Die Industrienation Deutschland hat das Zeug, die Transformation in den kommenden Jahren zu schaffen
„Die größte Industrieschau der Welt, die Hannover-Messe, beginnt dieses Jahr mit dem Leitthema Industrial Transformation – Making the Difference. Ich bin zuversichtlich, dass die Industrienation Deutschland das Zeug hat, diese Transformation in den kommenden Jahren zu schaffen. Und dann hat sie den so wichtigen Unterschied gemacht, für den sie in der Welt bekannt ist.
Mehr als 4.000 Aussteller aus rund 60 Ländern sind dabei. Es ist in dieser Woche eine beeindruckende Leistungsschau auch und gerade deutscher Unternehmen zu bestaunen. Und vor allem viele hervorragende Innovationen made in Germany. Denn Innovation war und ist der stärkste Trumpf der deutschen Industrie im globalen Wettbewerb. Dieser Wettbewerb ist heftig. Nach dem Sturm, der die gesamte Weltwirtschaft und uns in Deutschland ganz besonders in Folge des russischen Angriffskriegs in der Ukraine überrascht hat, muss es jetzt gelingen, endlich wieder in der Breite der Industrie nach vorn zu kommen. Das ist dringend notwendig, damit sich der Standort Deutschland und seine fast einzigartigen Wertschöpfungsnetzwerke behaupten, wir unsere Resilienz weiter verbessern und unsere Stärke sichern beziehungsweise Zweifel an ihr überwinden.
Ich möchte die positive Stimmung zum Auftakt der Messe durch unseren Blick auf Konjunktur und Weltwirtschaft nicht trüben, aber eine realistische Standortbestimmung muss sein. Und die zeigt, dass die Rede von einem neuen Wirtschaftswunder und einer langen Phase deutschen Wirtschaftswachstums, wie wir sie aus der Bundesregierung hören, vorläufig eher Wunschdenken als Realität ist.
Die wirtschaftliche Dynamik in unserem Land ist aktuell noch ausgesprochen gering. In diesem Jahr rechnet der BDI mit einem Anstieg des Bruttoinlandsproduktes (BIP) nahe an der Null-Prozent-Linie. Ein solches Mini-Wachstum ist weit entfernt vom Wachstum der Weltwirtschaft, das der Internationale Währungsfonds bei 2,8 Prozent sieht. Im Vergleich fallen wir also deutlich zurück.
Beim BIP bleibt Deutschland schwach, bei den Exporten erwarten wir im BDI für 2023 sogar ein geringeres Wachstum als 2021 und 2022. Die Ausfuhren im Exportland Deutschland legen in diesem Jahr demnach um gerade einmal zwei Prozent zu. Im vergangenen Jahr erreichte das Plus immerhin knapp drei Prozent. Erneut verlieren wir Weltmarktanteile, weil der Welthandel stärker wächst als unsere Ausfuhren – die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands schwindet.
Im verarbeitenden Gewerbe rechnen wir in der Produktion für das laufende Jahr mit einem Anstieg um ein Prozent. Insgesamt stellt sich die Lage in den diversen Branchen unterschiedlich dar, aber nicht ganz so heterogen wie im vorigen Jahr: Das Produktionswachstum entsteht wieder mehr in der Breite der Industrie.
Dank gebotener Diversifizierungsstrategien und dem Beginn ihrer Umsetzung gelingt es den Unternehmen, die drückenden Lieferengpässe allmählich aufzulösen. Es ist eindrucksvoll, dass es vielen Firmen bereits gelungen ist, Risiken einseitiger Abhängigkeiten von unzuverlässigen Handelspartnern deutlich zu verringern.
Um nicht missverstanden zu werden: Der BDI setzt nach wie vor auf internationale Partner, auf Globalisierung, weltweite Kunden und Wertschöpfungsketten – und das schließt ausdrücklich China ein. Deutschland und Europa sind keine Inseln. Ein großer Teil unserer Stärke kommt aus dieser Globalisierung und Internationalisierung.
Deshalb heißt Diversifizierung nicht, uns von China zu entkoppeln, sondern einseitige Abhängigkeiten zu verringern und idealerweise zu überwinden. China ist und bleibt ein zentraler Markt für deutsche Unternehmen – wegen seiner enormen Größe und seiner Leitfunktion für einen hochdynamischen Raum. In diesem Jahr wird der Anteil von China und den ASEAN-Staaten – einschließlich dem Messe-Partnerland Indonesien – weit über die Hälfte des Weltwachstums ausmachen.
Bis zum Jahr 2050 könnte Indonesien nach Prognosen von Ökonomen zur viertgrößten Volkswirtschaft der Welt aufsteigen. Wir sind also gut beraten, die traditionell guten bilateralen Wirtschaftsbeziehungen zwischen unseren Ländern weiter auf- und auszubauen. Ich freue mich, dass die Messe dafür einen starken Rahmen bietet.
