Kerstin Jorna, Generaldirektorin der Generaldirektion Binnenmarkt, Industrie, Unternehmertum und KMU (DG GROW) der Europäischen Kommission © Europäische Kommission

„Wir brauchen globale Transition Champions!“

Kerstin Jorna ist seit April 2020 Generaldirektorin der Generaldirektion Binnenmarkt, Industrie, Unternehmertum und KMU (DG GROW) der Europäischen Kommission. Im Interview mit dem BDI erläutert sie, wie die Europäische Kommission nationale Barrieren im EU-Binnenmarkt abbaut und welche Herausforderungen die Industrie in den nächsten fünf Jahren meistern muss.

Was motiviert Sie für Ihre Arbeit?

Europa, ganz klar. Die großartige Idee Trennendes zu überwinden und Gemeinsames herauszuarbeiten. Denn nur gemeinsam sind wir stark (genug) um die Herausforderungen der Zukunft zu bewältigen: Klimawandel, Schutz unserer Bürger – ob Pandemie oder Krieg – und Mitgestaltung des geopolitischen Wandels. Und ja, das bedeutet auch Trennendes neu zu bewerten. Zum Beispiel, was ist die Rolle der Politik und was die der Unternehmen? Heute arbeiten Regierungen, Regionen, Unternehmen, Investoren aus ganz Europa alle in der Wasserstoffallianz zusammen, um in Europa den ersten kontinentalen Wasserstoffmarkt hochzuziehen.

Wie tragen Sie mit Ihrer Tätigkeit zur Stärkung Europas bei?

Dreh- und Angelpunkt meiner Arbeit und der meines Teams ist der Binnenmarkt. Mehr als 440 Millionen Bürger, 23 Millionen Unternehmen, das sind Größenordnungen, die es uns erlauben auf Augenhöhe mit Amerika und China zu agieren. Wir haben zwar die Grenzen im Binnenmarkt abgebaut, aber der Blickwinkel ist oft immer noch national. Das sehen wir, wenn es um Bürokratieabbau in Europa geht: Jeder glaubt, dass seine eigene Regelung doch eigentlich ok sei. Das Problem seien die anderen. Falsch: das Problem ist, dass wir 27 verschiedene Dokumentations- und Notifizierungspflichten haben, zum Beispiel bei der Entsendung von Arbeitnehmern. In unserer Single Market Task Force arbeiten wir unter dem Motto „it’s the economy,…“. Das bringt den Perspektivenwechsel. Und Resultate. Zum Beispiel die Beseitigung von 300 Regeln im Bereich Berufsqualifikation in den vergangenen zwei Jahren. Genehmigungen die manchmal Jahre dauern… sind unser nächster Fokus.

Was halten Sie für das europapolitische Top-Thema, dem sich die deutsche Industrie in den nächsten fünf Jahren stellen muss?

Diversifizierung. Von Bezugs- und Zielmärkten. Das ist kein Wettbewerbsnachteil, sondern ein Wettbewerbsvorteil. Erst chirurgische Handschuhe, dann Chips, Magnesium, Gas nun Gallium, Germanium und Graphit. Nachhaltige Geschäftsmodelle müssen diesen neuen Realitäten Rechnung tragen. Das erfordert, wie oben bereits gesagt, den Schulterschuss zwischen Politik und Unternehmen: Rohstoffpartnerschaften mit Drittländern, schnelle Entwicklung von Standards für Innovation made in Europe oder viel schnellere Genehmigungsverfahren. Wir müssen auch bereit sein in bestimmten strategischen Bereichen das finanzielle Risiko beim Hochfahren neuer Technologien zu teilen. Ob das nun öffentlich-öffentlich ist wie bei den wichtigen Vorhaben von gemeinsamem europäischem Interesse (IPCEIs) oder öffentlich-privat wie bei InvestEU oder der Wasserstoffbank. Wie gesagt: Wir brauchen neue Wege der Zusammenarbeit um den Binnenmarkt zu einem veritablen Trampolin für die Wettbewerbsfähigkeit unsere Unternehmen, ob groß oder mittelständig, zu machen. Wir brauchen globale Transition Champions!