Mit der Circular Economy zur wirtschaftlichen Resilienz
Herr Stuchtey, Sie sind Mitglied der Circular Economy Initiative Deutschland. Was verbirgt sich hinter dieser Initiative?
Im 21. Jahrhundert ist die Fähigkeit, Wohlstand mit minimalen Ressourceneinsatz zu erzeugen, ein zentraler Wettbewerbsvorteil. Circular Economy könnte zu einer Leitidee für die deutsche Volkswirtschaft und deren Innovationskraft werden. Es ist ein riesiges Themenfeld, das zwischen Industrie und Staat gestaltet und diskutiert werden muss. Die „Circular Economy Initiative Deutschland“, die gemeinsam mit der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften acatech ins Leben gerufen wurde, ist eine Plattform dafür.
Was genau ist unter „Circular Economy“ zu verstehen?
Circular Economy ist eine Wirtschaft ohne Abfall. Sie zielt darauf ab, das Wirtschaftswachstum vom Ressourcenverbrauch zu entkoppeln. Das gelingt, wenn durch eine effizientere Nutzung nicht erneuerbarer Ressourcen ihr Verbrauch weniger stark zunimmt als die Wirtschaft wächst, dann stagniert und schließlich endet. Das Konzept geht damit weit über das Recycling hinaus. Es umfasst den gesamten Lebenszyklus eines Produkts: Bereits das Design soll sicherstellen, dass das Produkt lange hält, gut repariert und wiederaufbereitet werden kann, was die Nutzungsphase intensiviert und verlängert. Am Ende der Lebensdauer sollen die verschiedenen Wertstoffe so weit wie möglich durch Sortieren und Demontage getrennt und stofflich für die erneute Nutzung aufbereitet werden können. Das Wichtigste ist jedoch dies: Dematerialisierter Wohlstand erfordert den Übergang von der Produkt- zur Leistungsökonomie. Nicht das Produkt selbst, sondern die von diesem bereitgestellte Leistung zählt. Wir verkaufen keine Kühlschränke, sondern Frische, keine Smartphones, sondern Konnektivität, keine Autos, sondern Mobilität, keine Reifen, sondern Kilometer. So gelingt das „zirkulare Wunder“: Durch innovative Geschäftsmodelle wird deutlich mehr Kundennutzen mit deutlich weniger Ressourceneinsatz möglich.
Kreislaufwirtschaft ist ein Konzept, über das bereits Jahrzehnte diskutiert wird. Sind wir nicht bereits „Recycling-Weltmeister“?
Die Kreislaufführung funktioniert in Teilen bereits ganz gut, allerdings sind wir leider nicht gut darin, das Material zu recyceln. Ich nenne nur ein paar Beispiele: Ein Deutscher produziert pro Jahr 226 Kilogramm Verpackungsmüll, davon sind 40 Kilogramm Kunststoff. Kunststoff wird lediglich zu 49 Prozent wiederverwertet, das meiste davon ist nur sehr minderwertig. Bei Gebäudeabfällen, die etwas mehr als die Hälfte des gesamten Müllaufkommens ausmachen, haben wir bislang keine Idee, wie wir diese hochwertig rückverwerten können. Bei Autos kehren derzeit lediglich zwei Drittel in den Kreislauf zurück, bisher wird von ihnen nur der Stahl verwertet. Und beim Stahl haben wir mit 90 Prozent zwar den höchsten Wiederverwertungsanteil. Allerdings wird hochwertiger Spezialstahl zu weniger wertigem Baustahl verhüttet, und es bleibt lediglich acht Prozent des Wertes erhalten.
„Wenn wir uns heute fragen, wie viel Bruttoinlandsprodukt wir mit einer Arbeitskraft erzeugen, müsste die Frage künftig lauten, wieviel Ressourcen wir dafür benötigen.“
Aber wie kann ein regeneratives System wie Circular Economy, zum Beispiel durch die Nutzung von Abfällen, eine Lösung sein?