Klug ist es, Partnerschaften anzukurbeln, indem die Politik Türen öffnet – zum Beispiel durch den Abschluss von Wirtschaftsabkommen; auch mit dem ASEAN-Staatenbund, in dem Indonesien der größte Player ist. Es ist aber illusorisch und damit letztlich schädlich, für Handelsabkommen das Attribut „comprehensive“, also eine „umfassende Übereinkunft“ in allen gesellschaftlichen Fragestellungen anzustreben. Solche Zielsetzungen erschweren Verhandlungen, vereiteln zügige Ergebnisse, schwächen damit deutsche Unternehmen und legen der angestrebten Diversifizierung unnötige Stolpersteine in den Weg. Mehr Pragmatismus brauchen wir übrigens auch für den überfälligen Abschluss des EU-Abkommens mit dem Mercosur in Lateinamerika, über das seit nicht weniger als 24 Jahren verhandelt wird.
Diversifizierung heißt: Risiken erkennen und minimieren, Resilienz erhöhen, Chancen nutzen. Die Wirtschaft will und muss Chancen nutzen. Es reicht nicht, sich mit kleinsten Zuwächsen bei BIP, Exporten und Produktion zufriedenzugeben.
Diese Haltung würde auch nicht zur erwähnten Zuversicht der Politik passen, dass alles wieder gut wird. Dafür müssen die Entscheiderinnen und Entscheider in der Politik handeln, die Attraktivität unseres Standorts stärken, bessere Rahmenbedingungen schaffen. Denn nur so gelingt ein Mehr an Investitionen, die Deutschland angesichts der grünen und digitalen Transformation genauso benötigt wie zur Bewältigung der Wachstumskrise.
Dabei geht es um öffentliche und vor allem um privatwirtschaftliche Investitionen. Die Industrie will massiv investieren. Aber dafür braucht es Bürokratieabbau, verlässliche und bezahlbare Energieversorgung sowie spürbare Steuersenkungen. Denn investiert wird da, wo sich Investitionen rechnen und es zügig voran geht.
Unsere Unternehmen, das war mein Eindruck schon vor der Messe, blicken realistisch in die Zukunft. Realistisches Handeln, das ist auch unsere Erwartung an die Politik. Nach dem Motto: Ja zur Transformation, richtig gemacht.
Auf der Hannover-Messe zeigt die deutsche Industrie: Der Innovationsmotor funktioniert. Die Politik muss ihren Beitrag leisten, dass dieser Motor weiter hier in Deutschland läuft: für die Dekarbonisierung, die wir dringend zum Erreichen der Klimaschutzziele benötigen, für den digitalen Wandel, bei dem wir aufholen müssen, und grundsätzlich für das Wachstum unserer Wirtschaft, um im globalen Wettbewerb weiterhin ein ernstzunehmender Mitspieler zu sein.
Der Industriestandort Deutschland ist in einer kritischen Phase. Es ist Realität, dass deutsche Unternehmen inzwischen dreimal überlegen, wo sie investieren, und dabei gezielt nach Nordamerika schauen. Mit dem Inflation Reduction Act zeigt uns die US-Regierung, wie einfach es gehen kann: mit einem pragmatischen, schnellen und unbürokratischen wirtschaftspolitischen Ansatz, der klimafreundliche Technologien fördert und eine hohe Investitionssicherheit garantiert.
Wenn es sich für Unternehmen nicht mehr lohnt, an traditionellen deutschen Standorten zu investieren, muss uns das Sorgen machen. Das Investitionsverhalten der Unternehmen dient als Frühindikator für den Zustand der deutschen Industrie von morgen und die wirtschaftliche Zukunft des ganzen Landes. Es kommt auf die langfristigen Perspektiven und Rahmenbedingungen für unsere Unternehmen bei der Transformation an.
Weitreichend negative Folgen für Wettbewerbsfähigkeit und Investitionsverhalten haben die aktuellen Energiepreise und insbesondere die dauerhaft viel zu hohen Stromkosten in der Industrie. Der hohe Industriestrompreis muss dringend wieder auf ein wettbewerbsfähiges europäisches Niveau zurück, sonst droht die Transformation in der Industrie zu missglücken. Dabei muss der Fokus einmal auf den Preisbestandteilen für elektrische Energie jenseits der Erzeugungskosten liegen, aber auch darauf, wie hoch genau diese Erzeugungskosten sein werden, wenn man die erforderliche Infrastruktur für eine Verfügbarkeit von 24 Stunden am Tag, sieben Tage pro Woche, wie sie die meisten Unternehmen zwingend benötigen, mit einkalkuliert.
Es ist kein Selbstläufer, dass unsere Industrie stark bleibt. Die Unternehmen sind bereit, doch die deutsche Politik ist in der Verantwortung, die Rahmenbedingungen für die Industrie am Standort Deutschland zu verbessern. Dafür muss die Ampel-Koalition nun schleunigst vom Krisen- in den Gestaltungsmodus wechseln. 2023 muss zum Jahr der Entscheidung werden – für die Resilienz und Zukunft des Industrielands, Exportlands und Innovationslands Deutschland.“