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„Digitale und traditionelle Diplomatie bilden keinen Gegensatz“

Im Auswärtigen Amt versteht wohl keiner mehr von außenpolitischen Aspekten der Digitalisierung als Hinrich Thölken. Als Sonderbeauftragter für internationale Digitalisierungspolitik und digitale Transformation trifft er sich mit technologischen Vordenkern auf der ganzen Welt und vermittelt zwischen Wirtschaft und Politik. Im Interview verrät der Botschafter, wie digitale Technologien Chancen eröffnen, Länder neu verbinden und das Machtgefüge verändern.

Herr Thölken, was macht ein Digitalbotschafter? 

Im Prinzip unterscheidet sich meine Aufgabe nicht so sehr von der meiner Kolleginnen und Kollegen, die für bestimmte Länder zuständig sind. Mein Land heißt Digitalisierung. Ich halte die Verbindung zwischen Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, sorge für Austausch und bringe das Thema immer wieder auf die Agenda – national wie international. Die konkrete Aufgabe geht in zwei Richtungen: Zum einen verfolgen und analysieren wir die Digitalisierungstrends in anderen Ländern mit dem Ziel, daraus verwertbare Erkenntnisse für uns zu entwickeln, speziell unter dem Blickwinkel der Außenpolitik im digitalen Zeitalter. Zum anderen vertrete ich Deutschland häufig bei internationalen Konferenzen und Messen oder auch internationalen Verhandlungen.

Wie informieren Sie sich über Trends und Entwicklungen, die einen großen Einfluss auf unsere Gesellschaft haben?

Vor allem durch Gespräche und den Besuch von internationalen Konferenzen. Ich treffe mich mit den innovativen Unternehmern und Gründern, aber natürlich tausche ich mich auch sehr stark mit Wissenschaftlern aus. Und meine Leseliste ist lang. Die technologische Entwicklung geschieht so rasend schnell, dass es ein immerwährender Lernprozess bleibt. 

Welche Auswirkung hat Digitalisierung auf die Weltgemeinschaft?

Digitalisierung bringt die bisherige internationale Machtordnung der Länder durcheinander. Länder wie Israel, baltische oder skandinavische Staaten, Singapur oder Korea haben erkennbar große Erfolge bei der digitalen Transformation. Und sie erlangen damit nicht nur ökonomische Vorteile, sondern auch mehr politisches Gewicht. Estland beispielsweise ist ein kleines Land mit 1,3 Millionen Einwohnern. Es hat als erstes Land eine E-Residenz einführt. So kann man dort ein digitaler Staatsbürger werden und hat die Möglichkeit, eine Firma zu gründen und innerhalb Europas aktiv zu sein. Estland hat einen größeren Bevölkerungszuwachs durch die E-Residenz als durch natürliche Geburten. Das wirft die Frage auf, welche Folgen das für die staatliche Souveränität, etablierte Staatskonzepte und die Beziehungen von Staaten untereinander hat. Die Digitalisierung bringt einiges durcheinander, bestimmte Begriffe müssen wir neu betrachten und neu bewerten.

 

„Mein Land heißt Digitalisierung.“

Setzt das nicht auch ein Umdenken in der Gesellschaft voraus?

Wir müssen den Menschen gar nicht zu viel abverlangen, außer der Bereitschaft, sich nicht aktiv gegen Wandel und Fortschritt zu sperren. Die Bereitschaft sich digitaler Technologien zu bedienen, ist keine Frage des Alters, sondern eine Mentalitätsfrage. Können wir gedankliche Blockaden überwinden? Ich bin der Meinung, wir müssen sie überwinden. 

In welcher Weise glauben Sie, dass die Corona-Krise diese Trends beeinflussen wird?

Vieles von dem, was wir vorher als fest und unverrückbar betrachtet haben, verändert sich durch die Krise – beispielsweise das Erfordernis einer persönlichen Präsenz bei Meetings oder das Verhältnis zwischen Vertraulichkeit und Effektivität bei der Nutzung digitaler Kommunikation. Ich persönlich werde nach der Krise sehr viel häufiger kritisch hinterfragen, ob ich 7000 Kilometer fliegen muss, nur um mich auf einer Veranstaltung eine halbe Stunde zu zeigen.

Welche digitalen Technologien nutzen Sie in Ihrer täglichen Arbeit?

Ich habe Spaß, neue Dinge auszuprobieren. Das mache ich mit privaten Geräten, die ich in der gebotenen Weise nutze. Interessant ist aber nicht, welche Technik ich nutze, sondern mit welchen Prozessen und innerhalb welcher Kommunikationsstrukturen wir arbeiten. Wir haben im Auswärtigen Amt 2019 eine Digitalisierungsstrategie erarbeitet und uns relativ ehrgeizige Ziele gesetzt. Das reicht von geopolitischen und geo-ökonomischen Fragestellungen bis hin zu der Frage, in welchem Kontext wir arbeiten wollen – also in welcher Innovationsstruktur und mit welchen Menschen. Ein wichtiger Punkt ist, wie wir als Bundesrepublik Deutschland unsere politischen Ziele stärker auch in einer digitalen Außenpolitik umsetzen. 

