Wohin steuert Europa im Umgang mit China?
Selbstverständnis, Verhalten und der Anspruch Chinas als internationaler Akteur spielen zunehmend eine Rolle – nicht zuletzt aufgrund der großen wirtschaftlichen Bedeutung, die China als Markt und als Handels- und Wirtschaftspartner für zahlreiche Länder in den letzten Jahrzehnten gewonnen hat. Mit zunehmender Globalisierung und der Integration Chinas in die Weltwirtschaft haben auch die Abhängigkeiten zugenommen. Die Diskussion in der Öffentlichkeit zu einer einseitigen Abhängigkeit der deutschen Wirtschaft – und damit Deutschlands – von China und dem damit häufig einhergehenden negativen Ausblick auf die zukünftige Wirtschaftsentwicklung greifen aber zu kurz. Das Bild ist facettenreicher: Abhängigkeiten bestehen in beide Richtungen, unterscheiden sich je nach Branche in ihrer Intensität und Qualität.
Dreie Szenarien für die Beziehungen zwischen Europa und China
Szenarien sind häufig das Mittel der Wahl, wenn es um die Auseinandersetzung mit schwer vorhersehbaren Veränderungen geht. Gemeinsam mit mit der Bertelsmann Stiftung hat der BDI 2021 eine Studie zu unterschiedlichen Globalisierungsszenarien durchgeführt, die auch als Anregung für die hier geschilderten Ausblicke dient. Allen hier aufgerufenen Szenarien liegen die folgenden Annahmen zum erwarteten Handeln der politischen Akteure zugrunde: Erstens, die USA und China sind die beiden Hauptvertreter eines globalen Systemkonflikts, der in den nächsten Jahren weiter bestehen und womöglich weiter eskalieren wird.
Der Begriff Systemkonflikt bezieht sich dabei nicht nur auf die bestehenden unterschiedlichen politischen Systeme in den USA und China – Demokratie versus Autokratie –, sondern erstreckt sich vielmehr auf unterschiedliche Dimensionen des internationalen politischen Handelns der beiden Großmächte. Deutliche Divergenzen gibt es zum Beispiel bei Themen wie der Anerkennung der territorialen Integrität von Staaten, der Nutzung von Möglichkeiten friedlicher Konfliktlösung, der Anerkennung universeller Menschenrechte oder dem Respekt vor und der Einhaltung von internationalem Recht. Ein Blick auf die chinesisch-russische "Gemeinsame Erklärung" vom 4. Februar 2022 zeigt, dass das verwendete Vokabular Chinas und Russlands zwar den internationalen Gepflogenheiten entspricht, die damit ausgedrückten Sachverhalte aber andere sind.
Das neue China unter Xi Jinping
Zweitens wird China seinen nationalistischen, zunehmend totalitären Kurs beibehalten; Xi Jinping bestimmt auf absehbare Zeit die Geschicke Chinas. In seinem Grundsatzpapier zu China analysierte der BDI im Jahr 2019: "Der 19. Parteitag der Kommunistischen Partei Chinas im Oktober 2017 stellte eine Zäsur dar. Er hat die Position von Präsident Xi Jinping als seit Jahrzehnten mächtigster chinesischer Staatslenker gefestigt. Mit den ›Xi Jinping Gedanken‹ hielten seine Visionen für China Eingang in die Satzung der Partei. Im März 2018 folgte die Entscheidung auf dem Nationalen Volkskongress, die Begrenzung der Amtszeit des Präsidenten von zweimal fünf Jahren aufzuheben. Seit Amtsübernahme hat Xi Jinping zentrale, unter Deng Xiaoping etablierte politische Prinzipien der Reformära, wie ›Trennung von Staat und Partei‹ und ›kollektive Führung‹, infrage gestellt. Das ›neue China‹ unter Präsident Xi ist gekennzeichnet durch die führende und nicht disponible Rolle der Partei in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft."
Wie verhält sich die USA?
