Schmelzer am Hochofen © Salzgitter AG

„Technisch ist grüner Stahl machbar“

Im Projekt SALCOS projektiert der Stahlkonzern Salzgitter ein neues Produktionsverfahren in industriellem Maßstab, bei dem Wasserstoff statt Kohle eingesetzt wird, um eine emissionsarme Stahlerzeugung zeitnah zu verwirklichen. Was heute schon möglich ist und wo die Herausforderungen liegen, erklärt Volker Hille, Leiter Corporate Technology Salzgitter AG.

Herr Hille, die deutsche Stahlindustrie emittiert rund 60 Millionen Tonnen CO2 pro Jahr. Mit welchen Technologien kann die Produktion energieeffizienter gemacht werden, damit Ihre Industrie bis 2050 klimaneutral wird? 

Effizient ist sie bereits, wenn man Effizienz auf den Energieansatz bezieht, der heute aus der Kohle kommt. Der Prozess ist so weit ausgereift, dass wir uns an der unteren Grenze dessen befinden, was naturwissenschaftlich möglich ist. Im Umkehrschluss bedeutet das: Wenn wir eine wesentliche Menge an CO2 einsparen sollen, können wir das nicht in den bestehenden Prozessen tun. Der Lösungsweg liegt darin, den Kohlenstoff insgesamt zu ersetzen. Heute hat der Kohlenstoff zwei Aufgaben: Er ist chemischer Reaktionspartner, um den Sauerstoff aus dem Erz zu holen. Und er ist Energielieferant. Die Rolle des Reaktionspartners kann Wasserstoff übernehmen und die Rolle des Energielieferanten Strom. Dafür müssen wir auf neue Prozesse umstellen und neue Produktionsanlagen bauen: weg von der Hochofenroute hin zu Direktreduktionsverfahren und Elektrolichtbogenöfen.

Es ist also nicht möglich, bereits jetzt den Abschied von der Kohle einzuleiten?

Wir kommen von der Steinkohle. Wir sind damit so „schwarz“ wie keine andere Industrie, die es weiterhin geben soll. Es gibt zwar die Möglichkeit, in die bestehenden Hochöfen gewisse Mengen Wasserstoff einzublasen. Die CO2-Minderung, die sich so erzielen lässt, ist allerdings prinzipiell beschränkt und der Einsatz von Wasserstoff dafür vergleichsweise hoch – einen CO2-freien Hochofen gibt es nicht. Insgesamt ist das also keine geeignete Lösung, um die für die Stahlindustrie vorgesehenen Klimaziele zu erreichen.

Welchen neuen Lösungsweg geht die Salzgitter AG?

Als weltweit erster Stahlkonzern verfolgen wir bereits seit fünf Jahren mit SALCOS – Salzgitter Low CO2 Steelmaking – ein technisch direkt umsetzbares wasserstoff- und strombasiertes Produktionsverfahren, mit dem wir die CO2-Emissionen bei der Stahlerzeugung um bis zu 95 Prozent senken können. In einem ersten Schritt wollen wir festen „Eisenschwamm“ im Direktreduktionsverfahren erzeugen. Anders als auf der Hochofenroute wird hier als Reduktionsmittel keine Kohle, sondern es werden Wasserstoff und Erdgas eingesetzt. Danach veredeln wir den Eisenschwamm in Elektrolichtbogenöfen zu Stahl. Das Direktreduktionsverfahren müssen wir nicht erst erfinden. Solche Anlagen sind dort, wo es reiche Erdgasvorkommen gibt, industriell bereits in Betrieb. Auch Elektrolichtbogenöfen sind Stand der Technik. Bezogen auf die Weltstahlproduktion läuft über diese Route allerdings nur ein sehr kleiner Anteil: etwa sieben Prozent.

 

Der Lösungsweg liegt darin, den Kohlenstoff insgesamt zu ersetzen.

Wo liegt die Innovation bei Ihrer Lösung?

