BDI-Präsident Siegfried Russwurm beim #TDI23 – Tag der Industrie © Christian Kruppa

TDI23: Der Industriestandort Deutschland muss sich strecken

Beim Tag der Industrie betonte BDI-Präsident Siegfried Russwurm das immer größere Delta zwischen Ambition und Umsetzung in Deutschland. Klare Rahmenbedingungen und Freiraum für Unternehmertum und Ideen seien Triebkräfte für Innovation und Erfolg. „Vielfalt statt Einfalt ist das bewährte Prinzip – gerade zur Gestaltung von Zeitenwende und Zukunft.“

„Die Hauptstadt ist in diesen letzten Wochen vor der sogenannten Sommerpause immer dicht getaktet, doch dieses Jahr scheint das Themenspektrum noch größer als üblicherweise – nur zwei Stichworte: deutsch-chinesische Regierungskonsultationen und entscheidende Beratungen des Regierungs-Entwurfs für den Bundeshaushalt 2024. Die Zeiten sind besonders. Das reflektiert auch unsere Agenda des TDI 2023.

Danken möchte ich Deloitte und Herrn Krug für die erneute großzügige Unterstützung und genauso allen weiteren Unterstützern unseres Tages der Industrie. Ihr Engagement macht den TDI in dieser Form überhaupt erst möglich!

Meine Damen und Herren, geopolitisch ist die Welt weiterhin in einer sehr aufgewühlten Phase. Russlands Krieg in der Ukraine hält an. Zusammen mit der überwiegenden Mehrheit der Nationen verurteilen wir diesen Krieg. Aggression, Unrecht und Inhumanität treten wir entgegen – nicht nur mit Worten, sondern auch mit deutlicher materieller Hilfe für die Ukraine. Dafür hat die deutsche Bundesregierung unsere uneingeschränkte Unterstützung!

Im größeren globalen Zusammenhang rücken Systemwettbewerb und Rivalität zwischen China und den demokratisch-liberalen Staaten immer stärker ins Zentrum der Debatte.

Das G7-Abschlusskommuniqué von Hiroshima spricht eine klare Sprache und zeigt große Geschlossenheit. Dort heißt es - Zitat: „Wir setzen nicht auf Entkopplung oder Abschottung“ also klare Absage an De-Coupling. …
Weiter sagen die G7: – Zitat: Wir werden übermäßige Abhängigkeiten in unseren kritischen Lieferketten verringern. … Wir werden böswilligen Praktiken entgegenwirken, beispielsweise unrechtmäßigem Technologietransfer oder unrechtmäßiger Datenpreisgabe.”

Deutschland muss die Komplexität von systemischer Rivale, Wettbewerber und Partner in den deutsch-chinesischen Regierungskonsultationen adressieren. Stabilität durch De-Risking und Balance aller drei Dimensionen muss Ziel der deutschen China-Politik sein.

Meine Damen und Herren, der TDI ist ein Ort des Dialogs. Damit ist er auch eine Hilfe für die eigene Standortbestimmung:
- Wie ist die Lage in den Unternehmen?
- Wie geht es dem Land?
- Wie ist unsere Position im internationalen
  Wettbewerb?

Statistisch befindet sich Deutschland in einer Rezession. Aber noch mehr sorgt uns, dass das Vertrauen in gute Rahmenbedingungen in unserem Land deutlich abnimmt. Deutschland ist gegenüber vielen anderen Ländern weiter zurückgefallen. Die Weltwirtschaft wächst um etwa 3 Prozent, bei uns herrscht Stagnation. Das Investitionsverhalten – DER neue Frühindikator, den wir an Stelle der Arbeitslosenstatistik zukünftig im Blick haben müssen, zeigt klar nach unten. Ungeduld und Unsicherheit nehmen zu.

Sehr geehrter Herr Bundeskanzler, wir haben großen Respekt vor Ihrem unermüdlichen Einsatz. Sie setzen mit Ihren Reisen international Zeichen und öffnen Türen. Und innenpolitisch ordnen Sie mit Ihrem persönlichen Einsatz manches Thema. Gerade erst bezüglich Heizungen und Wärmekonzepten, und in den Haushaltsberatungen mit der Klarstellung, dass kein Weg an mehr Ausgabendisziplin und Prioritätensetzung vorbeiführt. Dafür sind wir Ihnen dankbar.