Drittens: Die USA bleiben mittelfristig ein "unsicherer Kandidat" für die weltpolitische Entwicklung, wenn auch berechenbarer im Umgang mit China. Eine zweite Amtszeit für Donald Trump ist nicht ausgeschlossen. Die Erstürmung des Kapitols am 6. Januar 2020 wird zwar politisch und juristisch aufgearbeitet, ist aber Ausdruck der tiefen Spaltung der amerikanischen Gesellschaft, die
nicht leicht zu überwinden sein wird und die Politik des Landes weiter beeinflusst. Die Rivalität mit China ist aber in Washington eines der wenigen Themen, bei dem im Grundsatz Einigkeit zwischen Demokraten und Republikanern besteht. Dies ermöglicht eine gewisse Kontinuität der Chinapolitik auch bei Regierungswechseln und kann damit letztlich auch für Vorhersehbarkeit sorgen. Es gibt Unterschiede in den inhaltlichen Akzenten und der Tonalität gegenüber China zwischen den Vertretern beider Parteien. In der Sache an sich ist aber klar, dass China von beiden politischen Lagern eindeutig als Systemrivale und große Herausforderung für den globalen amerikanischen Führungsanspruch gesehen wird. Weitere Eskalationen, auch militärische, sind nicht ausgeschlossen.
Vor dem Hintergrund der oben geschilderten Grundannahmen ist die vierte Annahme bereits mehr eine Handlungsempfehlung. Sie lautet: Wir sind nur als Europa handlungsfähig, nicht als einzelner Nationalstaat Deutschland. Was nach Binsenweisheit klingt, ist von immenser Bedeutung und noch nicht in aller Konsequenz in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft in Deutschland angekommen. Der Ruf nach Europa und europäischem Handeln ist schnell aus gesprochen. Die entsprechenden Konsequenzen, die auch das Infragestellen deutscher Positionen vor dem Hintergrund des gemeinschaftlichen Interesses von 27 Nationalstaaten bedeuten, werden immer noch häufig ausgeblendet.
Szenario 1: Selbstbewusster Interessenausgleich
Dieses Szenario setzt voraus, dass alle Seiten bereit sind, eigene Standpunkte zu hinterfragen und gegebenenfalls die eigenen Interessen im Sinne eines gemeinschaftlichen Handelns zurückzustellen. Dies ist die positive Entwicklung aus der gemeinsamen Erfahrung einer Pandemie und eines gemeinsamen Gegners (in diesem Fall das Virus). Eine starke EU gestaltet gemeinsam mitden USA und gleichgesinnten Partnern eine stabile globale Koexistenz mit China. Gegenseitige Abhängigkeiten, z. B. bei der Versorgung mit Rohstoffen, werden anerkannt, aber nicht ausgenutzt. Einige EU und ein offeneres China: Es besteht Einigkeit der EU-Mitgliedstaaten über eine gemeinsame Vorgehensweise im Umgang mit China. Systemrivalität wird weiterhin als gegeben angesehen, aber es findet ein offener Interessenausgleich statt und Kooperation bei Themen wie Klimawandel, Rohstoffen, einer Reform der WTO oder technischen Themen wie Normung und Standards. Diese stärkere Verlässlichkeit der Rahmenbedingungen hat positive Rückwirkungen auf die Weltwirtschaft. Die EU kann in Krisen zwischen den USA und China vermitteln und sich als Akteur stärker positionieren, ohne aber die traditionelle Nähe zum Wertepartner USA aufzugeben oder infrage zu stellen. Multilaterale USA: Auch die USA verhalten sich kooperativer und erkennen die stärkeren internationalen Rollen Chinas und der EU an. Dadurch nimmt die direkte Konfrontation zwischen den USA und China deutlich ab. Die WTO und der Multilateralismus erleben neuen Aufschwung. Der Status quo auf Taiwan bleibt gewahrt.
