Sechs Monate deutsche Krisenpräsidentschaft: Ein Rückblick
Die EU stand 2020 bereits ohne Covid-19 vor großen Herausforderungen. Zum einen mussten die Verhandlungen zum nächsten Mehrjährigen Finanzrahmen zum Abschluss gebracht werden, damit der EU-Haushalt rechtzeitig 2021 in Kraft treten konnte. Außerdem musste das künftige Verhältnis mit dem Vereinigten Königreich geklärt werden – hier galt es für die Präsidentschaft vor allem, die Einheit der EU-Staaten gegenüber Großbritannien zu wahren. Und schließlich noch die vielen anderen Baustellen, die eine starke Präsidentschaft forderten: Handelskonflikte mit den USA und China, außenpolitische Verwerfungen mit Russland und der Türkei, Umsetzung des Green Deal und der Digitalstrategie, EU-Erweiterung in den Westbalkan – kurzum: die Liste mit Arbeitsaufträgen und Erwartungen an Berlin war lang.
Doch dann kam Covid-19. Ab Mitte März 2020 verhängten die Regierungen der europäischen Mitgliedsstaaten nationale Lockdowns, schlossen sogar für einige Zeit lang die Grenzen. Zunächst hatte man in Brüssel und Berlin gehofft, im Laufe der Monate zu etwas mehr Normalität zurückkehren zu können. In der Realität bleibt die Arbeitsfähigkeit der EU-Institutionen jedoch bis zum jetzigen Zeitpunkt aufgrund von verpflichtendem Teleworking und limitierten technischen Kapazitäten für die Beratungs- und Abstimmungsprozesse im Rat und Parlament weiterhin eingeschränkt.
Die Bundesregierung war daher gezwungen, ihre Zielsetzungen für die Präsidentschaft anzupassen und die Schwerpunkte für ihr Arbeitsprogramm neu zu priorisieren. Das oberste Ziel war zunächst die unmittelbare Krisenbewältigung sowie der EU-Haushalt samt Aufbauplan. Danach wurden jenen Dossiers Vorrang eingeräumt, die rechtlich verpflichtend bis Ende 2020 behandelt werden mussten. Die Umsetzung der Gestaltungsschwerpunkte der ursprünglichen Programmplanung wurde schließlich von der Verfügbarkeit der notwendigen Ressourcen abhängig gemacht. Notfalls sollte versucht werden, geplante Vorhaben im Rahmen der Trio-Präsidentschaft mit Portugal und Slowenien nach 2020 noch umzusetzen.
Historisches EU-Finanzpaket als großer Erfolg
Zunächst gelang Deutschland ein großer Durchbruch. Nachdem Bundeskanzlerin Merkel und der französische Präsident Macron in ihrem Treffen auf Schloss Meseberg erstmals den Weg zu einer gemeinsamen Verschuldung der EU frei gemacht hatten, konnte die Kanzlerin auf dem anschließenden EU-Gipfel im Juli die notwendige Zustimmung der anderen EU-Länder zu einem historischen Finanzpaket von 1,8 Billionen Euro sichern – davon 1074 Milliarden Euro für den nächsten siebenjährigen Haushaltsrahmen und 750 Milliarden Euro für ein Konjunktur- und Investitionsprogramm gegen die Folgen der Pandemie-Krise.
Der weitere Weg würde sich jedoch als steinig erweisen. Zunächst blockierte das Europäische Parlament den Kompromiss der EU-Staaten und forderte Nachbesserungen im Bereich der Forschungsausgaben sowie die Präzisierung der Rechtsstaatlichkeitskonditionalität für die Vergabe von EU-Mitteln. Eine Einigung konnte mit dem EU-Parlament schließlich erzielt werden, woraufhin nur noch eine Verabschiedung der EU-Regierungschefs fehlte. Diese scheiterte allerdings zunächst am Veto Ungarns und Polens, die sich vehement gegen den Rechtsstaatlichkeitsmechanismus stellten. Nach intensiven Verhandlungen gelang es der Bundesregierung aber schließlich im Dezember, einen Kompromiss auszuhandeln, der den Verordnungstext des Rechtsstaatsmechanismus unverändert lässt, den Bedenken Polens und Ungarns jedoch durch zusätzliche Erklärungen Rechnung trägt und somit einen Abschluss des MFR und des Aufbauprogramms noch unter deutscher Präsidentschaft ermöglichte – ein großer Erfolg.
