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Europas digitale Souveränität als verantwortungsvolle Interessenspolitik

Die Digitalisierung immer weiterer Handlungsbereiche und die neue Konfliktivität zwischen den großen Mächten führen dazu, dass eine neue europäische Machtpolitik gefordert wird. Dass diese Forderung (nur) dann berechtigt ist, wenn sie im Einklang mit demokratischen Werten, multilateralen Prinzipien und der Beförderung einer offenen Gesellschaft steht, führen Annegret Bendiek und Jürgen Neyer aus.

Europas Herausforderung 

Die Weltgesundheitsorganisation, das US-Gesundheitsministerium und die Krankenhäuser in Spanien, Frankreich und Tschechien haben während der COVID-19-Krise massive Cyberangriffe erlitten. Wie der ehemalige deutsche Außenminister Joschka Fischer im Frühjahr 2020 in einem Beitrag im Handelsblatt herausgestellt hat, wird die Digitalisierung durch die globale Gesundheitskrise einen gewaltigen Schub erleben und die Europäer gleichzeitig mehr denn je vor die Frage ihrer digitalen Souveränität stellen. 

Schon vor COVID-19 sind Normen und Standards für die Entwicklung und Nutzung digitaler Technologien zu einer wichtigen europaweiten Aufgabe geworden und betreffen Themen wie den Kampf gegen Cyberangriffe und Desinformationskampagnen, die Ächtung von autonomen Waffensystemen, die Debatte über das Verbot der Gesichtserkennung oder die notwendige Regulierung künstlicher Intelligenz. Die Globalisierung der europäischen Datenschutzbestimmungen, die Verfolgung von Verantwortlichkeitsregelungen für Online-Plattformen und die Förderung einer rechtsstaatlich orientierten, daseinsvorsorgenden Technologie-Governance haben Europa in der Vergangenheit auf einen dritten Weg der Regulierung gebracht, der sich deutlich von dem eher privatwirtschaftlich geprägten Ansatz der USA und den stärker staatlich geprägten Regulierungen Chinas und Russlands unterscheidet. 

Um sein gesellschaftliches und politisches Integrationsmodell bewahren zu können, muss sich Europa heute in einem sicherheitspolitischen Umfeld behaupten, das zunehmend von wechselseitigen Bedrohungswahrnehmungen und einem an Dynamik gewinnenden Technologie- und Rüstungswettlauf geprägt ist. In diesem neuen Umfeld braucht Europa digitale Handlungsfähigkeit, die es im Rahmen einer verantwortungsvollen Machtpolitik ausübt.

Aufrüstung und Abschreckung im KI-Zeitalter

Verantwortungsvolle Machtpolitik ist sich ihres politisch-strategischen Umfeldes bewusst. Der Direktor des „Technology and National Security Program“ am „Center for a New American Century“, Paul Scharre, verweist in der Zeitschrift „Foreign Affairs“ etwa darauf, dass der beginnende Technologiewettlauf im Bereich der künstlichen Intelligenz das Sicherheitsdilemma des Nuklearzeitalters zu wiederholen drohe: Wie einst würde die technologische Entwicklung aus einem Gefühl der Bedrohung heraus entwickelt werden. Zudem habe die KI-Technologie potentiell offensive – mitunter kriegerische – Kapazitäten und könne damit von anderen Parteien als Gefährdung der eigenen Sicherheit interpretiert werden. Dies könnte wiederum dazu führen, dass diese Parteien ebenfalls offensiv einsetzbare Technologien entwickeln. Der Teufelskreis beginnt. Die zentrale Lehre des Nuklearzeitalters, dass nur Abrüstung und vertrauensbildende Maßnahmen zu einer höheren Sicherheit führen, wird hingegen sträflich vernachlässigt. 

Die Frage nach einem Wiederaufleben des Rüstungswettlaufes und der unkontrollierbaren militärischen Konfrontation ist eng damit verbunden, ob Abschreckung unter den Bedingungen schwieriger Attributierbarkeit von Cyberangriffen noch funktionieren kann. Cybersicherheitsexperten wie R. Clarke und R. Knake sind hier eher skeptisch und befürchten eine unkontrollierbare Verselbständigung von wechselseitigen Bedrohungen. Es gibt allerdings auch optimistischere Stimmen. Der ehemalige stellvertretende US-Verteidigungsminister (Assistant Secretary of Defense) und Dekan der John F. Kennedy School of Government (Harvard) Joseph Nye ist davon überzeugt, dass die internationale Normenentwicklung durchaus positive Effekte auf die Sicherheit im Cyber- und Informationsraum zeigen könne. Das Sicherheitsdilemma werde dann durchbrochen sein, wenn internationale vertrauensbildende Maßnahmen etabliert und mehr Transparenz über nationale Cyberkapazitäten geschaffen wäre.