Szenario 2: Instabiles Gleichgewicht
Im zweiten Szenario ist das größte Risiko die schwache oder fehlende Koordinierung zwischen den Wertepartnern, die dafür sorgt, dass politische und wirtschaftliche Unsicherheiten dominierend sind. Aufgrund schlechter transatlantischer Abstimmung und fehlender Übereinstimmung in zentralen Positionen kann sich die EU nur in wenigen Bereichen gegenüber China als unabhängiger Akteur behaupten. Wirtschaftliche und politische Spannungen nehmen tendenziell zu. Für Unternehmen ist diese Unsicherheit problematisch. Einige EU?! Es gibt zwar immer wieder Momente in den internationalen Wirtschaftsbeziehungen, in denen es der EU gelingt, als einheitlicher Akteur aufzutreten. Als Beispiel sei hier der Handelskonflikt zwischen Litauen und China genannt, der zur Einleitung eines Verfahrens gegen China bei der WTO geführt hat. Dieses Momentum der Geschlossenheit kann die EU aber nicht richtig nutzen, mittelfristig überwiegt wieder der Eindruck eines unentschlossenen und uneinigen Staatenbundes mit sehr unterschiedlichen Interessen. Punktuell gelingt immerhin eine einheitliche Positionierung gegenüber China. Die EU-Kommission hat es geschafft, alle Mitgliedstaaten hinter einer europäischen Chinastrategie zu vereinen. Das Risiko wirtschaftlicher Abhängigkeiten ist erkannt worden und zumindest diskursiv durch Diversifizierungsdebatten aufgegriffen worden. Die sich daraus ergebenden Handlungsoptionen führen aber wieder zu Uneinigkeit über den Umgang mit China und zu unterschiedlichen Aktivitäten einzelner Mitgliedstaaten wie z. B. bilaterale Abkommen oder Absichtserklärungen mit China. Egoistische USA: Die USA bleiben in den nächsten Jahren mit sich selbst beschäftigt. Regierungswechsel im Weißen Haus, sich gegenseitig blockierende Mehrheiten im Kongress und im Senat machen notwendige Entscheidungen fast unmöglich. »America First« bleibt in der einen oder anderen Form ein Bestandteil der US-Politik, und europäische Interessen müssen häufig dahinter zurücktreten. Die Spannungen zwischen den beiden Großmächten USA und China bleiben bestehen. Keine Seite hat Interesse an einer »Auflösung« des Konfliktes, aber auch nicht an einer weiteren Eskalation.
Szenario 3: Duell der Supermächte
Uneinige EU: Einzelne zentrale Mitgliedsstaaten wie z. B. Deutschland oder Frankreich haben engere wirtschaftliche Beziehungen zu China als andere, kleinere Staaten. Die Regierungen ordnen ihre Chinapolitik einem Primat der Wirtschaft unter, das eine klare wirtschaftliche Abhängigkeit von China als gegeben und unabwendbar ansieht. Diese Abhängigkeit wird als bestimmender Faktor in den Beziehungen wahrgenommen. Gleichzeitig erhöht China den Druck auf andere Staaten und schafft dort zusätzliche Abhängigkeiten, vor allem durch die Kopplung von politischen Forderungen an wirtschaftliche Unterstützung. Die politisch gewichtigeren EU-Mitgliedstaaten stellen sich dem nicht oder nur halbherzig entgegen. Andere Mitgliedstaaten wie z. B. Litauen oder die Niederlande sind in ihren Positionen deutlich China-kritischer und fordern von Brüssel klare Positionen. Nationalistische Parteien in einigen Mitgliedstaaten wie Rassemblement National in Frankreich sowie manche EU-Mitglieder wie Ungarn suchen eine politische Annäherung an China. Sie positionieren sich offen gegen China-kritische Äußerungen der EU. China wiederum versteht es geschickt, diese Uneinigkeit zu nutzen und mit Formaten wie 16+1 eine weitere Spaltung der EU zu provozieren. Die EU wird vor diesem Hintergrund kaum als Gemeinschaft wahrgenommen und ist nicht handlungsfähig. Es gelingt nicht, die einzelnen Mitglieder hinter einer gemeinsamen europäischen Strategie zum Umgang mit China zu einen. Dies hat auch Auswirkungen auf den Gesamtzusammenhalt in der EU.
