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„Europa steht am Scheideweg“

Henrik Enderlein ist Präsident der Hertie School of Governance in Berlin und leitet das Jacques Delors Institut, einen europäischen Think Tank, den er 2014 mitgründete. Im Interview erklärt Enderlein, warum nach der Europawahl der Aufbau eines digitalen Binnenmarktes und eine Reform der Währungsunion die wichtigsten Aufgaben und größten Herausforderungen für das neue Europarlament sein werden.

Herr Enderlein, Sie haben im vergangenen Jahr gemeinsam mit weiteren führenden Ökonomen aus Deutschland und Frankreich eine Reform der Eurozone gefordert, um die Wirtschaftskraft der Euroländer zu stärken. Welche Veränderungen muss das neue Parlament nach der Europawahl angehen?

Die Vertiefung der Wirtschafts- und Währungsunion bleibt eine Priorität. Leider wird gerade in Deutschland weiterhin unterschätzt, wie zerbrechlich der Euro noch immer ist – vor allem falls es zu einer erneuten Wirtschaftskrise kommen sollte. Aber es gibt auch weiterreichende strukturelle Herausforderungen. Die europäische Volkswirtschaft befindet sich mitten in einem tiefgreifenden Umbruch. Die Digitalisierung verändert die Märkte und schafft eine neue Art der grenzüberschreitenden Wertschöpfung, die sich nicht mehr auf nationalstaatlicher Ebene lenken lässt. Die EU könnte ein Teil der Lösung für diese Herausforderungen sein. Wir brauchen einen einheitlichen digitalen Binnenmarkt. Wir brauchen gemeinsame Standards in Europa statt des bisherigen Flickenteppichs nationalstaatlicher Regelungen. Themen wie künstliche Intelligenz, Elektromobilität oder die Besteuerung digitaler Wertschöpfung warten nicht auf die Politik. All diese Themen dulden keinen Aufschub, sie müssen nach der Wahl so schnell wie möglich angegangen werden.

Warum diese Dringlichkeit?

Europa hat das Potenzial, bei vielen wirtschaftlichen Zukunftsthemen Vorreiter zu sein und Standards für die neue, digitale Wirtschaft zu setzen. Gleichzeitig befindet sich Europa aber aktuell in einer globalen wirtschaftspolitischen Lage, in der wir immer stärker in eine Defensivposition gedrängt werden. Der Konflikt zwischen den USA und China zeigt, dass die EU als multilateraler Akteur sich in einer immer stärker unilateral geprägten Welt behaupten muss. Gleichzeitig müssen wir uns rüsten für wirtschaftlich schwierigere Zeiten, die Strukturen der wirtschaftlichen Zusammenarbeit effizienter und krisensicher aufstellen. Ist unser Bankensystem langfristig stabil genug, auch für eine Phase niedrigeren Wachstums? Sind wir in der Lage, schnell und effizient gemeinsame Entscheidungen zu treffen in Fragen des Binnenmarktes, im Außenhandel und der Außen- und Sicherheitspolitik? Nur aus einer Position der multilateralen Stärke heraus können wir die wirtschaftlichen Chancen nutzen und uns im globalen Wettbewerb behaupten. Diese Position der Stärke zu schaffen, den multilateralen Gedanken zu erhalten, das werden die Herausforderungen sein, vor denen das neu gewählte Parlament steht.

Wie beeinflusst der Ausgang der Europawahl die Chancen, dass eine solche Reform gelingt?

Durch die Wahl wird einiges in Bewegung kommen. Schon allein durch den Austritt Großbritanniens werden sich die Fraktionen im Parlament neu ordnen müssen. Im neuen Parlament wird aller Voraussicht nach eine große Koalition der pro-europäischen, konstruktiven Kräfte aus Konservativen, Sozialdemokraten und Liberalen einer kleineren, europaskeptischen Fraktion mit den Vertretern der alten und neuen populistischen Bewegungen von links und rechts gegenüber sitzen. Bewegungen wie die „En Marche“-Initiative des französischen Präsidenten Macron werden sich wohl in die pro-europäische Fraktion eingliedern. Bei der Europawahl entscheidet sich nicht zuletzt, wie stark die europaskeptischen und populistischen Kräfte im Parlament sein werden. Und damit auch, ob und mit welcher Konsequenz die nötigen Veränderungen der Eurozone vorangetrieben werden können.

Im Anschluss an die Wahl werden weitere wichtige Posten wie der des Kommissionspräsidenten, des Präsidenten des Europäischen Rates und des Hohen Vertreters für die Außen- und Sicherheitspolitik besetzt. Erwarten Sie auch bei diesen Posten große Veränderungen?

Sicher ist im Vorfeld nur, dass die Besetzung dieser Spitzenposten kein Selbstläufer sein wird. Wahrscheinlich ist, dass die Besetzung der Posten in einem Gesamtpaket gelöst wird, und dass es zähe und schwierige Verhandlungen über dieses Paket geben wird. Auch hier wird es wohl grundsätzliche Debatten zwischen pro-europäischen und europaskeptischen Vertretern geben. Länder wie Polen, Ungarn, Griechenland und Italien werden wohl eher EU-skeptische Kommissare entsenden. Das wird den Charakter der Kommission verändern. Wir werden in Parlament und Kommission intensive Debatten nicht nur über Detailfragen sehen – sondern darüber, wie die Zukunft der EU ganz grundsätzlich aussehen soll.

Die anstehende Europawahl entscheidet also über die Zukunftsfähigkeit Europas?

Ja. Europa steht genau jetzt an einem Scheideweg. Der französische Präsident Emmanuel Macron hat Recht, wenn er schreibt, dass Europa noch nie in so großer Gefahr war. Sein Ruf nach einer Renaissance Europas ist richtig und wichtig.

Die neuen Entscheidungsträger werden sich auch recht bald mit der Planung des neuen EU-Haushaltes befassen müssen. Um welche Fragen wird es dabei gehen?

Auch beim Haushalt werden nach der Europawahl sehr wichtige Weichen für die Zukunft gestellt. Es geht immerhin um die Frage, wie und wofür die EU in den Jahren 2021 bis 2027 Geld ausgeben wird. Der EU-Haushalt darf kein Verschiebebahnhof von nationalen Geldern sein. Es geht um die europäische Wertschöpfung und europäische öffentliche Güter. Welche Rolle werden Themen wie der Klimawandel, die Reform der Energie- und Mobilitätsmärkte spielen? Welche Budgets werden für den Ausbau der digitalen Infrastruktur zur Verfügung stehen? Was ist uns eine gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik wert? Von der Europawahl muss das Signal ausgehen, dass die EU Teil der Lösung ist, nicht Teil des Problems.