Auch nichtstaatliche Akteure ließen sich grundsätzlich durch bilaterale Vereinbarungen zur Bekämpfung von Cyberkriminalität und den Einsatz nationaler Strafverfolgungsbehörden hinreichend eng kontrollieren. Ob und inwiefern dieses innenpolitisch auch umgesetzt werde, hänge allerdings untrennbar von dem Willen staatlicher Instanzen ab, die nötigen politischen Schritte zu unternehmen. Gerade bei den beiden wichtigsten Ursprungsorten nichtstaatlicher Cyberangriffe, Russland und China, muss das zumindest derzeit noch als eher fragwürdig bewertet werden. 

Wird globale Verflechtung zu einer Waffe?

Die technologieinduzierte Verunsicherung in der globalen Politik schlägt sich zudem immer stärker in einer grundlegend veränderten Bewertung der Chancen und Gefahren zwischenstaatlicher Interdependenz nieder. Es galt bis vor Kurzem als breit geteilter Konsens, dass die Nachkriegsordnung mit den drei Säulen des Multilateralismus, des internationalen Rechts und der internationalen Organisationen zu einer immer engeren globalen Verflechtung führen und damit allen Beteiligten große Chancen für mehr Wohlstand, den Aufbau von Vertrauen und damit letztlich für die Überwindung des Sicherheitsdilemmas bietet.

 

„Der Konsens über die drei Säulen des Multilaterlismus gilt heute nicht mehr ungeteilt.“

Dieser Konsens gilt heute zumindest nicht mehr ungeteilt. Die US-amerikanischen Politologen Henry Farrell und Abraham L. Newman beschreiben in der Zeitschrift „International Security“, dass weltweit die Einschätzung steige, dass Interdependenz nicht nur Versprechen, sondern auch Gefahr sei. Denn weltweite Netzwerke und Lieferketten im Finanz- und Handelssystem, in der Verwaltung des Internets und der globalen Kommunikationsordnung sind inzwischen stark asymmetrisch geprägt und können von Staaten als Waffe gegenüber politischen Gegnern verwendet werden. So lasse sich generell ein Prozess der „weaponization of interdependence“ beobachten: Mächtige Staaten steuern schon heute über die von ihnen dominierten Knotenpunkte im Netz den Fluss von Informationen und Ressourcen. In vielen Fragen – vom Zugang zum Weltwährungssystem und zu digitaler Kommunikationsinfrastruktur bis hin zum Zugang zu Medikamenten – werden diese Instrumente zu einer echten Machtressource, wenn Gegnern der Netzzugang schlichtweg verwehrt wird. Hier besteht heute die große Gefahr, dass die offene multilaterale Ordnung grundsätzlich in Frage gestellt und dass eine neue Phase des Protektionismus und der Abgrenzung eingeläutet wird. 

Europäische Vielstimmigkeit führt zum geopolitischen Bedeutungsverlust

Um in diesem unsicheren Umfeld bestehen zu können und sich wirksam für eine offene und liberale Weltordnung einsetzen zu können, müssen die europäischen Staaten eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik vorhalten. Die außenpolitische Zersplitterung Europas muss überwunden werden, wenn seine Stimme gehört werden soll. 

Diese Forderung wird auch durch außereuropäische Stimmen in der wissenschaftlichen Literatur unterstützt. Der chinesische Politologe Zang schreibt beispielsweise im „Journal of Common Market Studies“, dass die Europäische Union noch Anfang der 2000er Jahre von der chinesischen Regierung und dem außenpolitischen Establishment neben den USA als eine wesentliche geopolitische Größe angesehen worden sei. Doch das zerstrittene Umgehen mit der Finanzkrise 2008 und die Unfähigkeit Europas, sich in der Ukrainekrise 2011 gegen Russland durchzusetzen, hätten zu der Einsicht geführt, dass Europa zwar ein wichtiger Markt, aber mittelfristig kein relevanter politischer Akteur sein wird. Diese Einsicht hätte dazu geführt, dass die chinesische Regierung weiter ihre Politik der versuchten Spaltung Europas verfolgt und eher auf bilaterale Beziehungen zu einzelnen Mitgliedstaaten setzt. 