Können Sie das konkretisieren?

Wir bauen mit den EU-Mitgliedsstaaten ein Digital Diplomacy Network auf. Dieses Netzwerk der Außenministerien der EU soll uns befähigen, gemeinsam zu lernen und zu verstehen, wie Außenpolitik im digitalen Zeitalter funktioniert. Wir wollen Instrumente entwickeln, um als EU – mit all ihren Mitgliedsstaaten gemeinsam – in einem Drittland digital aktiv werden zu können. Das könnten Aktionen zur Steigerung der Resilienz gegen Desinformation sein, wir könnten eine Unterstützung bieten, Wahlen zu sichern, oder durch digitale Technologie mithelfen, demokratische Strukturen zu stärken. Wir versuchen, das Ganze als Diplomatie-Startup zu sehen. Und dieses Netzwerk innerhalb der EU aufzubauen, das ist wirklich spannend. 

„Ob Armutsbekämpfung oder die Bekämpfung des Hungers in der Welt: Überall gibt es Ziele, die durch Digitalisierung wesentlich besser erreicht werden können.“

Auch auf globaler Ebene werden immer häufiger digitale Technologien für politische Zwecke genutzt. Birgt diese Entwicklung für die Diplomatie mehr Risiken oder mehr Chancen?

Natürlich sind Risiken da. Wir haben schmerzhaft gelernt, was es heißt, wenn über soziale Netzwerke Wahlen und Volksabstimmungen mitbeeinflusst werden. Durch Echokammern können politische Diskussionsflächen entstehen, die für die Öffentlichkeit nicht mehr transparent sind. Am Ende kann das auch eine große Rolle bei der Wahl von Kandidaten spielen – bis in höchste Staatsämter hinein. Wir sehen auch das Risiko, dass sich durch den Export von Überwachungstechnologie demokratiefeindliche Systeme durchsetzen oder leichteres Spiel haben könnten. Aber genauso gibt es Chancen für uns. Wir müssen uns darauf besinnen, wie wir neue Technologie und Kommunikationsformen, neues Denken und neue Prozesse einsetzen können, um unsere demokratischen Ziele zu erreichen und Menschenrechte durchzusetzen. Die Armutsbekämpfung oder die Bekämpfung des Hungers in der Welt: Überall gibt es Ziele, die durch Digitalisierung wesentlich besser erreicht werden können. Die Digitalisierung ist eine riesige Chance, die wir einfach nutzen müssen.

Wie unterscheidet sich digitale Diplomatie von der traditionellen Art? 

Digitale und traditionelle Diplomatie bilden keinen Gegensatz, es ist eine evolutionäre Weiterentwicklung. Über ein soziales Netzwerk können Bürger heute eine direkte Nachricht an den Staatsminister im Auswärtigen Amt schicken und eine Antwort bekommen. Das wäre vor zehn Jahren undenkbar gewesen. Allein die Möglichkeit des direkten Austausches verändert die Art, wie Menschen mit Politik umgehen. Wir haben seit zwanzig Jahren den Begriff „Public Diplomacy“, also die öffentliche Diplomatie. Damit wollen wir dem Bürger erklären, wie wir unsere Außenpolitik gestalten wollen. Die digitale Diplomatie potenziert das: Sie ist eine noch offenere Art, Außenpolitik zu betreiben. Ein Beispiel: Beim UN-Migrationspakt haben wir 2019 auf Fachebene der Regierung lange diskutiert, bis wir entschieden haben, dass wir den Pakt unterzeichnen. Allerdings hatten wir das Thema nicht intensiv genug mit der Öffentlichkeit aufgenommen. Bestimmte Kreise, die sich gegen jede Form der Migration wenden, haben das genutzt und sagten: „Seht her, die Regierung holt heimlich Millionen neuer Migranten ins Land.“ Das war natürlich Unsinn. Aber weil wir die Debatte nicht selbst geführt haben, konnten andere sie verzerren. Wir haben daraus gelernt, dass wir bei solchen strittigen Themen offener diskutieren müssen. Die Außenpolitik wird schneller werden und schneller reagieren müssen – auch in der Kommunikation. Das sind Trends, die sind bereits da.

Digitale Kommunikation ist oft ein Wechselspiel zwischen Schnelligkeit und Sorgfalt. Wie wird diese Balance in der täglichen Arbeit gewährleistet? 

Schnelligkeit, Direktheit und Offenheit sind wichtige Eckpfeiler. Allerdings heißt das, dass man auch handwerklich gut sein muss: Es dürfen keine Dinge ungeprüft verschickt werden und Formulierungen müssen wohlüberlegt sein. Auch wenn wir auf einem guten Weg sind, wollen wir handwerklich im digitalen Raum durchaus an uns arbeiten, um noch besser zu werden. 

„Das persönliche Gespräch wird eine Renaissance erfahren. Es wird zu einem Juwel in der Interaktion zwischen Menschen werden.“

Wo sehen Sie bei der Digitalisierung der Diplomatie Herausforderungen?

