Präsident Siegfried Russwurm auf der Verbände-PK im Rahmen der Hannover Messe 2024.

Die gesamtwirtschaftliche Lage stimmt uns dieses Jahr leider nicht froh

Zum Auftakt der Hannover Messe 2024 thematisiert BDI-Präsident Siegfried Russwurm auf einer gemeinsamen Pressekonferenz von BDI, VDMA und ZVEI Mitte April die gesamtwirtschaftliche Lage Deutschlands und betont die Relevanz von Innovationen und kreativem Wachstum, um die Wettbewerbsfähigkeit zu stärken.

"Die Hannover Messe ist die größte Leistungsschau der internationalen Industrie – und natürlich besonders auch der deutschen. „Energizing a sustainable industry“ lautet das Leitthema. Viele Aussteller werden zeigen, wie sich durch Innovation Effizienz und Nachhaltigkeit miteinander verbinden lassen.

Zum Auftakt der Messe wollen wir Ihnen einen kurzen Blick auf die Wirtschaftslage und insbesondere die Lage der deutschen Industrie anbieten. Bei allem, was wir hier in Hannover an kraftvollen und dynamischen Innovationen der Unternehmen sehen: Die gesamtwirtschaftliche Lage in Deutschland stimmt uns dieses Jahr leider nicht froh.

Die Weltwirtschaft wird zwar mit moderaten drei Prozent zulegen, wie im Vorjahr. Einem weiterhin robusten Wachstum von über zwei Prozent in den USA und knapp fünf Prozent in China stehen die konjunkturelle Schwäche in Japan und die zögerliche Erholung in der EU gegenüber.

Europa war von Krieg, Energieschock und Inflation stark getroffen - und die Erholung dauert deutlich länger als erwartet. Der Euroraum dürfte dieses Jahr nur mit einem guten halben Prozentpunkt [0,6%] real zulegen. In dieser trüben Diagnose sind sich leider alle einig: vom Internationalen Währungsfonds über die Wirtschaftsforschungsinstitute, den Jahreswirtschaftsbericht der Bundesregierung bis hin zu unserer Analyse auf Basis der Branchenverbände und ihrer Unternehmen.

Deutschland hat an den unerfreulichen Konjunkturdaten in Europa leider einen besonders hohen Anteil und zieht die anderen Länder Europas mit nach unten. Mit etwas Glück reicht es in diesem Jahr für ein kleines Wachstumsplus [0,3%], wenn die Konsumausgaben inflationsbereinigt endlich anziehen und die Investitionstätigkeit nicht noch weiter sinkt. Vom Außenhandel dürfte noch kein Wachstumsimpuls bei uns ankommen.

Weltweit hat die Industriekonjunktur 2023 geschwächelt, die Industrieproduktion ist mit weniger als einem Prozent [0,9%] gewachsen. Dieses Jahr erwarten wir mehr. Es sollte in der Welt für ein Plus von zweieinhalb Prozent reichen. Das kommt allerdings vor allem aus den Schwellenländern, weniger aus den Industrieländern.

Deutschland fällt voraussichtlich weiter zurück. Wir rechnen 2024 mit einem erneuten Rückgang der Industrieproduktion um 1,5 Prozent gegenüber dem Vorjahr, nach einem Rückgang um 0,5 Prozent 2023. Wie erwarten für die deutschen Warenexporte nach einem Minus im Jahr 2023 von 1,5 Prozent in diesem Jahr im Jahresverlauf in nominaler Rechnung eine schwarze Null. Zumindest hier scheint der Rückgang gestoppt zu sein. Erst 2025 dürften sich die gesamtwirtschaftliche Entwicklung, die Industrieproduktion und das Exportgeschäft auch in Deutschland wieder etwas festigen, wenn nicht weitere Störfaktoren, etwa zusätzliche Sicherheitsrisiken, die Weltwirtschaft beeinträchtigen.

Die Industrie in Deutschland hat sich von den Kosten- und Nachfrageschocks der Pandemie und des Russlandkriegs, von zeitweise extrem hohen und volatilen Energiepreisen und von der Inflation noch nicht erholt. Die Nachfrage nach Industriegütern ist zuletzt deutlich gesunken, die Auftragseingänge spiegeln dies wider.

Andererseits lassen sich gerade Erhaltungsinvestitionen nicht beliebig lange schieben – deshalb hoffen wir in der Tat auf Besserung, wenn auch nur im Rahmen des „normalen“ Konjunkturzyklus, während das Potentialwachstum – also der langfristige Trend – weiter nur bei etwa einem halben Prozent liegt, wie die Wirtschaftsforschungsinstitute einhellig prognostizieren.