Konfrontative USA: Diese Entwicklung trägt auch direkt dazu bei, dass es keine Einigkeit zwischen der EU und den USA zum Umgang mit China geben kann, politisch wie wirtschaftlich. Die USA fahren weiterhin eine »harte Linie« gegenüber China. Sie drängen zu einem Decoupling der Volkswirtschaften und wollen ein Reshoring oder zumindest »Friendshoring« der eigenen Unternehmen erreichen. Die US-Gesetzgebung richtet sich immer stärker direkt gegen China, beispielsweise mit dem »Uyghur Forced Labor Prevention Act«. De facto entscheiden immer mehr Unternehmen, Betrieb und Produktion stärker zu regionalisieren und zu lokalisieren, also »Für China in China« oder »Für Nordamerika in Nordamerika« zu investieren und produzieren.
Eskalierende Konfrontation?
Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat erschreckend deutlich gemacht, dass auch eine militärische Einnahme Taiwans durch die Volksrepublik China nicht mehr undenkbar ist. Im Gegenteil: Das Undenkbare muss mitgedacht werden. Den aktuellen "Status quo" Taiwans mit einer seit Jahren gelebten Pattsituation zwischen dem chinesischen Ein-China-Prinzip (Taiwan ist fester Teil Chinas) und der von den USA gelebten Ein-China-Politik (offizielle Anerkennung der Volksrepublik China und inoffizielle Kontaktpflege mit der Regierung in Taipei) beizubehalten wird immer schwieriger. Der häufig zitierte Wunsch von Xi Jinping, eine Vereinigung mit Taiwan bis zum 100. Jahrestag der Gründung der Volksrepublik im Jahr 2049 zu erreichen, sorgt für zusätzliche Unsicherheit. Die Auswirkungen eines offen ausgetragenen Konflikts würde die europäische Industrie deutlich zu spüren bekommen.
Die drei skizzierten Szenarien können als Gedankenspiel beliebig verfeinert werden, an dieser Stelle ist eine Einschätzung zu Aussagekraft, Gültigkeit und Wahrscheinlichkeit der Szenarien aber angebracht. Szenario 1 scheint vor dem Erfahrungshintergrund der vergangenen Jahre immer weniger wahrscheinlich. Für einen "selbstbewussten Interessenausgleich" braucht es neue Ansätze, die dem sich immer weiter vertiefenden Systemkonflikt Leitplanken setzen können. Das "instabile Gleichgewicht" in Szenario 2 orientiert sich am nächsten an der aktuellen Situation und steht vor allem für die Unsicherheit, die die politische und wirtschaftliche Lage beherrscht. Das "Duell der Supermächte" als drittes Szenario wirkt vor dem Hintergrund der Entwicklungen seit Beginn des Jahres immer realistischer. Das Jahr 2022 hat jedoch auch gezeigt, dass durchdachte und sorgfältig strukturierte Szenarien und Annahmen immer nur so weit reichen, bis die nächste Zeitenwende eintritt. Sie sind Momentaufnahmen, die gleichzeitig die Einschränkungen sichtbar machen, in denen wir uns gedanklich bewegen. Daher lohnt sich der Blick auf drei Entwicklungen, die in dieser Form vor einem Jahr nicht absehbar waren.
Russisch-chinesische "Gemeinsame Erklärung"
Die Zeitenwende wird nicht nur verkörpert durch den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine, sondern auch in der wenige Wochen zuvor veröffentlichten russisch-chinesischen "Gemeinsamen Erklärung", die eine genauere Betrachtung verdient. Die in der Erklärung enthaltene Aufkündigung der Universalität globaler Werte und Rechtsverständnisse mit Blick auf Gesellschaft, Politik und Souveränität stellt den Versuch dar, Völkerrechtsbrüche und Verletzungen von Grundrechten zu legitimieren. Am 4. Februar 2022 wurde das Dokument auf der englischen Webseite des Kreml eingestellt. Inhalt und Sprache verdeutlichen, welche Rolle Russland und China für sich in den zukünftigen internationalen Beziehungen sehen, wie sie die Zusammenarbeit und Partnerschaft beider Länder ausbauen wollen und welchen Führungsanspruch in der Welt sie für sich geltend machen. Vor dem Hintergrund des völkerrechtswidrigen Einmarschs Russlands in der Ukraine nur 20 Tage später lesen sich einige Passagen zynisch. Die chinesische Haltung zum Ukrainekrieg, die häufig als "prorussische Neutralität" beschrieben wird, ist klar vor dem Hintergrund dieses Dokuments einzuordnen. Zu nennen sind hier die Passage zur Wahrung der territorialen Integrität anderer Staaten oder der Einmischung in innere Angelegenheiten unter dem Vorwand, Menschenrechte zu schützen.