Die Circular Economy ist nicht deshalb attraktiv, weil sie eine Kreislaufführung verspricht, sondern weil sie darüber hinaus eine Ressourcenentkopplung ermöglicht. Wer an den Kern der Probleme will, muss sicherstellen, dass wir weniger Ressourcen verbrauchen. Wenn wir den Wohlstand nicht runterschrauben wollen, müssen wir die Produktivität der Ressourcen verbessern. Im Augenblick verbrauchen wir weltweit 90 Milliarden Tonnen Ressourcen. Jeder Mensch verbraucht also im Schnitt ungefähr zwölf Tonnen, um durchs Jahr zu kommen – also Biomasse, Baustoffe, fossile Brennstoffe, Metalle und andere Mineralien. Die Bereitstellung der Ressourcen ist weltweit für etwa 50 Prozent der Klimagase und 90 Prozent des Artenverlustes verantwortlich. Wenn wir uns heute fragen, wie viel Bruttoinlandsprodukt wir mit einer Arbeitskraft erzeugen, müsste die Frage künftig lauten, wieviel Ressourcen wir dafür benötigen.
Warum ist das Thema für Ihr eigenes Unternehmen SYSTEMIQ relevant?
Zuerst einmal haben wir zum Beispiel das Pariser Klimaabkommen unterschrieben, in dem wir uns verpflichtet haben, unsere Treibhausgasemissionen zu reduzieren. Außerdem haben wir in Europa seit Dezember 2019 den „European Green Deal“, der bis 2050 eine klimaneutrale Wirtschaft vorsieht. Die Gedanken des Green Deal werden sicherlich auch maßgeblich bei der Vergabe von Corona-Konjunkturhilfen sein. Das betrifft die gesamte Wirtschaft – und daher muss in allen Branchen an Konzepten für die Zukunft gearbeitet werden.
Findet bereits ein Umdenken statt?
Ja, natürlich – und in einigen Bereichen funktioniert die Umsetzung bereits sehr gut. In der Nahrungsmittelindustrie werden zum Beispiel neue Proteinquellen entwickelt, um damit tierische Produkte abzulösen und so den mit der Tierhaltung verbundenen hohen Ressourcenverbrauch zu reduzieren. Die Verpackungsindustrie arbeitet fieberhaft an der Recyclefähigkeit ihrer Materialien. Auch bei der Umstellung unserer Stromversorgung auf erneuerbare Energien oder bei der Entwicklung kostengünstiger Energiespeicher sind wir schon auf einem gutem Weg.
„Wer an den Kern der Probleme will, muss sicherstellen, dass wir weniger Ressourcen verbrauchen.“
Was können Unternehmen noch tun, um Ressourcen zu schonen?
Für eine höhere Ressourcenproduktivität müsste sich die Herstellerverantwortung zur Herstellereigentümerschaft weiterentwickeln. Folgendes gedankliches Experiment: Hersteller verkaufen dann ihre Produkte nicht mehr, sondern Kunden erwerben über Leistungsverträge lediglich die Nutzungsrechte daran. Die Hersteller haben dann ein großes Interesse daran, dass die Produkte eine hohe Qualität haben. Gleichzeitig ergeben sich ganz neue Erlösmodelle für Unternehmen. Aus eigenem Interesse würden sie mit ihren Kunden Wartungsverträge abschließen, um eine hohe Verfügbarkeit zu gewährleisten und keine Austauschprodukte liefern zu müssen. Dafür gibt es ganz unterschiedliche Modelle, zum Beispiel könnten statt Waschmaschinen die einzelnen Waschgänge verkauft werden, anstelle eines Autos die gefahrenen Personenkilometer oder statt einer Heizung Wärme.
Rechnet sich das für Unternehmen?
In das Modell muss ein betriebswirtschaftlicher Anreiz eingebaut werden, Ressourcen zu sparen. Rein konzeptionell ist das Wertschöpfungspotenzial beim neuen zirkularen Modell höher, als bei den klassisch produktionsorientierten. In einem Personentransportkilometer stecken ein bis zwei Euro Zahlungsbereitschaft, deutlich mehr als die bis zu 15 Cent, die derzeit die Automobilhersteller für sich vereinnahmen.
