Kreislaufwirtschaft – eine runde Sache für Deutschlands Industrie
Einen Schock zu erfahren, kann bekanntlich auch heilsam sein. Manchmal brauchen wir ein erschütterndes Erlebnis, einen schmerzhaften Einbruch. Denn dies kann uns auch aufrütteln, den Blick aufs Wesentliche lenken, zur Einkehr und zur Umkehr bewegen. Die Corona-Krise trägt solche Züge. Die Menschheit hält inne. Schwelende Missstände rücken noch stärker ins Scheinwerferlicht, fundamentale Fragen treten mit voller Wucht zutage: Wie erreichen wir eine Welt, die gesünder und gerechter ist, smarter und umweltverträglicher? Wie retten wir vielleicht doch noch das Klima, wie bringen wir schwindende Ressourcen in Einklang mit der wachsenden Weltbevölkerung?
Viele sehen die Corona-Krise als eine Art Wendepunkt hin zu einer besseren und wirklich nachhaltigen Zukunft; der Begriff der „Green Recovery“ macht die Runde. Und die Voraussetzungen sind gut, dass er sich nicht als bloßes Modewort herausstellt. Es gilt nun, das entstandene Momentum sehr entschieden zu nutzen und auf ein übergeordnetes Ziel zu richten. Wenn wir jetzt die Reset-Taste drücken, dann müssen wir groß denken, sollten wir grundlegende Veränderungen einleiten in unserer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung.
„Wenn wir jetzt die Reset-Taste drücken, dann müssen wir groß denken.“
Mit der Kreislaufwirtschaft die lineare CO2-Wirtschaft überwinden
Die Blaupause dafür ist vorhanden: im Konzept der Kreislaufwirtschaft. Konsequent und global umgesetzt, wird sie den Umweltschutz erheblich voranbringen und zur Schonung unserer knapper werdenden Ressourcen beitragen. Insbesondere wird sie uns helfen, das große Ziel der Treibhausgasneutralität zu erreichen, um der Erderwärmung Einhalt zu gebieten: indem fossiler Kohlenstoff nicht mehr verbrannt oder zumindest weitestgehend in Kreisläufen geführt wird.
Das mag sich im Moment wie eine Utopie anhören, angesichts der Tatsache, dass der weltweite anthropogene – also der menschengemachte – CO2-Ausstoß nach Angaben des internationalen Forscherverbunds „Global Carbon Project“ im Jahr 2019 die Rekordmarke von fast 37 Milliarden Tonnen erreicht hat. Doch besitzen wir durchaus die Rezepte und technologischen Möglichkeiten, den Trend umzukehren, beispielsweise in der Energiewirtschaft. Woran es bislang vor allem fehlt, ist der gemeinsame Wille, sie auch umzusetzen, sind die Entschlossenheit, Konsequenz und Beharrlichkeit im Handeln aller Beteiligten.
Mit der durch Corona forcierten Einsicht in den dringenden Handlungsbedarf könnte sich das ändern. Jetzt könnte die Menschheit die nötige Schubkraft aufbringen, um die überkommene Linearwirtschaft mit ihren Konsum- und Produktionsmustern, die auf einmalige Nutzung ausgerichtet sind, zu verlassen. Kreislaufwirtschaft heißt: Güter lange und mehrfach verwenden, Abfall vermeiden und insbesondere unvermeidbaren Abfall als Ressource begreifen. Für die Verbraucher bedeutet das, mit Gewohnheiten zu brechen und ihr Verhalten entschieden zu ändern, während die Wirtschaft vor der Aufgabe steht, ihre Lieferketten, Produktionsweisen und Produkte umzustellen. Dies auch aus der Einsicht heraus, dass die Kreislaufwirtschaft mit ganz erheblichen ökonomischen Chancen verbunden ist. Nicht von ungefähr ist ja auch an den Kapitalmärkten eine zunehmende Tendenz zur Nachhaltigkeit zu beobachten.