Die gemeinsame Erklärung, die anlässlich des Treffens von Putin und Xi zur Eröffnung der olympischen Winterspiele in Peking unterzeichnet wurde, versteht sich vordergründig als offenes Angebot an alle Länder, an der Neugestaltung einer multipolaren Welt mit Russland und China zu arbeiten. Sie tut dies unter Verwendung derjenigen Wörter und Termini, die die internationale Zusammenarbeit seit Ende des Zweiten Weltkriegs im Rahmen der Vereinten Nationen und des von der Vorherrschaft der USA geprägten Systems definiert haben: Es wird der Multilateralismus gepriesen, Demokratie als Recht aller Völker beschrieben, ebenso wie die Gültigkeit der Menschenrechte für alle Menschen postuliert. Internationale Abkommen und Organisationen werden genannt und ein multipolares System, basierend auf internationalem Recht und mit einer zentralen Rolle der Vereinten Nationen und des Sicherheitsrates als dessen zentrale Elemente, beschworen. Der Teufel steckt im Detail.
Beispiel Souveränität: Diese wird gewürdigt, wobei jedoch die russische Annexion der Krim oder der Versuch der territorialen Ausweitung Chinas im Süd- und Ostchinesischen Meer verschwiegen und unter interne Angelegenheiten und Interessen subsumiert werden. Beispiel Menschenrechte: Auch wenn deren Universalität angeblich anerkannt wird, wird diese de facto verneint mit dem Verweis darauf, dass jedes Land Menschenrechte der eigenen Situation entsprechend definieren solle. Die Unüberbrückbarkeit von Universalität und Partikularismus wird hier einfach übergangen und Universalität so praktisch aufgekündigt.
Beispiel Demokratie: Es werden keine objektiv nachprüfbaren Kriterien oder eine Definition von Demokratie festgelegt. Es wird vielmehr festgehalten, dass jedes Volk für sich selbst entscheiden soll, ob sein Land ein demokratisches ist oder nicht. Eines der Kernprinzipien der chinesischen Verfassungsordnung ist jedoch die uneingeschränkte politische Führungsrolle der Kommunistischen Partei, der sich alles und alle unterzuordnen hat. Somit ist Demokratie erreicht, wenn die Partei es verordnet, nicht wenn Gewaltenteilung herrscht.
Instabiles China
Die Frage der internen Stabilität Chinas und wie gefährdet sie tatsächlich ist, wird immer wieder diskutiert und ins Feld geführt, bleibt aber genauso häufig die große Unbekannte. Ein wichtiger Garant für Stabilität war lange Zeit die zuverlässig positive wirtschaftliche Entwicklung Chinas. Die Coronapandemie und ihre Folgen waren ein harter Schnitt und das erste Halbjahr 2022 von einem wirtschaftlichen Abschwung geprägt. Wachsende Arbeitslosigkeit, sinkender Konsum und eine alternde Bevölkerung lassen weitere Problemfelder in der nahen Zukunft erkennen. Positive Entwicklungen im Außenhandel oder Eingriffe der Regierung zur Rettung von Unternehmen wie Evergrande können nur kurzfristig Entlastung bieten und sind keine strukturellen Verbesserungen. Der Umgang mit der Coronapandemie und die Durchsetzung der Null-Covid-Politik bei gleichzeitig dramatisch zunehmender Kontrolle und Überwachung der eigenen Bevölkerung zeigen die Bereitschaft der Kommunistischen Partei, hart und ohne Kompromisse gegen die eigenen Bürger vorzugehen. Der schnell eskalierte Skandal um die Veruntreuung von Spareinlagen bei lokalen Banken in der Provinz Henan und das gewalttätige Vorgehen gegen protestierende Bürger sind ein weiteres Beispiel hierfür. Der Eindruck, dass es sich lediglich um die Spitze des Eisbergs ungelöster gesellschaftlicher Problemfelder handelt, bestätigt sich hier ein weiteres Mal.