Dem engen Schulterschluss von Bundesregierung, Unternehmen und Bürgern ist zu verdanken, dass wir die Energieversorgung im letzten Winter im Griff hatten – wobei das ungewöhnlich warme Wetter uns zusätzlich sehr geholfen hat.
Und natürlich war und ist das Tempo bei der Realisierung und Anbindung der LNG-Terminals ein großer Erfolg.

Aber zwangsläufig geht unser Blick nach vorne. Und da gibt uns die Sicht auf die Realitäten Anlass zu einer Menge Sorgen:

Herr Bundeskanzler, SIE haben von einem neuen Wirtschaftswunder gesprochen. WIR sehen das Land aktuell vor einem Berg wachsender Herausforderungen.

Aus der Bundesregierung wurde das Jahr 2023 als „Jahr der Industriepolitik“ angekündigt. Die Hälfte des Jahres ist um, und in zwei der drei Regierungsparteien wird über Steuererhöhungen und höhere Sozialabgaben diskutiert. Bei vielen Initiativen aus den für uns wichtigsten Ministerien hat man den Eindruck, es geht eher um Wirtschaftsüberwachung als um Handels- und Wirtschaftsförderung.

Sie sprechen von der Notwendigkeit, pro Tag 4-5 Windräder und Solaranlagen mit einer Fläche von 40 Fußballfeldern zu installieren.
Im ersten Halbjahr dieses Jahres war es gerade mal ein Windrad pro Tag, was ja nur heißt, der Anstiegswinkel für die kommenden Jahre wird noch steiler. Das Delta zwischen Ambition und Umsetzungspraxis wird täglich größer – bei Windturbinen und PV-Anlagen, bei Übertragungs- und Verteilnetzen, bei Speichern und Backup-Kraftwerken.

Sie, Herr Bundeskanzler, haben unsere volle Zustimmung, wenn Sie sagen – und ich zitiere Sie: „Deutschland hat sich mit Vorschriften zugemauert. Es kann mit dem gegenwärtigen Gesetzesstand gar nicht funktionieren, dass wir unsere Ziele erreichen.“

Zugegeben, wenn man das ändern will, braucht es erneut Gesetze. Aber solche, die Mauern einreißen und tatsächlich zu „Deutschland-Geschwindigkeit“ führen; und die Bürokratie und Komplexität verringern – statt neue Melde- und Dokumentationspflichten zu schaffen, damit den Verwaltungsaufwand in Unternehmen weiter zu erhöhen und gerade kleine und mittlere Unternehmen zu überfordern – und zudem noch zur Verarbeitung dieser Überwachungsdaten zusätzliche Planstellen im öffentlichen Dienst aufzubauen.

Leider findet sich vieles von dem, Herr Bundeskanzler, was Sie sagen und worin wir Sie ausdrücklich bestätigen wollen, nicht im Handeln der Bundesregierung wieder. Einiges läuft komplett in die falsche Richtung.

Das irritiert uns massiv, mehr noch: Es macht uns heftige Sorgen.

Lassen Sie mich auch deutlich sagen: „Geschwindigkeit“ an sich ist kein Wert und schon gar kein Mehrwert, wenn die Richtung nicht stimmt. Ja, die Gesetzesmaschine läuft auf Hochtouren. Aber nicht nur die Abgeordneten des Bundestages fühlen sich immer öfter überrumpelt. Wir auch.

Wenn Bundesministerien Anhörungsfristen ins Unzumutbare verkürzen, geht Schnelligkeit vor Einbezug von Fachkunde. Politik und Verwaltung überblicken nicht alles besser als Expertinnen und Experten in Unternehmen und Verbänden. Mehr Offenheit und mehr Bezug zur Praxis würden wir uns dringend wünschen. Das wäre gut für die Sache, gut für das Land und gut für das Vertrauen in Politik. Wir strecken dazu die Hand aus.

Sehr geehrter Herr Bundeskanzler, auch im 21. Jahrhundert behält das grundlegende Erfolgsrezept für das sogenannte „Wirtschaftswunder“ der 50er und 60er Jahre seine Gültigkeit: klare Rahmenbedingungen, offene Märkte, Freiraum für Unternehmertum und Ideen als Triebkräfte für Innovation und Markterfolg. Das bleibt der Schlüssel für unsere Zukunft als Industrieland, Exportland und Innovationsland.  

