Jana Hartman Radová leitet seit 2015 das Brüsseler Büro des tschechischen Verbandes SPCR © Jana Hartman

Tschechische Ratspräsidentschaft: „Die EU sollte ihre Politik einem Realitätscheck unterziehen“

„Angesichts der aktuellen Krisensituation darf es eine EU-Politik nach dem Motto Business as usual und Rechtsunsicherheit nicht geben“, fordert Jana Hartman Radová. Sie leitet seit 2015 das Brüsseler Büro des einflussreichsten tschechischen Industrieverbands Svaz průmyslu a dopravy České republiky (SPCR) und spricht im Interview über die anstehende EU-Ratspräsidentschaft Tschechiens, Erwartungen an Deutschland und die Folgen des Ukrainekriegs für die tschechische Wirtschaft.

Was erwarten die Unternehmen von der tschechischen Ratspräsidentschaft?

Tschechien übernimmt die EU-Ratspräsidentschaft in einer Situation, in der Europa nicht nur mit den Auswirkungen der COVID-19-Pandemie, sondern auch mit den Folgen des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine zu kämpfen hat. Die Erwartungen der Unternehmen sind hoch. Sie setzen darauf, dass die tschechische Präsidentschaft ihren Schwerpunkt unter anderem auf die Unterstützung der Ukraine und die Bewältigung der wirtschaftlichen Folgen des Krieges in Europa legt. Zudem müssen die mittel- und langfristigen EU-Politiken an die neue Realität angepasst werden.

Es ist gut zu sehen, dass sich die politischen Prioritäten der Unternehmen und der Regierung in Tschechien stark überschneiden. In den Bereichen Handel oder Binnenmarkt wird dies besonders deutlich. Die Unternehmen erwarten, dass die tschechische Präsidentschaft eine ehrgeizige Handelsagenda und eine enge Zusammenarbeit mit Partnern wie den USA unterstützt, die unsere Werte teilen. Ferner sollte sich Tschechien mit Nachdruck dafür einsetzen, dass Hindernisse im Binnenmarkt endlich beseitigt und die Digitalisierung beschleunigt wird.

Kurzum Tschechien hat die einmalige Chance, wichtige Themen voranzubringen und zu zeigen, dass es ein konstruktives Mitglied der EU ist. Ich hoffe, dass Tschechien diese Gelegenheit in vollem Umfang nutzen wird.

Welches sind die drei wichtigsten Prioritäten Ihrer Organisation im Hinblick auf die Ratspräsidentschaft?

Der tschechische Industrieverband hat drei Prioritäten für die tschechische Präsidentschaft:

  1. Ein resilientes und gleichzeitig offenes Europa: Dafür muss die offene strategische Autonomie der europäischen Industrie, ihre Widerstandsfähigkeit und Diversifizierung vorangetrieben werden. Es braucht eine ehrgeizige EU-Handelspolitik und einen wirksamen Multilateralismus.
  2. Ein resilientes und gleichzeitig nachhaltiges Europa: Wir fordern einen schrittweisen Weg zu einer klimaneutralen EU, der die Auswirkungen auf die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie berücksichtigt. Wir sprechen uns für eine weitere Vertiefung des Binnenmarkts aus und fordern mehr Wettbewerbsfähigkeit, Wachstum und Digitalisierung in Europa.
  3. Ein dynamischer europäischer Arbeitsmarkt: Der tschechischen Industrie ist ein integrativer, flexibler und dynamischer Arbeitsmarkt wichtig. Deshalb setzen wir uns für einen vorhersehbaren Rechtsrahmen, die Achtung der Vielfalt und die Verringerung der administrativen Schwierigkeiten auf dem europäischen Arbeitsmarkt ein.

Was ist die wichtigste Erwartung Ihrer Organisation an Deutschland in Bezug auf die EU-Politik?

Europa muss seine Abhängigkeiten verringern und Bezugsquellen diversifizieren. Deshalb ist es für die EU so wichtig, neue Handels- und Investitionsmöglichkeiten für europäische Unternehmen in Drittmärkten zu sichern. Zudem muss die Zusammenarbeit mit gleichgesinnten Partnern wie den USA vertieft werden. In diesem Zusammenhang erwarten wir von Deutschland, dass es eine ehrgeizige EU-Handelspolitik unterstützt und sich für eine Beschleunigung laufender Handelsverhandlungen beispielsweise mit Australien oder Neuseeland sowie eine rasche Ratifizierung bereits ausgehandelter Abkommen einsetzt.

Deutschland ist ein wichtiger Industriestandort. Wir setzen darauf, dass sich die Bundesregierung der Bedeutung einer starken Industrie für Wachstum und Beschäftigung bewusst ist und eine ökologische Transformation unterstützt, die wirtschaftlich und sozial tragfähig ist.

Die Vertiefung des Binnenmarkts und die Beschleunigung der Digitalisierung sind entscheidend für die wirtschaftliche Entwicklung Europas. Wir erwarten, dass sich Deutschland für eine Regulierung der digitalen Wirtschaft einsetzt, die Innovation und digitalen Wandel nicht behindert.

Der russische Einmarsch in der Ukraine führt zu schwerem menschlichen Leid, einer großen Sicherheitskrise und wirtschaftlichem Schaden in Europa. Wie sind die tschechischen Unternehmen von dem Krieg betroffen? Was erwarten die tschechischen Unternehmen von der EU in Bezug auf die EU-Gesetzgebung?

Der Krieg in der Ukraine wirkt sich zunehmend negativ auf die wirtschaftliche Lage der tschechischen Unternehmen aus. Sie sehen sich mit Herausforderungen konfrontiert, die unter anderem mit Unterbrechungen globaler Lieferketten, Personal- und Materialknappheit, hohen Energie- und Rohstoffpreisen, Inflation und Unsicherheiten zusammenhängen. Trotzdem ist die Welle der Solidarität und Hilfsbereitschaft seitens der Unternehmen weiterhin enorm.

Angesichts der aktuellen Krisensituation darf es eine EU-Politik nach dem Motto Business as usual und Rechtsunsicherheit nicht geben. Die EU muss ihre Politiken einem Realitätscheck unterziehen – einschließlich des Fit-for-55-Pakets. Die EU sollte ihre Politik darauf ausrichten, die europäische Wirtschaft zu stärken und wettbewerbsfähiger zu machen. Gleichzeitig sollten alle Initiativen vermieden werden, die den Unternehmen übermäßig hohe Anforderungen auferlegen.

Der beste Weg nach vorne besteht darin, den europäischen Binnenmarkt und seine Digitalisierung zu stärken, eine proaktive Wachstumsagenda zu entwickeln, die die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Unternehmen unterstützt. Die EU muss eine ehrgeizige Handelspolitik verfolgen, um Bezugsquellen zu diversifizieren und neue Märkte zu erschließen.

Was ist Ihre Vision für die Zukunft der EU?

Wir sind davon überzeugt, dass koordinierte Anstrengungen der Sozialpartner, der EU-Mitgliedstaaten und der gesamten internationalen Gemeinschaft helfen können, die aktuell sehr schwierige Lage gemeinsam zu überwinden und gestärkt aus ihr hervorzugehen. Wenn die aktuelle humanitäre Notlage bewältigt ist, müssen mittel- und langfristig Maßnahmen ergriffen werden, die die Stabilität und den wirtschaftlichen Wohlstand in Europa sichern. Gemeinsam, als Europäische Union, sind wir viel stärker als einzeln und unsere Einheit muss oberstes Ziel bleiben.