Einigkeit der Europäischen Union
Der völkerrechtswidrige Einmarsch Russlands in die Ukraine und die konsequenten Sanktionen der EU haben sehr klar die Einigkeit und Kraft Europas als internationaler Akteur verdeutlicht. Er hat in Europa ein lange nicht gekanntes Ausmaß an europäischer Solidarität und Zusammenhalt der Mitgliedstaaten hervorgebracht, zumindest in den ersten Monaten nach Ausbruch des Kriegs. Es bedarf anscheinend vielfältiger Krisen, um diese Stärke der Union wieder sichtbar zu machen. Das Momentum muss nun weiter genutzt werden. Die EU ist mehr als die Summe ihrer einzelnen Mitgliedstaaten. Wir müssen europäischer denken, handeln und unsere Partnerschaften ausbauen. Die Möglichkeiten der Zusammenarbeit und das Gewicht, über das die EU und ihre Mitgliedstaaten verfügen, müssen stärker genutzt und gefördert werden. Das bedeutet auch, dass die EU selbstbewusster die eigenen Positionen vertreten sollte, auch in der transatlantischen Zusammenarbeit. Die – oftmals komplexe – Positionsfindung in der offenen und pluralistischen europäischen Gesellschaft sind eine Chance, kein Hindernis.
Ein gutes Beispiel für den Bedarf an einem verstärkt europäischeren Handeln ist der Umgang mit China. Die Interessen der EUMitgliedstaaten in Bezug auf China unterscheiden sich in vielfacher Hinsicht. Dennoch kann das Ziel nicht sein, nur den kleinsten gemeinsamen Nenner aller EU-Mitglieder für den Umgang mit China zu definieren. Wir müssen auch unsere eigene Innovationsfähigkeit und Leistungsfähigkeit selbstbewusst und ambitioniert fördern, Risiken vorausschauend managen und Abhängigkeiten verringern, um nicht erpressbar zu sein. Schlicht mehr Pragmatismus würde der EU gut anstehen. So belastet eine Doppelung der Gesetzgebungen auf nationaler und europäischer Ebene wie aktuell beispielsweise mit dem deutschen Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz und der jetzt in der Entstehung begriffenen EU-Richtlinie zu »Corporate Sustainability Due Diligence« die Wirtschaft unnötig und zögert Prozesse in die Länge. Auch politische Reizthemen wie die Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips in der europäischen Außenpolitik sollten von allen EU-Mitgliedstaaten progressiver diskutiert werden.
Ausbau der eigenen Stärken
Der globale Systemkonflikt wird das prägende Element der nächsten Jahre und Jahrzehnte bleiben. Dem müssen wir uns stellen. Wir brauchen klare politische Entscheidungen für den Umgang mit dieser Herausforderung. In Szenarien zu denken kann eine gute Übung sein, auf eine Zeitenwende wirklich vorbereiten kann sie nicht. Wenn klar ist, dass wir China nicht in unserem Sinne ändern können, und gleichzeitig klar ist, dass wir uns nicht in Chinas Sinne ändern werden, dann bleibt nur der Ausbau der eigenen Stärken. Probleme und Herausforderungen und Kosten, die sich aus dem Systemkonflikt ergeben, müssen klar angesprochen und deutlich benannt werden. Parallel dazu müssen wir Abhängigkeiten identifizieren, z. B. im Bereich kritische Rohstoffe, und diese so weit wie möglich reduzieren – ein langfristiger Prozess, der keine schnellen Lösungen kennen wird. Und schließlich muss auch Kooperation weiterhin aufrechterhalten werden. Auch eine Koexistenz mit systemischen Rivalen muss Zusammenarbeit weiterhin ermöglichen, solange diese Rivalen völkerrechtliche rote Linien nicht überschreiten.
Dieser Beitrag enstammt dem Band "Wie gestalten wir unsere Beziehungen zu China?", der im November 2022 u. a. mit Beiträgen von Volker Stanzel, François Godement, Stefan Gätzner, Patricia Schetelig, Malin Oud, Markus Beyrer und Andrew Small im Herder Verlag erschien.