Meine Damen und Herren, ich will nicht lamentieren. Teilen der deutschen Industrie geht es auch heute und in unserer aufgewühlten Welt gut, einzelnen Unternehmen geht es sehr gut. Nicht gut geht es aber sehr vielen Unternehmen an ihrem Heimatstandort. Und in Folge geht es dem Industriestandort Deutschland nicht gut – Rezession, Investitionszurückhaltung, Rückzug sind inzwischen Dauerthemen.

Das muss uns umtreiben. Denn wir wollen doch beides: Dass die deutsche Industrie in der Welt erfolgreich ist, und dass es dem Industriestandort Deutschland gut geht.

Momentan beschäftigen sich immer mehr Unternehmen bis weit in den Mittelstand damit, Teile ihrer Wertschöpfung von Deutschland weg zu verlagern und mehr im Ausland zu investieren. Was sie dabei umtreibt, ist eine Mischung aus Fragen zum Zugang zu Energie und Rohstoffen, zu Kosten aus der Komplexität des Standorts und zur Verfügbarkeit von Arbeitskräften – immer mit der Messlatte „globale Wettbewerbsfähigkeit“.

Was muss bei uns passieren? Ich will auf zwei große Themen eingehen: Energie und Digitalisierung.

Zuerst zur Energie: Die Dekarbonisierung als Ziel ist gesetzt. Aber Sie haben selbst bereits vor zwei Jahren hier bei uns auf dem TDI von einem Strompreis in Höhe von 4 Cent gesprochen. Um präzise zu sein: Es darf dabei nicht nur um die Gestehungskosten von Solar- oder Windstrom gehen, sondern um Endpreise für industrielle Abnehmer. Heute sind wir von solchen Zielpreisen meilenweit entfernt. Wir erwarten hier sehr schnell ein tragfähiges, klares und in der Koalition abgestimmtes Konzept. Strom muss für die Industrie relativ zu Gas günstiger und international wettbewerbsfähiger werden.

Es ist dringend notwendig, eine Brücke zu bauen hin zu einer sicheren, sauberen und bezahlbaren Energieversorgung. Aber jeder Brückenschlag braucht ein gegenüberliegendes Ufer. Dieses Ufer ist heute noch längst nicht in Sicht.

Es ist dringend notwendig, extrem leistungsfähige, flexible, intelligente Netze zu schaffen – für die Fernübertragung genauso wie Verteilnetze in jeder Straße, in der Wärmepumpen und e-Autos völlig veränderte Anforderungen stellen!

Es ist dringend notwendig, eine umfassende Wasserstoffinfrastruktur aufzubauen – für energieintensive industrielle Prozesse und zur Absicherung jederzeitiger Verfügbarkeit von Energie jenseits der volatilen Erneuerbaren. Auch dieser Infrastrukturaufbau ist derzeit noch eine große unbewältigte Baustelle.

Es ist dringend notwendig, dass der Strom 365 Tage und Nächte fließt – auch in der Dunkelflaute im Winter – und zwar überall, wo Verbraucher sind! Andernfalls drohen massive Funktionsstörungen des Landes. Bestenfalls würden wir höchst moderne elektrifizierte Industrieanlagen betreiben und e-Autos fahren, deren hohen Strombedarf wir aus zusätzlicher Kohleverstromung decken müssten. Das wäre ein Desaster – klimapolitisch und wirtschaftlich. 

Und es ist dringend notwendig, nicht nur eine gesicherte Erzeugung von genügend Strom zu gewährleisten, sondern genauso den Zugang zu importierten Energieträgern sicherzustellen – Renewables aus Europa und dem Mittelmeerraum, Wasserstoff und gegebenenfalls E-fuels aus Middle East und anderen Lieferländern – ohne dabei in neue Abhängigkeiten zu geraten.

Ein Beispiel: Herr Bundeskanzler, Sie haben selbst auf die zusätzlich erforderlichen wasserstofffähigen Gaskraftwerke hingewiesen, die wir brauchen, und gesagt – ich zitiere: „In den 30er Jahren müssen alle diese Kraftwerke gebaut sein“. Viel Zeit bleibt dafür nicht.

Aber viele Fragen sind offen: Wer plant, wer genehmigt, wer baut, wer finanziert, wer betreibt - wann und wo? Wie sieht das Marktdesign aus, das Investitionen rentierlich macht, auch wenn solche Kraftwerke als backup nur sporadisch laufen?