Die Industrie und namentlich die Chemie- und Kunststoffbranche kann und will zu der „grünen“ Transformation viel beitragen. Dieser ressourcenintensive Sektor allein steht immerhin für rund sieben Prozent der weltweiten Treibhausgasemissionen. Hinzu kommt der Abstrahleffekt auf die vielen anderen Branchen, die Kunststoffe benötigen: die Autoindustrie, das Bauwesen, der IT-Sektor, um nur einige zu nennen. Auch deren CO2-Bilanzen beeinflussen die Kunststoffindustrie mit. Wenn sie es schafft, ihre Produktionsprozesse mit Hilfe der Kreislaufwirtschaft klimaneutral zu gestalten und entsprechend hergestellte nachhaltige Produkte anzubieten, ist schon viel gewonnen.
Alternativen zu Erdöl sind längst vorhanden
Noch nutzt die Branche für ihre Produktion überwiegend fossile Rohstoffe, deren Aufbereitung und Nutzung CO2 freisetzt. Derzeit entfallen sechs bis acht Prozent des globalen Erdöl-Verbrauchs auf die Herstellung von Kunststoffen, und der Bedarf könnte mit wachsender Produktion bis 2050 auf 25 bis 30 Prozent wachsen. Doch Alternativen zum Öl sind durchaus vorhanden – und finden auch zunehmend Verwendung. Biomasse etwa hat sich als nachwachsende Kohlenstoffquelle bewährt. So ist ihr Anteil an der Kunststoffproduktion zwischen 2008 bis 2015 von elf auf 14 Prozent gestiegen. Wobei die Nahrungsmittelproduktion grundsätzlich nicht beeinträchtigt wird, denn für die Kunststoffproduktion benötigt man nur einen Bruchteil der verfügbaren Ackerflächen.
Technologisch ist es zum Beispiel gelungen, wichtige Komponenten für Auto- und Möbellacke herzustellen, deren Kohlenstoffanteil bis zu 70 Prozent aus Biomasse besteht. Und in der Forschung wird gerade daran gearbeitet, ein neues Verfahren in größere Dimensionen zu überführen, mit dem sich der Kohlenstoff in der Grundchemikalie Anilin komplett aus Pflanzen synthetisieren lässt.
Als weitere Kohlenstoffquelle und Alternative zum Öl kommt zunehmend auch CO2 infrage. Meist wird Kohlenstoffdioxid dabei fest in Molekülketten eingebaut und so der Atmosphäre entzogen. Weltweit wird das Abgas Experten zufolge bereits in über 60 Firmen beziehungsweise Projekten mit unterschiedlichsten Ansätzen als Rohstoff verwendet. Auch werden erste kommerzielle Produkte auf CO2-Basis bereits vertrieben – Schaumstoffe für Matratzen etwa oder Kleber für Sportböden. An der Schwelle zur Marktreife stehen zudem Textilfasern auf CO2-Basis, die man zum Beispiel zur Herstellung von Socken einsetzen kann.
Dann ist da noch eine dritte große Möglichkeit für die Industrie, fossilfrei zu produzieren: das noch viel zu wenig genutzte konsequente Recycling von Altmaterialien, die man am besten erst gar nicht erst zu Abfall werden lässt. Derzeit werden weltweit rund 60 Prozent des Kunststoffabfalls weder verwertet noch verarbeitet. Das muss sich ändern. Und es lässt sich ändern. Auch, weil die Industrie intensiv an vielversprechenden neuen Recyclingverfahren arbeitet. Hier ist insbesondere das chemische Recycling zu nennen, bei dem Materialien in ihre Moleküle zerlegt werden, um aus diesen dann wieder neue Produkte herzustellen. Der Kohlenstoff wird dabei im Kreislauf gehalten – so, wie es die Natur bei der Kompostierung von Biomasse macht.
Neben dem noch in den Kinderschuhen steckenden chemischen Recycling und seinen Spielarten muss aber auch das herkömmliche mechanische Recycling, bei dem die Struktur des Materials erhalten bleibt, ausgebaut werden. Welcher Weg zum Ziel führt, ist von Fall zu Fall verschieden. Daher ist Technologieoffenheit ganz entscheidend, um die Kreislaufwirtschaft voranzubringen.