Das Zusammenspiel der vielen Länder im Kontext der Vereinten Nationen zu dynamisieren, ist eine große Aufgabe. Da sehe ich große Herausforderungen. Innerhalb der Vereinten Nationen nutzen wir etablierte Prozessen, die nicht unbedingt besonders agil oder ergebnisorientiert sind, aber natürlich ihre Berechtigung haben. Wir erleben in der Außenpolitik, wie die Dinge sich beschleunigen. Nun ist es wichtig, dass es uns gelingt, dass das System der Vereinten Nationen agil wird und ausreichend mithalten kann. Dafür gibt es bereits laufende Prozesse und lobenswerte Initiativen. Zum Beispiel gibt es mit Fabrizio Hochschild einen Sonderberater, der dort das Thema digitale Zusammenarbeit koordiniert.

Welche Rolle wird der direkte und persönliche Austausch der Diplomaten künftig noch spielen?

Das persönliche Gespräch wird eine Renaissance erfahren. Es wird zu einem Juwel in der Interaktion zwischen Menschen werden: wenn man sich treffen und eine halbe Stunde miteinander verbringen kann und sich direkt und ohne Bildschirm in die Augen schauen kann. Das wird wichtiger werden.

Wie sehen sie den Stand der Digitalisierung in Deutschland – auch im internationalen Vergleich?

Wir sind weit besser, als wir glauben. Wir sind wiederholt von verschiedenen Institutionen zur innovativsten Volkswirtschaft der Welt gekürt worden, zuletzt vom World Economic Forum. Wir haben tolle Firmen, einen ganz wunderbaren Mittelstand und ein schönes und lebhaftes digitales Ökosystem in Deutschland. Ich würde mir ein bisschen mehr Mut, eine größere Risikobereitschaft und eine offenere Innovationskultur wünschen.

„Wir brauchen informierte und gut moderierte gesellschaftliche Debatten über die Frage, welche Art von digitaler Zukunft wir anstreben.“

Welchen Einfluss haben Datenhoheit und lokale Rechte auf die digitale Debatte?

Das Verständnis, dass eigene Daten wichtig sind, setzt sich immer mehr durch. Technologische Souveränität ist ein wichtiges Thema in der politischen Debatte, sowohl national als auch europäisch, wie zum Beispiel bei Themen wie 5G-Mobilfunk oder Cloud-Computing. Unser Ziel ist es, dass wir glaubhaft darstellen, wie wir digitale Wertschöpfungsmodelle erfolgreich umsetzen und so die Wertschöpfung in unserem Land oder in Europa halten können. Hier würde ich mir vor allem in Deutschland wünschen, dass wir noch bewusster mit dem Thema Daten umgehen – und auch das Wertschöpfungspotenzial von Daten betrachten.

Welche Akteure werden mit Blick auf Innovationen besonders wichtig für Deutschland und Europa? 

Der öffentliche Sektor ist ein ganz zentraler Akteur. Die Politik hat nicht nur eine ganz wichtige Vorreiterfunktion, es geht auch um eine Frage der Legitimität des politischen Handelns. Wir können mit einer Verwaltung oder mit einer Regierung, die im analogen Zeitalter steckt, doch nicht ernsthaft eine digitale Volkswirtschaft und eine digitale Gesellschaft regieren. Also müssen Politik und Verwaltung modern, innovativ und digital sein. Daneben schieben Verbände Firmen und das Unternehmertum an, befördern Entwicklungen und helfen bei der Normensetzung. Sie haben eine ganz zentrale Rolle, die nötigen Regularien zu entwickeln, um den privaten Sektor ökonomisch in die Zukunft zu bringen. 

Wie kann die Brücke zur Gesellschaft gebaut werden?

Wir brauchen informierte und gut moderierte gesellschaftliche Debatten über die Frage, welche Art von digitaler Zukunft wir anstreben. Da würde ich mir vernehmbarere Beiträge der Akteure wünschen, die in der Gesellschaft Meinungsführerschaft haben oder die gesellschaftliche Prozesse stark anstoßen können. Das fängt bei den politischen Parteien an, geht über die Sozialpartner, sicher spielen auch die Religionsgemeinschaften eine Rolle, und diese Debatte reicht bis in den Freizeitbereich hinein. Nur wenn man seine Meinung einbringt, kann man dafür sorgen, dass der Prozess in die eine oder die andere Richtung gelenkt wird. Es muss klar sein, dass man kein Opfer der Entwicklung ist, sondern Handelnder. Wir alle sind Akteure, die gebraucht werden.

Hinrich Thölken ist seit 2018 Sonderbeauftragter für Internationale Digitalisierungspolitik und digitale Transformation im Auswärtigen Amt. Der Humanmediziner ist seit 1989 im Auswärtigen Dienst tätig und war nach Stationen in Namibia, dem Kongo, den USA und Frankreich vor seiner aktuellen Tätigkeit Botschafter und Ständiger Vertreter der Bundesrepublik bei den Vereinten Nationen in Rom. © Auswärtiges Amt