Ein neues Narrativ für die europäische Außenpolitik

Die Überzeugung, dass die Europäische Union ihre Begrenzungen in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik überwinden und zu einer supranational angeleiteten Geopolitik finden müsse, findet sich ganz ähnlich in einer von Mark Leonard und Jeremy Shapiro 2019 herausgegebenen Studie des „European Council on Foreign Relations“ mit dem programmatischen Titel „Strategic Sovereignty. How Europe Can Regain the Capacity To Act“. 

Die in der Studie vertretenen Positionen stellen in ihrer Konsequenz nichts weniger als einen fundamentalen Bruch mit der außenpolitischen Tradition Europas dar. Gefordert wird ein grundlegend neues machtpolitisches Narrativ jenseits der Erzählung von Europa als Friedensmacht. Europa, so Leonard und Shapiro, müsse dringend ein höheres Maß an strategischer Selbständigkeit gegenüber den USA entwickeln, wirkungsvolle außenpolitische Instrumente vorhalten, eine enge Verknüpfung von sicherheits- und wirtschaftspolitischen Instrumenten umsetzen und letztlich auch das Nachdenken über eigene nukleare Abschreckungspotentiale zulassen. Hierfür müssten alle Politiken der Europäischen Union – von der Wirtschafts- über die Technologie- bis hin zur Wettbewerbs- und Verteidigungspolitik – auf den Prüfstand gestellt und dahingehend befragt werden, inwiefern sie geeignet sind, die europäische Selbstbehauptung in einer zunehmend zerstrittenen Welt zu unterstützen. 

Ein neues Dilemma und seine Lösung

Eine Hinwendung Europas zu einem neuen Verständnis als globalpolitischer Rivale anderer Großmächte ist allerdings nicht ohne Risiko. Sollte sich der bereits heute erkennbare Trend einer Abkehr der großen Mächte von multilateralen Institutionen wie der Welthandels- und der Weltgesundheitsorganisation weiter fortsetzen und sich Europa ebenfalls auf den Weg unilateraler Interessensverfolgung begeben, dann wäre die liberale Weltordnung insgesamt bedroht. Hiermit würden Wohlstandsverluste für alle Staaten einhergehen. Die europäische Wohlfahrt wird erst durch die Wertschöpfung eines nach außen offenen und nach innen einheitlichen (digitalen) Binnenmarktes ermöglicht. Sollten sich aber tatsächlich alle großen Mächte von den bisherigen multilateralen Prinzipien abwenden und die Welt zunehmend als einen Ort der Verfolgung relativer Nutzen auf Kosten anderer Staaten begreifen, verlieren am Ende alle.

 

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Es ist heute daher wichtiger als vielleicht jemals zuvor seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges, daran zu erinnern, dass Wohlstand und Frieden einen verbindlichen europäischen und internationalen Rechtsrahmen mit klaren Regeln brauchen. Nur so können sich gemeinsame Märkte entwickeln und kann das digitale Sicherheitsdilemma abgebaut werden. Wenn sich jetzt auch Europa von dieser Überzeugung abwendet und sich merkantilistischen und auf dem Souveränitätsdenken aufbauenden Ansätzen zuwendet, droht ein Rückschritt in die noch vor kurzem überwunden geglaubte internationale Anarchie.

Wie also lässt sich auf die veränderten weltpolitischen Rahmenbedingungen und die technologischen Entwicklungen angemessen reagieren, ohne dabei entweder politisch naiv zu sein oder aber das Befürchtete soweit zu antizipieren, dass es faktisch geschaffen wird? Wie lässt sich ein Konzept der politisch und ökonomisch reflektierten strategischen Verflechtung im Kontext einer digitalen Außenpolitik in Europa umsetzen?  

Die institutionelle Dimension: Kooperatives Problemmanagement

Die europäische Integration ist das beste Beispiel dafür, wie durch Dialog, Multiperspektivität und Integration Frieden und Stabilität in Europa geschaffen werden konnte. Nicht die Betonung des Nationalstaats, sondern seine Überwindung hat die längste Friedenszeit in der Geschichte Europas ermöglicht. Eine ökonomische Integration, die sensibel für eigene Verletzbarkeiten ist und gleichzeitig auch den Nutzen der Verflechtung anerkennt, so Bendiek in „Europa verteidigen“, versteht dementsprechend auch Sicherheit als Ergebnis eines komplexen Prozesses der Integration in den Bereichen Handel, Entwicklung, Klima, Digitalisierung und Migration. 