Zusammenhalt der EU gegenüber Großbritannien gewahrt
Auch die Verhandlungen mit dem Vereinigten Königreich erwiesen sich alles andere als einfach. Dies lag jedoch weniger an der Ratspräsidentschaft als an der Blockadehaltung Londons in wichtigen Fragen wie der zukünftigen Regelung staatlicher Beihilfen und gleicher Wettbewerbsbedingungen für Unternehmen, dem Zugang europäischer Fischer zu britischen Gewässern und der Frage der Streitschlichtung im Konfliktfall. Zwar konnten die Verhandlungen trotz mehrmalig drohender Aufkündigung durch den britischen Premier Boris Johnson bis zuletzt fortgeführt werden – auch über die zuletzt gesetzte Deadline hinaus. Doch selbst wenn ein Deal noch gelingen sollte, wird dieser wohl alles andere als großer Erfolg gelten können. Für die Bundesregierung ist immerhin festzuhalten, dass ihre Präsidentschaft den Zusammenhalt der EU-Staaten gegenüber London bis zuletzt wahren konnte.
Wirtschaftspolitische Sacharbeit im Hintergrund
In Anbetracht dieser Umstände kann es nicht verwundern, dass die sonstige wirtschaftspolitische Sacharbeit etwas in den Hintergrund geriet. Zwar konnte die Arbeit an laufenden Dossiers wie dem äußerst ambitionierten Klimagesetz (auch hier mit einer Einigung der Mitgliedstaaten im Dezember), der Aufrechterhaltung des Binnenmarkts oder der Reform der Exportkontrolle weitergeführt werden. Im Bereich der Handelspolitik hingegen – Stichwort Freihandelsabkommen mit den Mercosur-Staaten – konnte die deutsche Präsidentschaft die in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllen. Dass es letztendlich nicht gelang, das Mercosur-Abkommen unter deutscher Führung zu unterzeichnen, während in Asien mit RCEP gleichzeitig die größte Freihandelszone der Welt entsteht, ist aus Sicht der deutschen Industrie besonders bedauernswert. Hier wäre eine eindeutigere Positionierung Berlins zugunsten des Abkommens wünschenswert gewesen.
Positiv hervorzuheben sind hingegen die im November 2020 unter deutscher Federführung verabschiedeten Schlussfolgerungen des Wettbewerbsfähigkeitsrates zur EU-Industriepolitik. Einem zentralen Anliegen des BDI, die Stärkung der industriellen Wettbewerbsfähigkeit zu einem gleichrangigen Politikziel neben Klimaschutz und Digitalisierung zu machen, wird Rechnung getragen. Die EU-Kommission wird zudem aufgefordert, bis März 2021 Leistungsindikatoren für die Überwachung der Umsetzung der EU-Industriestrategie zu erarbeiten, die einen Vergleich der industriellen Wettbewerbsfähigkeit im globalen Kontext ermöglichen. Auch dies war eine zentrale Forderung des BDI.
Schließlich konnte Deutschland auch im Bereich der Digital- und Innovationspolitik einen wichtigen Akzent setzen. Gegen anfänglichen Widerstand einer Reihe von EU-Staaten ist es gelungen, Ratsschlussfolgerungen zur Schaffung sogenannter europäischer Reallabore zu verabschieden. Diese könnten es fortan ermöglichen, neue innovative Produkte und Dienstleistungen, für die noch kein allgemeingültiger EU-Rechtsrahmen existiert, in EU-weiten Pilotprojekten unter realen Bedingungen zu testen, um daraus passende regulatorische Lösungen abzuleiten und dadurch die Innovationsfähigkeit der EU zu erhöhen.