Wir als BDI und auch der Bundeswirtschafts- und Klimaschutzminister – sprechen unter optimistischen Annahmen über mindestens 25 GW, die bis 2030 zugebaut werden müssen – das sind zwischen 30 und 50 Kraftwerke. Derzeit konkret projektiert sind allenfalls einige wenige, vom Bau ganz zu schweigen. Wenn wir so weiter machen, bleiben die 25 GW ein frommer Wunsch – mit Luftschlössern können wir die Energiewende nicht schaffen.

Es ist höchste Zeit, dass es konkret vorwärts geht! Sonst fehlt die Vertrauensgrundlage, die Privatpersonen genauso wie Unternehmen für ihre Investitionen dringend brauchen.

Meine Damen und Herren, das zweite fundamentale Thema der Zukunftsgestaltung neben klimagerechter Energieversorgung ist die Digitalisierung. Wir lernen jeden Tag mehr über die Notwendigkeiten, Chancen und Potenziale von IT und KI. Und wir kennen die Rolle der Mikroelektronik als Basistechnologie für digitale Lösungen.

Im Bereich der Industrieautomatisierung und bei zahlreichen digitalen Branchenanwendungen ist die deutsche Industrie global führend. Aber die Basistechnologien, die Schlüsselkompetenzen und Forschungs- und Innovationsaktivitäten der digitalen Plattformen werden nahezu ausschließlich von den großen Playern in den USA beherrscht – und von deren neuen Wettbewerbern aus China. Deren Weltmarktanteile und Marktkapitalisierung sprechen Bände.

Wir müssen aus gesundem Eigeninteresse unsere eigenen Kompetenzen stärken. Also auf der einen Seite enge und vertiefte transatlantische Partnerschaft. Auf der anderen Seite aber auch Investitionen in eigene Handlungsfreiheit.  

„Wir“, das heißt nicht nur Deutschland allein, sondern wir in Europa.

Das ist nicht in erster Linie eine Frage von Beihilfen oder Forschungsprogrammen. Sondern vor allem geht es um die volle Entfaltung der Potenziale des gemeinsamen europäischen Binnenmarktes von 450 Millionen Menschen. Denn bekanntlich sind in der Digitalisierung Skaleneffekte das A und O. Dafür brauchen wir einen großen Absatzmarkt.  

Meine Damen und Herren, unser Land hat eine lange Agenda. Es gibt viel mehr Nachholbedarf, Wünsche und Ideen, als Möglichkeiten und Ressourcen, alles gleichzeitig anzupacken. Das heißt: Wir müssen Prioritäten setzen, und dürfen uns nicht übernehmen.

Zu oft wirken wir überambitioniert. Wir schreiben uns zu Recht Klimaschutz und Dekarbonisierung auf die Fahnen, aber mit dem Kopf durch die Wand führt zu nichts Gutem. Es geht nur planvoll, besonnen und realistisch.

Ähnliches gilt für Europas Rolle in der Welt: Die Welt folgt nicht in allem Europas Vorstellungen über die Gestaltung von Taxonomie und Lieferketten.

Trotzdem ist vieles richtig, was wir uns vornehmen. Der Welt zeigen, was geht, und andere mit guten Lösungen überzeugen, das ist kein verkehrter Anspruch! Aber nicht vorschreiben und diktieren, was sein darf und was nicht. Da würden wir uns überschätzen und zugleich dem Vorwurf des verkappten Protektionismus, der Schulmeisterei und des Neokolonialismus aussetzen.  

Wir müssen priorisieren:

  • was dringend ist und was zurückgestellt werden kann.
  • was wir uns leisten können, wenn wir klimaneutral werden und unsere Unabhängigkeit bewahren wollen und auf was wir verzichten müssen, um dahin zu kommen
  • und wo es um unumstößliche Prinzipien geht, und wo Pragmatismus angemessen ist.

Und wir müssen offen sein für Fortschritt, Technologien und Innovation und uns nicht selbst Lösungswege verbauen, die uns die Zukunft anbieten könnte.

Deshalb steht am Ende noch einmal mein Plädoyer

  • für klare Rahmenbedingungen,
  • für Unternehmertum,
  • für Wettbewerb,
  • und vor allem für Offenheit, Veränderungen, Chancen von Technologien und neue, frische Ideen von klugen Köpfen aus dem In- und Ausland.

Vielfalt statt Einfalt ist DAS bewährte Prinzip – gerade zur Gestaltung von Zeitenwende und Zukunft. Herzlichen Dank!