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Droht Deutschland die Deindustrialisierung?

Der Standort Deutschland erodiert. Das Tückische daran: Es passiert unbemerkt. Bei näherem Hinsehen bröckelt das Fundament der deutschen Wirtschaft. Positive Unternehmensbilanzen stammen oftmals aus einem gut laufenden Auslandsgeschäft, nicht aus dem Inlandsgeschäft. Kommt es zu einer Deindustrialisierung?

Das Fundament der deutschen Wirtschaft bröckelt. Die einst soliden Grundpfeiler des Geschäftsmodell Deutschlands haben deutliche Risse bekommen, von einer Deindustrialisierung ist in der öffentlichen Debatte die Rede. Doch Panik ist fehl am Platz. Fakten müssen auf den Tisch. Immer mehr Unternehmen – auch aus dem Mittelstand – verlegen ihre Produktion ins Ausland. Der Industriekern ist von 22,9 Prozent in 2016 auf nur noch 20,3 Prozent im vergangenen Jahr geschmolzen. Noch größer sind die strukturellen Sorgen. Ein toxischer Cocktail aus unnötiger Bürokratie, hohen Steuern und teurer Energie macht Deutschland im europäischen und internationalen Standortwettbewerb unattraktiv. Hinzu kommen: Schleppende Innovationskultur, fehlende Fachkräfte, lähmender Datenschutz. Das sind keine neuen Entwicklungen, wohl aber ihre Folgen. Das alles sind Warnsignale, aber noch keine Deindustrialisierung.

Selbstkritisch sei gesagt: Ja, die Unternehmen haben sich lange in falschen Sicherheiten gewogen, etwa bei der Abhängigkeit von russischer Energie oder Hightech-Rohstoffen aus China. Vergangenheitsbewältigung hilft jetzt aber nicht weiter. Deutschland sollte sich lieber fit für die Zukunft machen.

“Invented in Germany – made somewhere else” darf nicht neues Qualitätsmerkmal werden

Es ist alles furchtbar kompliziert geworden – in Berlin und in Brüssel. Auf aktuelle Herausforderungen antwortet die Politik zu oft mit Regulatorik von Taxonomie bis Lieferkettengesetz. Damit schnürt sie das Korsett für Unternehmen nur noch enger, statt die Zügel zu lockern für mehr Innovationen und Investitionen. Ein Beispiel: Erst hat die Bundesregierung den Unternehmen ein strenges Lieferkettengesetz auferlegt. Jetzt legt die EU sogar noch eine Schippe drauf. Die zahlreichen Vorgaben sind für Unternehmen schlichtweg nicht einhaltbar – nicht, weil sie es nicht wollen, sondern weil es sie praktisch überfordert. Kaum verwunderlich, dass immer mehr Unternehmen ihre Compliance-Aktivitäten ausbauen. Der ständige Überbietungswettbewerb für immer strengere Regeln und höhere Ziele schwächt die Industrie. Es geht auch um das Image Deutschlands in der Welt. „Invented in Germany – made somewhere else“ darf nicht zum neuen Aushängeschild werden. In manchen hochtechnologisierten Branchen, wie dem Maschinenbau oder der Automobilindustrie, die viele Jobs in Deutschland schaffen, ist dies leider schon Realität. Zwar bauen Unternehmen bestehende Fabrikhallen nicht zurück, aber sie bauen neue Produktionsstandorte auch nicht auf.

Industrieland stärken mit weniger Bürokratie und günstiger Energie

Zum anderen wären da die hohen Energiepreise. Allein die Strompreise in Deutschland sind mehr als vier Mal so hoch wie im Durchschnitt des letzten Jahrzehnts. Warum etwas Teures noch teurer machen? Das Gegenteil ist gefragt. An vier Stellschrauben gilt es zu drehen: Wir brauchen einen Brückenstrompreis, ein langfristiges, ganzheitliches Energiekonzept für unser Land, einen Energiepreis auf EU-Minimum und spezifische Unterstützung für besonders energieintensive Unternehmen. Das geplante Aus des Spitzenausgleichs für Strom wäre zum Beispiel genau die falsche Entscheidung zur falschen Zeit. Für rund 8800 Unternehmen würde sich dann die Stromsteuerbelastung auf einen Schlag verzehnfachen – darunter viele kleine und mittlere Unternehmen des energieintensiven Mittelstands.

Bis 2030 sollen auf deutschen Straßen – im Sinne der Klimawende – 15 Millionen Elektroautos unterwegs sein. Dafür ist mehr Tempo beim Ausbau der Ladeinfrastruktur notwendig – und ein Blick über den europäischen Tellerrand. Auf beiden Seiten des Atlantiks sollen grüne Technologien gefördert werden. Der feine Unterschied ist: Die USA wollen das erreichen, indem sie Green Tech billiger machen, Brüssel hingegen macht fossile Energie teurer. Für Exportländer wie Deutschland hat der Brüsseler Weg negative Auswirkungen. Außerdem: Das US-Subventionsprogramm, der Inflation Reduction Act (IRA), ist einfach und verständlich konstruiert. Und die Entscheidungen gehen schnell.

Neue Ära der Globalisierung erfordert pragmatisches Konzept für wirtschaftliche Sicherheit

Von der unbürokratischen, strategischen Herangehensweise der Amerikaner sollten wir lernen. Insbesondere angesichts der Tatsache, dass wir global Marktanteile wegen des starken Wachstums in Schwellenländer verlieren. Mit einem erwarteten Nullwachstum in 2023 stehen wir am Ende aller G7-Industriestaaten. Unser Land lebt vom Export und soll Industrieland bleiben. Gut 50 Prozent unseres Wohlstandes hängen an der exportorientierten Industrie.

Dazu müssen wir anerkennen, in einer neuen Ära der Globalisierung zu leben. An die Stelle von Konvergenz, Multilateralismus und Freihandel rücken zunehmend Protektionismus, staatlich geförderte technologische Vorherrschaft und nationale Sicherheit. Das Prinzip Hoffnung reicht in dieser neuen Zeit nicht mehr aus, um global wettbewerbsfähig zu sein. Stattdessen sind ein neues Verständnis und ein pragmatisches Konzept für wirtschaftliche Sicherheit gefragt – auch für die Zusammenarbeit mit China. Das Land hat sich zu einem immer stärkeren systemischen Herausforderer für Deutschland, Europa und den gesamten Westen entwickelt – anders als vor zehn Jahren erwartet. China ist auch ökonomischer und technologischer Wettbewerber – mit mitunter irritierenden Interpretationen der Regeln des Multilateralismus. China als Markt können und sollten wir nicht einfach anderen Wettbewerbern überlassen. Eine Abkopplung, ein sogenanntes De-Coupling, wäre falsch und unrealistisch. Richtig ist aber ein De-Risking, also Abhängigkeiten zu reduzieren. Wir sollten nicht alles auf eine Karte setzen.

Es kommt an auf Prioritäten, Pragmatismus und Umsetzungspower

Die Risiken für den Standort sind real. Der Druck zum Handeln ist riesig. Veränderte Bedingungen erfordern eine veränderte politische Vorgehensweise. Wir werden nicht alles schaffen, was wir uns vorgenommen haben als Land. Und wir werden uns nicht alles leisten können, was wir uns wünschen. Um Deutschland zurück auf den Wachstumspfad zu bringen, kommt es jetzt auf Prioritäten, Pragmatismus und Umsetzungspower an.