Wir können das Direktreduktionsverfahren sowohl mit Erdgas als auch mit Wasserstoff oder mit jedem Mischungsverhältnis dieser Gase betreiben – ohne Änderung an der Anlage. Der innovative Kern des Konzepts liegt in dieser hohen Flexibilität und im Endeffekt natürlich in dem angestrebten hundertprozentigen Betrieb mit Wasserstoff. Mit grünem Wasserstoff. Wie gesagt: Wir haben die Einzelkomponenten nicht erfunden, sondern wir kombinieren industriell bekannte Dinge und bauen daraus etwas, das es so in der Stahlindustrie in Europa noch nicht gibt. Unser Ziel ist es, die CO2-Minderungsziele in unserer Industrie möglichst effektiv zu erreichen.

Vor welchen technischen Herausforderungen stehen Sie dabei?

Der reine Wasserstoffbetrieb ist industriell schon erprobt. Neu und spannend ist aber dieser fluktuierende Betrieb mit Wasserstoff und Erdgas. Weil heute die großen Mengen Wasserstoff noch fehlen, die wir für eine CO2-freie Stahlerzeugung benötigen, könnten wir zunächst Erdgas einsetzen. Dann sind wir weg von der Kohle und bereits die Hälfte der heutigen CO2-Emissionen los. Das ist ein Riesenschritt in die richtige Richtung. Im nächsten Schritt wollen wir dann Erdgas immer mehr durch Wasserstoff ersetzen. Am Ende ist das Verfahren CO2-frei. Die ganz große Herausforderung ist natürlich, dass wir hier ein integriertes Hüttenwerk haben, das wie ein großes Uhrwerk arbeitet. Alle Prozessstufen sind sowohl in ihren Stoffströmen als auch energetisch aufeinander abgestimmt und voneinander abhängig. Wir nutzen die erzeugten Gase, um unseren eigenen Strom zu produzieren. Auf diese Weise sind wir über das Jahr gesehen stromautark. Wenn wir die neuen Prozesse in dieses bestehende Uhrwerk einbringen, müssen wir alles neu justieren. Da die Gase im Direktreduktionsverfahren vollständig verbraucht werden, werden wir künftig grünen Strom importieren müssen. All diese Details der energetischen Neuausrichtung des Gesamtorganismus sind nicht ohne. 

Wenn Sie das alles bewältigt haben, werden Sie dann grünen Stahl produzieren?

Technisch ist grüner Stahl machbar. Zumindest in immer steigenden Anteilen. Wir haben hier drei Hochöfen und können nicht parallel dazu so viele neue Anlagen aufbauen, um die Hochöfen an einem Tag X einfach abschalten zu können. Um ihnen ein Gefühl zu geben: Wenn wir eine solche Direktreduktionsanlage und einen Elektrolichtbogenofen sowie die Elektrolysekapazität bauen, die zunächst einmal ausreichend wäre, um ein Drittel der benötigten Reduktionsenergie über grünen Wasserstoff bereitzustellen, dann würde eine solche Konfiguration ungefähr 1,2 Milliarden Euro kosten. Damit erreichen wir eine Reduktion von zwei Millionen Tonnen CO2 pro Jahr. Das entspricht in etwa der Menge, die man mit einem Tempolimit auf den Autobahnen erreichen könnte. Augenblicklich emittieren wir etwa acht Millionen Tonnen CO2 pro Jahr. Wenn wir in den kommenden Jahrzehnten alle drei Hochöfen ersetzen würden, wären wir in der Lage, nur noch grünen Stahl zu produzieren. 

Coillager in Salzgitter © Salzgitter AG

Stahlrohre © Salzgitter AG

Wer sind Ihre Partner in der Entwicklung?

Grundsätzlich haben wir uns zunächst einmal selbst dafür entschieden, diesen technischen Weg der „Carbon Direct Avoidance“ einzuschlagen, also ein Verfahren zu wählen, das die Entstehung von CO2 im Stahlherstellungsprozess selbst weitgehend vermeidet. Gemeinsam mit unserem Partner Tenova haben wir dann die entsprechenden Berechnungen angestellt, welche CO2-Minderungen wir erreichen können und was das energetisch bedeutet. Es ist wichtig, dass diese Berechnungen von dritter Seite geprüft werden und einer neutralen Bewertung standhalten. Diesen Part hat von Beginn an die Fraunhofer Gesellschaft übernommen. Wir stellen fest, dass auch unsere Wettbewerber peu à peu auf diesen Weg einschwenken. Natürlich sind für das Verfahren ebenso große Investitionen wie bei anderen Dekarbonisierungsansätzen erforderlich, aber man braucht für unsere Lösung vergleichsweise viel weniger grüne Energie.