Gerade im Krisenmanagement müssen im Sinne eines erweiterten Sicherheitsbegriffs dann Politikfelder stärker ressortübergreifend gedacht und bearbeitet werden, bei denen Nationalstaaten allein an ihre Grenzen stoßen. Integration in Europa darf nicht bei den vier Grundfreiheiten stehen bleiben, sondern muss auf die Bedingungen der digitalen Konstellation eingestellt und um diejenigen Bereiche erweitert werden, die für digitale Handlungsfähigkeit nötig sind. Der Schutz kritischer Infrastrukturen, die Entwicklung gemeinsamer defensiver Cyberkapazitäten und eine nachhaltige europäische Technologiepolitik gehören hier genauso hin wie eine verbesserte außenpolitische Strategiefähigkeit der EU. Weitere Integration nach innen ist eine notwendige Bedingung für eine effektive Globalpolitik in der digitalen Konstellation. 

„Nicht die Betonung des Nationalstaats, sondern seine Überwindung hat die längste Friedenszeit in der Geschichte Europas ermöglicht.“

Die Europäische Kommission hat hier eine wichtige Aufgabe. Sie muss noch stärker dafür zuständig werden, die Mitgliedstaaten vor Spaltungsversuchen von außen zu bewahren. Sie muss wachsam bei ausländischen Direktinvestitionen in strategisch wichtigen Wirtschaftsbereichen sein und die europäische technologische Souveränität im Zweifelsfall auch gegen die Interessen von Aktionären schützen. Gleiches gilt für den Aufbau eines europäischen Systems des Schutzes kritischer Infrastrukturen gegenüber digitalen Angriffen. Hier ist die Europäische Agentur für Cybersicherheit (ENISA) mit den Kompetenzen und Ressourcen auszustatten, den Mitgliedstaaten unterstützend zur Seite stehen zu können. Insgesamt kommt der Kommission zukünftig eine noch größere Rolle dabei zu, die europäische Daseinsvorsorge zu garantieren. 

Nicht alle Mitgliedstaaten werden diesen Weg mitgehen wollen. Und ebenso gilt es sich von der naiven Vorstellung zu verabschieden, dass alle Drittstaaten die gleichen Interessen haben und dass diese identisch mit den europäischen Anliegen sind. Digitale Außenpolitik verlangt heute eine stärkere Orientierung an unseren grundlegenden Werten und eine nachdrücklichere Ausrichtung der europäischen Außen(wirtschafts-)politik an den Werten der offenen Gesellschaft. Weder Abschottung noch naive Offenheit, sondern strategische Verflechtung ist das Gebot der Stunde. Wenn diese Einsichten berücksichtigt werden, dann gibt es allerdings gute Gründe davon auszugehen, dass sich die positive Integrationserfahrung der Vergangenheit auch auf die zukünftige Schaffung von Sicherheit im globalen Kontext übertragen lässt. 

Die demokratische Dimension: Eine digitale Version des Schengenraums

Jede Neuaufstellung einer europäischen Außenpolitik muss auf einer Allianz der demokratischen Multilateralisten aufbauen, die – anders als in der derzeitigen außenpolitischen Strategie Europas – auch die USA miteinbezieht. Nur zusammen mit Kanada, Australien, Japan und den USA wird Europa stark genug sein, um sich langfristig gegen China und andere autoritäre Staaten behaupten zu können. Auch hierzu finden sich in der Literatur bereits konkrete Vorschläge mit teilweise weitreichenden Konsequenzen. 

In der Zeitschrift „Foreign Affairs“ vom Oktober 2019 plädieren etwa Richard Clarke und Rob Knarke für die Gründung einer von den USA geführten „Internet Freedom League“, die alle diejenigen Staaten umfassen solle, die sich für ein freies, offenes und demokratisches Internet einsetzen. Diese Staaten sollten analog zum europäischen Schengenraum einen digitalen Block bilden, innerhalb dessen sich Daten, Dienstleistungen und Produkte frei bewegen können, während alle diejenigen Staaten, die die Meinungsfreiheit und den Schutz von Privatheit nicht achten sowie Cyberkriminalität zulassen, ausgeschlossen wären. In diesem „digitalen Schengenraum“ würden, angelehnt an die Koordinierung globaler Gesundheitspolitik durch die WHO, verletzliche Online-Systeme identifiziert, ihre Betreiber informiert und gemeinsam an deren Resilienz gearbeitet werden; Schadsoftware und Botnets würden frühzeitig beseitigt werden; Cyberangriffe unter den Mitgliedern wären untersagt. Eine Alternative zu vertrauensbildenden und kooperationsfördernden Maßnahmen kann dieser Vorschlag allerdings nicht darstellen. Letztlich sollte es das Ziel jeder Europapolitik sein, die Demokratie nicht nur zu schützen, sondern ihren Geltungsraum möglichst weit auszudehnen und Freiheit als globales Gut zu befördern.

