Standortwettbewerb annehmen und vor der eigenen Haustür kehren!
Wie steht es im Spätsommer 2023 um den Wirtschaftsstandort Deutschland?
Der Standort Deutschland ist stark unter Druck, er kann im internationalen Wettbewerb kaum mithalten. Zahlen und Bewertungen internationaler Organisationen – etwa EU oder OECD – zur konjunkturellen Entwicklung und zu strukturellen Herausforderungen ernüchtern.
Jenseits von Wachstumsschwäche besteht überall das gleiche Bild: zu hohe Kosten für Energie und Arbeit, zu viel Belastung durch Bürokratie und zähe Verfahren bei Planung und Genehmigung, zu wenig Arbeits- und Fachkräfte, immer mehr marode oder fehlende Infrastrukturen bei Verkehr, IT oder Energie.
Kein Wunder, dass selbst standorttreue Mittelständler über andere Standorte nachdenken oder schon auf dem Weg sind. Ein Ergebnis aus einer BDI-Umfrage im industriellen Mittelstand in Frühsommer 2023 war: 16 Prozent der befragten Unternehmen sind aktiv dabei, Teile der Produktion und Arbeitsplätze ins Ausland zu verlagern. Fast ein Drittel (30%) denkt darüber nach. Neue Investitionen im Ausland planen Unternehmen vor allem in der EU (29%) und in Nordamerika (20%).
Was ist zu tun, damit möglichst viele Unternehmen in Deutschland bleiben?
Es gilt den internationalen Standortwettbewerb anzunehmen und vor der eigenen Haustür zu kehren. Wir können nichts daran ändern, dass die USA einen attraktiven und unkomplizierten Rahmen für Unternehmertum bietet (Stichwort IRA). Wir können nichts daran ändern, dass die meisten Wachstumsmärkte in Asien sind.
Wir können aber viel an Deutschland ändern, wenn wir Kräfte für mehr Wachstum entfesseln und die oben genannten strukturellen Herausforderungen lösen. Dabei geht es nicht nur darum, Dinge mehr oder minder vordringlich zu machen. Es geht auch darum, politische Zielkonflikte etwa auf dem Feld Klima / Energie / Verkehr verlässlich aufzulösen. Unternehmen brauchen wieder langfristige und belastbare Planungssicherheit für nachhaltige Investitionen in Deutschland.
Mal in Gesamtschau: setzt die Politik momentan die richtigen Schwerpunkte?
Die Ampel hat sich im Koalitionsvertrag allerhand vorgenommen, viel davon ist in Arbeit. Manches läuft geräuschlos, manches steht in lebhafter Diskussion. Aus meiner Sicht ist die Halbzeitbilanz der Bundesregierung sehr durchwachsen. Mehr Fokus auf Investitionen, Wachstum und Beschäftigung in Deutschland könnte helfen, vor Ort und in der Breite neue Perspektiven und mehr Zuversicht zu schaffen.
Dabei hat die Bundesregierung inzwischen offenbar verstanden, dass die Wirtschaft unter teilweise existenziellem Druck ist. Denn egal ob Stimmung oder Aussicht: was ich aus vielen Unternehmen höre ist tendenziell negativ. Was wir sehen sind konjunkturelle Schwäche, zurückgehende Produktion, schwacher Auftragseingang, strukturelle Herausforderungen am Standort und noch dazu Orientierungsschwäche in der Politik. Dieser toxische Cocktail fordert Unternehmen aller Größen, Branchen und Regionen.
Was auf der Kabinettsklausur Ende August in Meseberg beschlossen wurde, geht in die richtige Richtung, reicht aber bei Weitem nicht aus. Nötig ist ein echter Kurswechsel in der Wirtschaftspolitik, der den Standort stärkt. Die Politik wird daran gemessen, was spürbar im unternehmerischen Alltag ankommt.
Ist der industrielle Mittelstand in Deutschland in Gefahr? Und was bedeutet das in Perspektive?
Durch die schwierigen Standortbedingungen ist nicht nur der industrielle Mittelstand an sich gefährdet. Gefährdet ist das „Geschäftsmodell Deutschland“ – nämlich dass große, mittlere und kleine Unternehmen in dynamischen Wertschöpfungsverbünden attraktive Lösungen entwickeln, die auch auf den Weltmärkten nachgefragt werden.
Wenn der unternehmerische Mittelstand vor Ort erodiert, ribbelt das langsam aber spürbar den regional und sektoral bunten Teppich auf, auf dem innovative Wertschöpfung in Deutschland steht. Übrigens: Wenn in der Fläche attraktive Arbeitsplätze, gute private Einkommen und verlässliche Steuereinnahmen verloren gehen, sind auch soziale Stabilität, gesellschaftlicher Zusammenhalt und politische Toleranz gefährdet. Das kann niemand wollen.