BDI-Präsident Siegfried Russwurm © Christian Kruppa

Herausforderungen sind gewachsen

„Konjunkturell herrscht Stillstand in Deutschland. Im Vergleich zu den meisten anderen großen Industrieländern fällt unser Land weiter zurück. Eine Chance auf einen raschen Befreiungsschlag in 2024 sehen wir nicht,“ sagte BDI-Präsident Siegfried Russwurm am 16. Januar auf der Pressekonferenz zum Jahresauftakt im Haus der Deutschen Wirtschaft in Berlin. Der Bundesverband der Deutschen Industrie rechnet für das gerade begonnene Jahr mit einem marginalen Wirtschaftswachstum von 0,3 Prozent für Deutschland, während die Weltwirtschaft mit 2,9 Prozent wachsen wird.

Geopolitisch und binnenwirtschaftlich stelle sich vieles zu Beginn des Jahres noch schwieriger dar als 2023. Das minimale Wachstum in Deutschland werde getragen vom privaten Konsum, der Impulse vom Rückgang der Inflation und von der Stärkung der Kaufkraft erhalte, vor allem durch die Lohnsteigerungen in vielen Branchen und die Erhöhung von Sozialtransfers.

Zum konjunkturellen Lichtblick im Jahresverlauf könne die Zinspolitik der Zentralbanken werden. Die Rückführung der Inflationsraten komme voran. Damit steige die Aussicht auf allmähliche Zinssenkungen. Spürbare Effekte in der Realwirtschaft werde dies aber erst ab dem Frühjahr 2025 auslösen, sagte Russwurm.

Mit Blick auf Deutschland sagte der BDI-Präsident, die Politik habe sich in eine Komplexitätsfalle manövriert und erhöhe die Komplexität weiter bei der Suche nach Auswegen, ohne überzeugende Fortschritte zu machen. Das koste Vertrauen und führe zu Verunsicherung bei Unternehmen genauso wie bei Bürgerinnen und Bürgern.

Wirtschaftlich fehle dadurch jede verlässliche Kalkulationsbasis für Investitionen. Politisch bringe es aus Ärger und echter Verzweiflung über das politische Geschehen viele Menschen auf Abwege. Russwurm rief alle demokratischen Parteien auf, wo immer sie im Bund, in den Ländern und in den Kommunen Verantwortung tragen, endlich gemeinsam zu den Entscheidungen zu kommen, die das Land so dringend braucht.

„Die gemeinsamen Beschlüsse zur Beschleunigung von Genehmigungsverfahren in 2023 waren richtig und helfen definitiv. Aber einmaliges Aufraffen genügt bei weitem nicht,“ sagte der BDI-Präsident. Eines der Kernthemen mit längst überfälligem Handlungsbedarf ist die Strategie zum Bau von wasserstofffähigen back-up-Kraftwerken für die Energiewende.

Solange der Neubau in Aussicht genommener back-up-Kraftwerke nicht in Gang komme, weil Geschäftsmodelle und Finanzierung ungeklärt seien, bleibe Deutschland auf den Weiterbetrieb von Kohlekraftwerken sowie auf ausländischen Strom aus Kohle- und Kernkraftwerken angewiesen. Der BDI-Präsident nannte es skurril und blamabel, wenn Deutschland als Land mit einer der ambitioniertesten Strategien zur Dekarbonisierung am Ende vom Weiterbetrieb seiner Kohlekraftwerke abhängig bleibe, weil Alternativen fehlten. „Aber genau dieses Szenario rückt von Tag zu Tag näher“, sagte Russwurm. Die Konsequenz ist dann, dass wir Elektroautos weiterhin mit einem Strommix laden, der zu einem Teil aus Kohlestrom besteht; dass wir jede Industrieanlage, die wir für teures Geld und eventuell auch mit hohen Hilfen des Staates von einem fossilen auf einen elektrischen Betrieb umstellen, weiter anteilig mit Kohlestrom betreiben.

Der BDI-Präsident erwähnte auch die zahlreichen Wahlen des Jahres 2024 – Europawahl, Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen und die US-Präsidentschaftswahl. „Jede dieser Wahlen hat für uns hohe Bedeutung. Deshalb sind sie uns nicht gleichgültig,“ unterstrich der Industrie-Präsident.

Die deutsche Industrie wünsche sich mehr Europa, aber richtig, betonte Russwurm. Die Pläne für das europäische Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz und den Regulierungsrahmen für künstliche Intelligenz (AI-Act) sowie die Unfähigkeit der EU-Freihandelsabkommen zu schließen kritisierte er scharf. Da treten wir „auf der Stelle – wir in Deutschland und wir in Europa“. Wir brauchen einen Binnenmarkt, der wegen seiner Größenvorteile auch das Skalieren zukunftweisender industrieller Wertschöpfung erlaubt, nicht nur in der Digitalisierung, sondern generell. Zudem müssen wir wohl noch viel Überzeugungsarbeit leisten, wie industrielle Wettbewerbsfähigkeit und Klimaschutz auch in der europäischen Politik stärker zusammengeführt werden können. Das erfordert eine gewaltige gemeinsame Kraftanstrengung der europäischen Politik.

Mit Blick auf die Landtagswahlen in Deutschland sagte Russwurm: „Als Industrie appellieren wir an Besonnenheit und Vernunft. Wir wollen und wir brauchen eine offene Gesellschaft und die Bereitschaft und Fähigkeit zum politischen Diskurs und zum demokratischen Kompromiss. Das erfordert mehr Gemeinsamkeit der Demokraten in unserem Land, nicht nur um fundamentalen Handlungs- und Modernisierungsbedarf endlich entschlossen anzugehen, sondern auch um Demokratie und Freiheit zu schützen.“

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