Die technische Dimension: nichtstaatliche Akteure optimal einbinden

Die europäische digitale Außenpolitik muss außerdem dem Multistakeholderansatz möglichst breite Geltung verleihen und nichtstaatliche Interessengruppen und unabhängige Wissenschaftler in den Politikprozess integrieren. So unterstreicht Milton Mueller in dem Beitrag in der International Studies Review „Against Sovereignty in Cyberspace“, dass alle Hoffnungen auf ein globales Internet direkt davon abhängen, dass nichtstaatliche Akteure auch weiterhin eine wesentliche Governance-Rolle innehaben. Schließlich gibt es keine Garantie dafür, dass die von Russland und China betriebenen Maßnahmen der verstärkten Internetzensur durch "Deep Packet Inspection"-Instrumente und das Verbot von VPNs nicht auch irgendwann von einzelnen europäischen Mitgliedstaaten imitiert werden könnten, wenn den Staaten kein starkes gesellschaftliches Korrektiv gegenübergestellt ist.

„Nur eine digitale Außenpolitik, die auf den Prinzipien von strategischer Verflechtung, einem demokratischen Multilateralismus und einem parlamentarischen Multistakeholderansatz aufbaut, entspricht den Werten Europas.“

Die bisherige Praxis der Multistakeholder-Governance wird zu Recht dafür kritisiert, von den großen Digitalkonzernen als Instrument der Globalisierung eigener Interessen und technischer Standards missbraucht zu werden. Hier wird die EU in der Zukunft mit mehr supranationalen Kompetenzen auszustatten sein, damit sie noch stärker darauf achten kann, dass wichtige Institutionen wie die „Internet Corporation for Assigned Names and Numbers“, das „Internet Governance Forum“ oder die „Internet Engineering Task Force“ den Anforderungen inklusiver Partizipation genügen und zusätzlich zu privaten Unternehmensinteressen auch gewerkschaftliche Repräsentanten, Vertreter der unabhängigen Wissenschaft und der organisierten Zivilgesellschaft sowie Experten aus nationalen Parlamenten integrieren. 

Verantwortungsvolle Interessenspolitik

Nur eine digitale Außenpolitik, die auf den Prinzipien von strategischer Verflechtung, einem demokratischen Multilateralismus und einem parlamentarischen Multistakeholderansatz aufbaut, entspricht den Werten Europas und ist gleichzeitig im Einklang mit den funktionalen Anforderungen von globaler Politik in der digitalen Konstellation. Die immer wieder formulierte Anforderung, dass die EU aus ihrem politischen Dornröschenschlaf erwacht, eine eigene digitale Souveränität ausbildet und zu einem gestaltungsmächtigen Akteur auf der internationalen Bühne werden müsse, ist richtig. Sie bedarf aber einer nationalstaatlichen Bereitschaft, weitergehende Kompetenzen in der Cyberaußen- und Sicherheitspolitik sowie in der Digitalpolitik an die EU abzutreten und die parlamentarische Mitentscheidung des Europäischen Parlaments auszuweiten.

Verantwortungsvolle Interessenspolitik darf sich nicht auf die exekutive Selbstermächtigung von Regierungen, vertreten durch den Europäischen Rat, beschränken, sondern wird nur dann breite gesellschaftliche und bürgerliche Akzeptanz erhalten, wenn die Anforderungen von Demokratie, Multilateralismus und einer offenen und liberalen Gesellschaft erfüllt werden.

Über die Autoren

 

Dr. Annegret Bendiek ist Politikwissenschaftlerin bei der Stiftung Wissenschaft und Politik. 2014 wurde sie für das Projekt „Review 2014: Außenpolitik neu denken“ in den Planungsstab des Auswärtigen Amts berufen. Zuvor war sie Robert-Bosch-Fellow an der Transatlantic Academy und Visiting Fellow beim German Marshall Fund in Washington, D.C. Sie berät Regierungen, internationale Institutionen und Unternehmen in den Bereichen Europäische Außen- und Sicherheitspolitik, Cybersicherheit und Digitalisierung.

 

Prof. Dr. Jürgen Neyer ist Professor für Europäische und internationale Politik und Direktor der European New School of Digital Studies an der Europa-Universität Viadrina. Er hat bereits an Universitäten in Frankfurt am Main, Bremen, Berkeley, Florenz und Berlin geforscht und gelehrt. Seine aktuellen Forschungsgebiete umfassen u.a. die Konsequenzen der Digitalisierung für die Rekonstituierung politischer Souveränität in verflochtenen Mehrebenensystemen. © Privat