Wie sieht Ihre Roadmap aus?

Die Politik hat uns den Ball zugeworfen: Betreibe weiter Industrieproduktion aber dekarbonisiere sie. Diesen Ball spielen wir jetzt zurück: Hier haben wir einen Vorschlag, der technisch umsetzbar ist, und zwar relativ zeitnah. Relativ deshalb, weil wir ein paar Jahre brauchen, um eine solche Anlage zu planen, genehmigen zu lassen, zu errichten und in Betrieb zu nehmen. Wenn wir heute die Entscheidung träfen, dann wäre so eine Anlage 2024 oder 2025 in Produktion. Das können wir aber in der Realität noch nicht tun, weil die Produktion teurer ist als auf Kohlebasis; deswegen setzen wir – genau wie der Rest der Welt – heute noch Kohle ein.

Wie hoch schätzen Sie die Nachfrage nach grünem Stahl ein?

Im Moment ist sie Null. Die Kunden sind nicht bereit, für Stahl mehr zu bezahlen, nur weil er grün ist. Der Preis für Stahl wird auf dem globalen Markt bestimmt.

Wir brauchen ein weltweites CO2-Regime, damit grüner Stahl mit konventionellem Stahl preislich konkurrieren kann.

Was muss also passieren, dass grüner Stahl Nachfrager findet?

Wir brauchen einen Markt für grünen Stahl. Einen Markt, der sicherstellt, dass der Stahlproduzent die Kosten für die Dekarbonisierung auch umlegen kann. Anders ausgedrückt: Eigentlich brauchen wir ein weltweites CO2-Regime, damit grüner Stahl mit konventionellem Stahl preislich konkurrieren kann. Wenn alle großen stahlerzeugenden Länder wie die USA, China, Indien, Russland oder die Türkei sich an den Klimaschutzanstrengungen beteiligen würden, dann wäre die Sache klar. Aber so ist es ja leider nicht. Damit wir also der Welt demonstrieren können, dass man auch energieintensive Industrien wie Stahl, Zement oder Chemie dekarbonisieren kann, brauchen wir einen geschützten „Experimentierraum“ in Europa. Wenn wir hier keine Erfolge in der Transformation zu CO2-armen Produktionsprozessen erreichen, wird es uns niemand nachtun – und dann schafft die Menschheit die weltweiten Klimaziele nicht. 

Wie stellen Sie sich dieses Experimentierfeld vor?

Hier wird ein ganzer Strauß von Instrumenten diskutiert. Zum Beispiel eine Grenzausgleichsregelung für Stahl. Das heißt, für CO2-behaftete Stahlerzeugnisse würde an der Grenze eine Abgabe erhoben. Das scheint jedoch mit den Regeln der WTO nicht gut vereinbar zu sein. Eine andere Möglichkeit sind ordnungsrechtliche Maßnahmen. So könnte man ähnlich wie bei den Treibstoffen vorschreiben, dass relevante Produkte, etwa Autos, x Prozent grünen Stahl enthalten müssen. Ein weiteres Instrument sind sogenannte „Carbon Contracts for Differences“.  Dies alles muss diskutiert und durchgesetzt werden. Am Ende führen alle Wege zu höheren Preisen für Stahl. Die Klimaschutzbemühungen sind nicht kostenlos. Wir stellen aber guten Willen bei allen Stakeholdern in Gesellschaft und Politik fest, so dass wir optimistisch bleiben, dass grüner Stahl Realität wird.

Volker Hille ist Diplom-Physiker und hat in Ingenieurwissenschaften promoviert. Seit 2010 ist er für die Salzgitter AG tätig und seit 2015 Projektleiter von SALCOS (Salzgitter Low CO2 Steelmaking). Als Leiter Corporate Technology verantwortet er seit 2018 alle technologischen Themen des Konzerns. © Salzgitter AG, Carsten Brand

Wir sprachen mit Gunnar Groebler, Vorstandsvorsitzender der Salzgitter AG, über den Weg zur klimaneutralen Stahlproduktion. ©BDI