntnisse und Ambitionen in konkrete Maßnahmen gegossen werden. In erster Linie muss es darum gehen, die aktuellen Krisen zu bewältigen, aber es sollte auch eine längerfristige Strategie für ein wettbewerbsfähigeres Europa zum Ausdruck kommen.

Wir haben klare Erwartungen: Es geht darum, die fossilfreie Energieversorgung Europas zu sichern und die Unternehmen in die Lage zu versetzen, die Energiekrise zu bewältigen. Der Binnenmarkt sollte gestärkt und die Wettbewerbsfähigkeit Europas verbessert werden. Es sollten günstige Bedingungen für Unternehmen geschaffen werden, um die grüne und digitale Transformation voranzutreiben. Zudem brauchen europäische Unternehmen gut funktionierende Regeln, damit sie im Bereich Forschung und Entwicklung auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig sind.

Was sind die drei wichtigsten Prioritäten Ihrer Organisation im Hinblick auf die Ratspräsidentschaft?

Erstens sollte die schwedische Ratspräsidentschaft die grüne und digitale Transformation fördern. Um die ehrgeizigen EU-Klimaziele zu erreichen - die der schwedische Unternehmerverband unterstützt - müssen künftige Maßnahmen wachstumsorientiert ausgestaltet werden. Die Industrie muss die bestmöglichen Bedingungen erhalten, um die technologische Entwicklung weiter voranzutreiben. Technologischer Protektionismus sollte vermieden, technologische Kapazitäten gefördert und ein Gleichgewicht zwischen Innovation, Integrität und Transparenz hergestellt werden.

Zweitens sollte während der Ratspräsidentschaft der Binnenmarkt gestärkt und vertieft werden und die EU eine globale Führungsrolle im Freihandel übernehmen. Die europäische Wettbewerbsfähigkeit beruht auf einem starken Binnenmarkt, der die Koordinierung und Transparenz zwischen den Mitgliedstaaten fördert. Ein Bereich, in dem der Binnenmarkt ungenutztes Potenzial aufweist, ist der Dienstleistungssektor. Der internationale Handel ist entscheidend für den schwedischen Wohlstand. Damit dieser funktioniert, brauchen wir berechenbare und transparente Regeln, die Offenheit garantieren.

Drittens sollte die Ratspräsidentschaft Forschungs- und Entwicklungstätigkeiten der Unternehmen unterstützen. Forschung und Entwicklung bilden eine essenzielle Grundlage für Wettbewerbsfähigkeit. Öffentliche Mittel in Forschungsprojekte für Zukunftstechnologien zu investieren, die aus politischen Gründen ausgewählt wurden, ist jedoch nicht der richtige Weg. Stattdessen sollte der öffentliche Sektor gut durchdachte Regeln schaffen, die es den Unternehmen ermöglichen, unter gleichen Bedingungen miteinander zu konkurrieren und die bestmöglichen technischen Lösungen zu entwickeln.

Was ist die wichtigste Erwartung Ihrer Organisation an Deutschland in Bezug auf die EU-Politik?

Deutschland hat vor kurzem Norwegen als größten Markt für schwedische Exporteure überholt. Rund 1.800 schwedische Unternehmen sind auf dem deutschen Markt tätig. Im Jahr 2020 wurden deutsche Waren im Wert von fast 250 Milliarden schwedische Kronen nach Schweden importiert. Die deutsch-schwedische Zusammenarbeit erstreckt sich über Hunderte von Jahren und findet auf verschiedenen Ebenen statt.

Als größte Volkswirtschaft Europas – und drittgrößte der Welt – spielt die deutsche Wirtschaft eine wichtige Rolle für den Handel und die globale Entwicklung. Ein starkes und erfolgreiches Deutschland könnte andere Länder und die EU in die richtige Richtung lenken. Wir würden es gerne sehen, wenn Deutschland auf mehr Freihandelsabkommen mit Ländern außerhalb der EU drängen würde, um sich zu diversifizieren und unsere Abhängigkeit von einigen wenigen Lieferanten zu verringern.

Neben Krisenmanagement braucht Europa eine strategische Agenda, die sich auf Wettbewerbsfähigkeit konzentriert. Eine Strategie, die nicht nur eine Reaktion auf aktuelle äußere Entwicklungen ist, sondern die sich auf die Perspektive der kommenden fünf bis zehn Jahren konzentriert. Und während kurzfristige Entscheidungen als Teil des Krisenmanagements notwendig sind, verlassen wir uns darauf, dass Deutschland sicherstellt, dass solche Maßnahmen die langfristige Wettbewerbsfähigkeit nicht untergraben. Eine Strategie für dauerhafte Wettbewerbsfähigkeit in der EU kann nur auf Maßnahmen beruhen, die der Steigerung der Produktivität dienen. Eine produktivitätssteigernde Agenda sollte uns als Richtschnur dienen, und wir vertrauen darauf, dass Deutschland diesen Ansatz unterstützen wird.

Was ist Ihre persönliche Vision für die Zukunft der EU?

Die EU ist Schwedens größter Markt sowohl für Exporte als auch für Importe. Unsere Unternehmen – mit einem kleinen schwedischen Markt – konnten im großen EU-Binnenmarkt wachsen. Sie haben vom freien Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Menschen und Kapital profitiert. Der Binnenmarkt ist in vielerlei Hinsicht zum großen „sicheren Heimatmarkt“ der schwedischen Unternehmen geworden.

Die Wettbewerbsfähigkeit der EU ist eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass schwedische Unternehmen sich etablieren und wachsen können, aber auch für unseren Wohlstand in Schweden. Der Verband schwedischer Unternehmen war immer ein starker Befürworter der europäischen Zusammenarbeit. Wie viele andere Akteure spüren wir ein gewisses Unbehagen über die Entwicklung der europäischen Regulierung, die in einigen Bereichen zu mehr bürokratischen Belastungen führt, anstatt Hindernisse für Waren, Dienstleistungen, Menschen und Innovationen zu beseitigen. Es gibt auch Stimmen, die sagen, dass immer mehr Mitgliedstaaten eine Art europäischen Protektionismus schaffen wollen, der auf lange Sicht der europäischen Wettbewerbsfähigkeit nicht zuträglich wäre. Europa muss nicht durch Mauern geschützt werden.

Europa muss gestärkt werden. Damit die EU erfolgreich arbeiten kann, ist es wichtig, dass Frankreich und Deutschland zu einer Einigung kommen. Doch viel zu oft findet der Dialog mit den anderen 25 Mitgliedstaaten erst statt, wenn Deutschland und Frankreich bereits einen gemeinsamen Vorschlag haben. Europa ist von Vielfalt geprägt. Das ist ein Teil der Herausforderung bei der Entscheidung, welchen Weg die EU in Zukunft gehen soll. Aber es kann auch eine Stärke sein, wenn wir genau diese Vielfalt zulassen, die die EU bereichert und gleichzeitig das gemeinsame Fundament für die Entwicklung der EU bildet.