Trotz moderater Erholungsaussichten dürfen wir uns nichts vormachen: Insgesamt zeigen die Produktionszahlen jetzt schon seit Jahren einen besorgniserregenden Abwärtstrend. Im vierten Quartal 2023 lag die Produktion im Verarbeitenden Gewerbe um knapp 13 Prozent [12,8%] unter dem Allzeithoch vom zweiten Quartal 2018 – und das war bekanntlich deutlich vor der Pandemie.

Verlorenes Jahrzehnt für die Produktion

Bislang haben nur die Elektroindustrie, die pharmazeutische Industrie und der Schienenfahrzeug- und Flugzeugbau, das Vorkrisenniveau wieder erreicht bzw. übertroffen. Auch im Vergleich mit der EU insgesamt hat Deutsch­land Federn gelassen.

Während das Verarbeitende Gewerbe in den fünf Jahren von 2019 an in der EU um dreieinhalb Prozent zulegen konnte, sank es in Deutschland um sechseinhalb Prozent. Deutschlands Anteil an den Weltexporten ist um fast einen Prozentpunkt zurückgegangen. Sicherlich, die besondere Bedeutung von Grundstoffen und Vorerzeugnissen in der deutschen Industrie und ihre erheblichen Probleme seit den Preisschocks tragen dazu bei. Das Gesamtbild bleibt jedoch schwierig.

Aber wie gesagt: Es gibt Hoffnungszeichen. Die industrielle Nachfrage – auch die nach Erzeugnissen aus Deutschland – sollte sich im zweiten Halbjahr dieses Jahres beleben. Die Erholung setzt in Deutschland spät ein, weil wir auf Investitionsgüter und langlebige Konsumgüter spezialisiert sind.

Aber sie kündigt sich an: Das Geschäftsklima in China, in den USA und weltweit hellt sich auf, der Halbleiterzyklus kommt in Gang und die vorhersehbare Entspannung bei den Zinskosten hilft. Deutschland und Europa sind eher Nachläufer als Treiber, aber wir sehen wieder konjunkturelle Signale, die nach oben zeigen.

Im Übrigen, um eine vorhersehbare Frage nach den veröffentlichten Ergebniszahlen gerade der großen Unternehmen zu beantworten: Stärkeres Wachstum und erfreulich guten Profit erzielen deutsche Unternehmen derzeit vor allem an ihren Produktionsstandorten im Ausland.

Mit dem geringen Trendwachstum von einem halben Prozent wird Deutschland die großen Herausforde­rungen aus Digitalisierung, Dekarbonisierung und Demographie nicht stemmen können - finanziell nicht und wegen daraus zwangsläufig folgender Verteilungsfragen auch nicht in der gesellschaftlichen Diskussion. Nur wenn es gelingt, mehr Wachstumsdynamik zu erzeugen, können wir Ressourcen für die Transformation mobilisieren, unsere Infrastruktur auf Vordermann bringen, die Attraktivität als Unternehmensstandort erhöhen und das hohe Niveau unseres Sozialsystems sichern.

Die Bundesregierung hat zwar - wie die Vorgängerregierung - auf die letzten beiden großen Krisen beherzt reagiert - auch mit viel Unterstützung aus der Wirtschaft. Und glücklicherweise ist die deutsche Wirtschaft nicht in eine tiefe Rezession abgestürzt. Doch trotz erster richtiger Entscheidungen in der Energiepolitik und bei Planungs- und Genehmigungsverfahren gibt es aus unserer Sicht noch jede Menge dringenden Reformbedarf.

Noch eine Antwort auf eine vorhersehbare Frage: Die Unternehmen machen ihre Hausaufgaben in Sachen Produktivität, wie wir in den volkswirtschaftlichen Daten ablesen können.

Aber wir brauchen die Flankierung durch die Politik, um Wachstumskräfte zu stärken. Die Bundesregierung hat selbst die richtigen Felder identifiziert: Um das Arbeitskräfteangebot zu stärken, sollen ungenutzte Reserven mobilisiert werden, es gilt die Investitionen in der Breite zu stärken und mehr Impulse für Forschung und Innovation zu setzen.

Die Investitionsimpulse des Wachstumschancengesetzes sind richtig – aber leider fallen sie um ein Vielfaches zu niedrig aus. Und zumindest bei attraktiven Abschreibungsregeln kann ja niemand bestreiten, dass dies keine Subventionen sind, sondern sich das Steueraufkommen nur zeitlich verschiebt.

Die Spitzenverbände der Wirtschaft haben einen 10-Punkte-Plan vorgelegt, wie die Wachstumskräfte gestärkt werden könnten. Daran anknüpfend möchte ich drei konkrete Punkte nennen, die uns als Industrie besonders dringlich erscheinen:

Erstens: Wir brauchen wettbewerbsfähige und langfristig planbare Energiepreise. Dafür müssen unter anderem die angekündigte Kraftwerksstrategie und die Wasserstoffstrategie schnell konkretisiert und dann mit Priorität umgesetzt werden.