Wie sollen Unternehmen die Transformationen bewältigen?
Viele Lösungen sind komplex und beruhen zum Teil auf neuen Technologien – die bereits zur Verfügung stehen, zum Beispiel mechanisches oder chemisches Kunststoffrecycling, die Abwicklung von Verträgen über Blockchain, die Herstellung biologisch abbaubarer Polymere, 3D-Druck in der Fertigung oder die Erschließung neuer Proteinquellen in der Nahrungsmittelproduktion. In vielen Bereichen hat Deutschland sogar einen Kompetenzvorsprung. Allerdings stehen neue Lösungen häufig im Konflikt zum Altgeschäft. Daher muss das ganze Thema erst einmal strategisch angegangen werden, damit es nicht nur als Kostenfaktor wahrgenommen wird, sondern als eine nachhaltige Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit und Einstieg in spannende Wachstumsmärkte.
„Ein Großteil der notwendigen Schritte ließe sich bereits mit vorhandener Technologie denken und umsetzen.“
Wo sehen Sie den größten Forschungsbedarf?
Bei der Entwicklung neuer und nachhaltigen Fertigungsmaterialen und Bio-Ökonomie gibt es noch Lücken. Auch Fragen zur Prozessarchitektur sind noch nicht beantwortet: Wie müssen künftige Prozesse aussehen, damit sie möglichst wenige Ressourcen verbrauchen – und zwar von der Herstellung über die Bereitstellung mit einem hohen Individualisierungsgrad bis hin zur industriellen Wiederverwertung. Die vieldiskutierte 3D-Technologie könnte den Durchbruch der Circular Economy oder den Weg zum unbegrenzten Ressourcenhunger markieren – je nachdem wie wir sie nutzen. In der Soziologie geht es zudem noch darum, wie das Verhalten von Konsumenten geändert werden kann. Insgesamt gibt es keine fundamentalen Forschungsdefizite. Ein Großteil der notwendigen Schritte ließe sich bereits mit vorhandener Technologie denken und umsetzen, die aber neu konfiguriert werden muss.
Auch in anderen Ländern wird an entsprechenden Industrieprozessen geforscht. Wo steht Deutschland im internationalen Vergleich?
Beim Potenzial stehen wir im internationalen Vergleich ganz weit vorne, in der Umsetzung sind wir aber im Augenblick eher lahm. Das ärgert mich. In den vergangenen 15 Jahren haben wir sogar viel Kompetenzvorsprung aufgegeben – sowohl bei diesem Thema als auch beim Thema Klimaschutz insgesamt. Andere Länder haben aufgeholt. In Deutschland sah man viele Jahre keinen Handlungsbedarf, da Deutschland einen zweiten industriellen Frühling erlebte. Und im Gegensatz zu anderen Ländern war hier die Startup-Mentalität nicht so ausgeprägt, es fehlte häufig der Mut und die politische Rahmensetzung.
Was wären die Stellschrauben, um wieder mehr Tempo zu gewinnen?
Bei großen industriellen Brüchen helfen drei Dinge: erstens ein Staat, der Risiken trägt, zweitens eine aktive Startup-Kultur als Konkurrenz und Katalysator für die bestehenden Lösungen und drittens eine veränderte Kultur wie wir innerhalb von Wertschöpfungsketten zusammenarbeiten.
Welche Chancen bietet hier eventuell auch die Corona-Krise?
Wir erleben so eine Situation zum ersten Mal und daher gibt es hier keine Interpretationsschablonen. Aber es gibt einen philosophischen Aspekt: Die Tatsache, dass wir im Augenblick so sichtbar und leichten Herzens Verhaltensmuster abgelegt haben, von denen wir bisher dachten sie seien unüberwindlich, eröffnet neue, sehr weite Denkräume. Und das verbessert auch die Startposition der Circular Economy. Mit ihr kann der Übergang von der Effizienz- zur Resilienzwirtschaft gelingen. Und deren Wert beginnen wir in Zeiten der Corona-Krise zu erkennen.