„Derzeit werden weltweit rund 60 Prozent des Kunststoffabfalls weder verwertet noch verarbeitet. Das muss sich ändern. Und es lässt sich ändern.“
Beim Produktdesign Recycling mitdenken
Das Konzept der Zirkularität greift aber nicht erst zum Schluss, wenn Produkte ausgedient haben. Es muss auch am Anfang ansetzen, beim Produktdesign. Künftig sollten Kunststoffe viel stärker von vornherein so konzipiert werden, dass sie nicht nur lange halten und oft verwendet werden können, sondern sich am Ende ihrer Nutzung auch optimal recyceln lassen.
Was natürlich nur bedingt hilft, wenn nicht auch die weltweiten Entsorgungssysteme und das Abfallmanagement als solches konsequent ausgebaut und verbessert werden. In vielen Gegenden der Welt ist hier noch Pionierarbeit zu leisten. Zudem müssen die Menschen für das Thema sensibilisiert und auch ernsthaft in die Lage versetzt werden, vor Ort etwas zu ändern. Erfreulicherweise gibt es Impulse in diese Richtung. So treibt etwa ein globales Firmenbündnis – die „Alliance to End Plastic Waste“ – seit Anfang 2019 die gesellschaftliche Aufklärung sowie den Auf- und Ausbau der Infrastruktur insbesondere in Entwicklungs- und Schwellenländern voran. Hand in Hand damit gehen die Weiterentwicklung von Recyclingtechnologien und viele kleine und große Projekte, um die Umwelt von Abfall zu befreien.
Es muss allen bewusst werden, dass man Kunststoffe nicht länger achtlos wegwerfen darf, dass sie vielmehr eine wertvolle Ressource und Molekülquelle sind. Gleichzeitig müssen wir uns aber auch deutlich vor Augen führen: Kunststoffe sind absolut Teil der Lösung und leisten einen großen Beitrag zur Nachhaltigkeit. Drei Beispiele: Kunststoffe machen Fahrzeuge leichter und reichweitenstärker, was Treibstoff schont. Sie dämmen Gebäude und senken so den Energiebedarf für Heizung und Kühlung. Und sie treiben die Nutzung erneuerbarer Energien voran – etwa indem Windkraftanlagen ergiebiger und kostengünstiger werden.
„Kunststoffe sind Teil der Lösung und leisten einen großen Beitrag zur Nachhaltigkeit.“
Die Kreislaufwirtschaft gelingt nur gemeinsam
Klar ist aber auch eins: Die Kreislaufwirtschaft lässt sich als gesamtgesellschaftliches Großprojekt nur realisieren, wenn alle an einem Strang ziehen – Gesellschaft, Politik, Wissenschaft, Investoren und selbstredend die Wirtschaft. Und innerhalb der Wirtschaft müssen wir besonders die sektoren- und länderübergreifende Zusammenarbeit fördern. Genannt sei hier nur der Schulterschluss von Stahl-, Energie- und Chemieindustrie, um mit Hüttengasen und grünem Strom innovativ und umweltfreundlich unter anderem Komponenten für Kunststoffe zu fertigen.
Die deutsche Wirtschaft hat hervorragendes Know-how und ausgezeichnete Ideen, um die Industrie klimaneutral zu machen und bei der Verwirklichung einer umfassenden Kreislaufwirtschaft ganz vorne mitzuspielen. Wir sollten keine Zeit verlieren, auch die nötigen Rahmenbedingungen zu schaffen oder zu verbessern – etwa dafür zu sorgen, dass langfristig die großen Mengen an erneuerbarer Energie zur Verfügung stehen, die für ein ressourceneffizientes zirkuläres System erforderlich sind. Dann haben wir die Chance, Deutschland zum weltweit gefragten Technologiestandort für ein zentrales Zukunftsthema zu machen.