Darüber hinaus dürfen gesunkene Börsenstrompreise für die Erzeugung nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Systemkosten für Strom auf absehbare Zeit hoch bleiben. Ja, die EEG-Umlage ist weggefallen und die Stromsteuer für das produzierende Gewerbe deutlich gesunken.

Aber die Gesamtkosten für die Stromabnehmer haben sich nicht wesentlich geändert, weil die Netzentgelte massiv gestiegen sind. Für wettbewerbsfähige Strompreise muss die Regierung deshalb für eine deutliche Senkung der Stromnetzentgelte sorgen. Alles, was hilft, Kosten zu senken, muss auf den Tisch.

Zweitens: Auf das Bürokratieentlastungsgesetz 4 muss dringend ein Bürokratieentlastungsgesetz 5 folgen. Das Gesetz Nummer vier - derzeit im parlamentarischen Verfahren - ist nicht der überfällige Befreiungsschlag für die Unternehmen. Die ohnehin wenigen, noch dazu viel zu kleinteiligen Maßnahmen bleiben weit unter den Erwartungen. Ein klares und in der Praxis spürbares Entlastungssignal sieht anders aus.

Deshalb muss schon jetzt konkret an Bürokratieentlastungsgesetz 5 gearbeitet werden, das ein größeres Entlastungsvolumen bringt. Die Wirtschaft hat 442 konkrete Vorschläge vorgelegt, nur elf hat die Regierung bisher aufgenommen. Und wo es an einer Stelle Entlastung der Unternehmen von Bürokratie gibt, wird dies an anderer Stelle wieder zunichte gemacht.

Und der dritte Punkt: Internationalen Wettbewerb gibt es auch mit Blick auf die Unternehmenssteuern. Da nehmen wir mit einer Belastung von knapp 30 Prozent einen der internationalen Spitzenplätze ein – in dem Fall ist das keine Auszeichnung. Der EU-Durchschnitt liegt um fast ein Drittel niedriger, bei rund 21 Prozent. Unternehmen finden also attraktivere Bedingungen in unmittelbarer Nachbarschaft. Aber es geht nicht nur darum, wo sich Unternehmen lieber ansiedeln, sondern auch um die Frage: Wie viel meines Gewinns kann ich wieder investieren und damit Wachstum fördern. 

Wir müssen die Steuerbelastung wenigstens auf ein Niveau von 25 Prozent senken. Außerdem schaffen die Besonderheiten der Gewerbesteuer hohen bürokratischen Zusatzaufwand. Auch das ist ein negativer Standortfaktor.

Nochmal: Das Volumen des Wachstumschancengesetzes reicht nicht. Die Bundesregierung sollte sich die Anreize für private Investitionen in diesem Zusammenhang nochmals vornehmen und eine substanzielle Verbesserung bei den Themen degressiver Abschreibung, Investitionsprämie und Forschungszulage vor der Sommerpause auf den Weg bringen.

Meine Damen und Herren, das alles klingt sehr nach „moll“ – und passt so gar nicht zur Leistungsschau der Industrie hier in Hannover. Aber die Fakten am Industriestandort Deutschland sind so wie sie sind – und das unstrittig. Umgekehrt ist „Deutsche Industrie“ ja nicht nur Industrie in Deutschland, sondern sie ist weltweit unterwegs und an ihren internationalen Standorten sehr erfolgreich – es scheint also doch an den Rahmenbedingungen zu liegen.

Unternehmerinnen und Unternehmer sind notorische Optimisten – sonst hätten sie den falschen Beruf. Wenn Sie wissen möchten, was die Wirtschaft zur Lö­sung der Standortprobleme beiträgt, wenn Sie lernen wollen, wie sich die Unternehmen gegen die unbe­streitbaren Handikaps stellen: Schauen Sie sich bitte hier auf der Messe um. Sie werden sehr viele Aus­steller aus Deutschland treffen können, die hoch inno­vativ und kompetitiv auf dem Weg sind.

Wenn wir es schaffen, Innovationen und kreatives Wachstum durch die richtigen Rahmenbedingungen zu fördern, kann sich auch der Industriestandort Deutschland für die nächste Evolutionsstufe industrieller Prozesse erfolgreich rüsten.

Die Hannover Messe wird mit beeindruckenden Pro­dukten, Lösungen und Ideen zeigen, dass Technologiestärke, Innovationskraft, Branchenkompetenz und Fertigungs-Knowhow der deutschen Industrie weiterhin hocherfolgreich und enorm gefragt in der Welt sind. Wir wünschen uns, dass diese Stärken auch in unserem eigenen Land wieder stärker zur Geltung kommen können und genutzt werden."

BDI Statement | 22. April 2024
Industriebericht | 22. April 2024