Menschen auf der Straße

@ Unsplash/Jacek Dylag

Binnenmarkt-Notfallinstrument der EU-Kommission schießt übers Ziel hinaus

Das neue Notfallinstrument der EU-Kommission soll den Binnenmarkt besser vor Krisen wie zu Beginn der Covid-19-Pandemie schützen. Hierfür will die Kommission im Notfall unmittelbar in die Produktionsabläufe von Unternehmen eingreifen können. Vorgesehen sind unter anderem verpflichtende Informationsanfragen, Umwidmung von Produktionskapazitäten, und die Priorisierung von Aufträgen. Der deutschen Industrie gehen manche dieser neuen Befugnisse zu weit.

Im September 2022 legte die EU-Kommission ihren Legislativvorschlag für ein Binnenmarkt-Notfallinstrument („Single Market Emergency Instrument“, kurz: SMEI) vor. Dieses zielt darauf ab, den freien Waren-, Dienstleistungs- und Personenverkehr im Binnenmarkt in Krisensituationen zu gewährleisten und strategisch wichtige Lieferketten aufrechtzuerhalten. Situationen wie zu Beginn der Covid-19-Pandemie sollen so zukünftig verhindert werden.

Konkret schlägt die Kommission einen dreistufigen Ansatz zum Krisenmanagement mit entsprechenden Einzelmaßnahmen vor. Auf der ersten Stufe, dem „Präventions-Modus“, soll eine Risikobewertung potenziell gefährdeter strategischer Güter und Dienstleistungen erfolgen. Die hierfür benötigte Information etwa zu Produktionskapazitäten, Lieferketten, oder Lagerbeständen, soll notfalls durch verpflichtende Anfragen an Unternehmen eingeholt werden. Bei Bedarf kann die Kommission Mitgliedstaaten mit der Schaffung strategischer Reserven beauftragen, deren Umsetzung wohl weitgehend Aufgabe von Unternehmen wäre.

Der Wachsamkeits- und Notfall-Modus

Die Aktivierung der zweiten Stufe, des „Wachsamkeits-Modus“, soll dann im Falle eines „bedeutsamen Ereignisses“ erfolgen, „welches das Potential hat, Lieferketten strategisch wichtiger Güter und Dienstleistungen erheblich zu gefährden, die auf nicht-diversifizierbaren und nicht-ersetzbaren Input angewiesen sind“. Diese Formulierung lässt bereits erahnen, dass der Anwendungsbereich von SMEI auch strategische Rohstoffabhängigkeiten der EU umfassen, und dadurch eine bedeutende geopolitische Dimension erhalten könnte.

Auf der dritten und höchsten Stufe, dem „Notfall-Modus“, sollen der Kommission schließlich weitreichende Eingriffsrechte in das Marktgeschehen zur Verfügung stehen. Zum einen soll sie Mitgliedstaaten davon abhalten können, unilateral Maßnahmen zu ergreifen, die die Freizügigkeit im Binnenmarkt beschränken. Zum anderen soll es ihr möglich sein, Produktionskapazitäten von Unternehmen umzuwidmen, das Inverkehrbringen von Gütern zu beschleunigen, strategische Reserven umzuverteilen, und gemeinsame öffentliche Beschaffungen durchzuführen. Außerdem sollen Unternehmen mit Prioritätsaufträgen beauftragt werden können. Bei Nichteinhaltung drohen hohe Buß- und Zwangsgelder.

Eine neue Governance für das Krisenmanagement

Zu beachten gilt, dass die Aktivierung dieser Krisenmaßnahmen sowohl die Zustimmung einer eigenen SMEI-Beratergruppe („SMEI Advisory Group“) als auch eigener Durchführungsrechtsakte bedarf. Der Notfall-Modus kann beispielsweise nur durch die Mitgliedstaaten im Rat ausgerufen werden. In den Durchführungsrechtsakten muss die Kommission ihre Beweggründe, die betroffenen Sektoren, Güter und Dienstleistungen sowie die vorgeschlagenen Krisenmanagementmaßnahmen im Detail darlegen.

Vorschlag schießt übers Ziel hinaus

Die deutsche Industrie sieht die Vorschläge der Kommission insgesamt kritisch. Die Intention der Kommission, die Resilienz des Binnenmarktes in Krisenzeiten zu stärken, ist grundsätzlich richtig. Die Covid-19-Pandemie hat gezeigt, dass ein europäischer Koordinierungsmechanismus erforderlich ist, um nationale Alleingänge zu vermeiden und die hoch vernetzten und interdependenten europäischen Wertschöpfungsketten aufrechtzuerhalten. Diejenigen Teile des Vorschlags, die sich auf die Sicherstellung der Funktionsfähigkeit des Binnenmarktes in Krisenzeiten beziehen, sind daher zu begrüßen.

Problematisch erscheinen allerdings die geplanten Eingriffsrechte der Kommission gegenüber Unternehmen. Mit Sorge sieht die deutsche Industrie vor allem verpflichtende Informationsabfragen, Anweisungen zur Ausweitung oder Umwidmung von Produktionskapazitäten und verpflichtende Prioritätsaufträge. Aus Sicht des BDI handelt es sich hier um stark interventionistische und planwirtschaftliche Maßnahmen, mit denen die Kommission unverhältnismäßig weit über das eigentliche Ziel hinausschießt.

Nicht zuletzt bleiben wichtige Fragen hinsichtlich der Entscheidungsgrundlagen und -abläufe der neuen Advisory Group offen. Für die Wirtschaft entsteht große Unsicherheit, wenn nicht nachvollziehbar ist, wann und auf Basis welcher Entscheidungskriterien eine Krisensituation vorliegt und welche Sektoren, Güter und Dienstleistungen von strategischer Bedeutung sind.