Rede anlässlich des 70-jährigen Jubiläums der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik
Sehr geehrte Damen und Herren,
Über sieben Jahrzehnte hinweg hat die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik entscheidend dazu beigetragen, außenpolitische Entwicklungen zu analysieren und zu interpretieren.
Aus Verständnis entsteht gutes Handeln. Die Rolle der DGAP in der deutschen Außenpolitik ist nicht hoch genug zu schätzen. Ich gratuliere der DGAP zum 70-jährigen Bestehen deswegen ganz herzlich. Und ich danke Ihnen für diese Arbeit persönlich: Danke! Ich habe davon sehr profitiert, wie wir alle!
Wo stehen wir in diesen Tagen?
Die Kraft unserer Volkswirtschaft, die Grundlage unseres Wohlstands ist das Exportmodell. Was heute rückblickend wie eine kluge Strategie wirken mag, ist vermutlich auch durch günstige Rahmenbedingungen und die Kombination von Eigenschaften und Fähigkeiten, die uns auszeichnen, von selbst entstanden.
Die Rahmenbedingungen im Außen waren Sicherheit und Stabilität und ein Wirtschaftsmodell im Westen, das auf Regeln und ordnungspolitischen Grundsätzen beruhte. Die wichtigste Rahmenbedingung war aber unsere Einbindung in den Westen.
Mit den Eigenschaften und Fähigkeiten, meine ich die Struktur unserer Industrie, heute sagt man dazu Ökosystem – Firmen vom kleinen Mittelstand bis zum Großunternehmen, unsere ausgeprägte Fähigkeit komplexe technische Produkte bei akzeptablen Kosten und höchster Qualität in Serie zu produzieren und nicht zuletzt unsere kulturelle Neugier. Wir scheinen besonderes Talent darin zu haben, in ausländischen Märkten Partnerschaften aufzubauen.
Daraus ist ein enormer Erfolg unserer Volkswirtschaft entstanden mit global und tief gestaffelten industriellen Wertschöpfungsketten als Fundament.
Die Welt hat sich dramatisch verändert. Wir erleben einen Systemwechsel. Drei der Voraussetzungen, die zentral wichtig für unseren Erfolg als Exportnation waren, kehren sich in ihr Gegenteil um.
Aus Stabilität und Sicherheit wird Volatilität. Sie wird bleiben.
Aus einem regelbasierten und in der Ordnungspolitik begründeten Wirtschaftssystem des Westens wird Merkantilismus mit all seinen Ausprägungen: Industriepolitik, Protektionismus, Subventionen, Handelsbarrieren, Zölle.
Aus transparentem, oft wertebasiertem und häufig fairem Multilateralismus wird Machtpolitik.
Was bedeutet das für uns?
Es bedeutet, was wir täglich erleben: Handelskriege, Sanktionen und geopolitische Spannungen.
Es bedeutet Industriepolitik, auch und gerade in Europa.
Es bedeutet den rasanten aber für viele unsichtbaren Umbau unserer Wertschöpfungsketten. Die deutsche Industrie hat schon vor Jahren begonnen im Ausland zu investieren zu Lasten von Investitionen im Inland, um „Local for Local“ produzieren zu können.
Vor allem bedeutet es aber, dass wir uns von Grundüberzeugungen, die wir über Jahrzehnte gepflegt haben und die wir für unumstößlich hielten, verabschieden müssen.
Grundüberzeugungen wie die, dass die Ordnungspolitik die Grundlage unseres Wirtschaftssystems ist, dass Werte als Grundlage unserer Außenpolitik gelten und auch die Grundüberzeugung, dass es unsere Industrie am Ende richten wird.
Das ist aber höchst fraglich. Wir sind unmittelbar und existenziell bedroht. Wir befinden uns mitten im Niedergang unseres industriellen Kerns. Wir haben fast ein Jahrzehnt lang an Wertschöpfung verloren. Wenn wir weitere fünf Jahre Niedergang haben, ist die deutsche Industrie in ihrer jetzigen Form gescheitert. Das bedeutet nicht, dass die meisten Unternehmen verschwinden. Aber das Entscheidende, das oben beschriebene funktionierende und einmalig starke Ökosystem wird dann so nicht mehr existieren. Und wir werden durch den relativen Abstieg gegenüber anderen großen Industrienationen irrelevant geworden sein.
Wie antworten wir darauf?
1. Ausmaß und Dringlichkeit erkennen.
Wir müssen erkennen: Unsere Souveränität, unser Wohlstand und damit auch unsere Freiheit sind direkt und unmittelbarer bedroht. Dies muss in seiner ganzen Klarheit und Härte verstanden werden.
Ich bin immer noch jeden Tag aufs Neue erstaunt über den perfekten Dreiklang aus Ritualisierung, Kodifizierung und Tabuisierung in Berlin und Brüssel.
Dieses System verhindert das Erkennen der Wirklichkeit wirkungsvoll. Wir alle sind betroffen. Hier müssen wir ansetzen. Wir müssen aufhören uns an die Regeln zu halten, die dieser Dreiklang vorgibt. Wir müssen offener werden und wir müssen auch Tabus brechen.
Ein Beispiel: in Brüssel ist es verboten den Begriff „Deregulation“ zu verwenden. Man muss „Simplification“ sagen. Ich halte mich nicht mehr daran. Wenn ich den Abbau von Bürokratie meine, dann sage ich das auch!
2. Abschied von Grundüberzeugungen annehmen. Pragmatismus statt dogmatischem Denken.
Ich sprach oben von Grundüberzeugungen. Ordnungspolitik ist eine von meinen. Ich muss aber anerkennen, Ordnungspolitik alleine wird nicht genügen in der neuen Welt.
Selektive Industriepolitik wird nötig sein und wir werden lernen müssen, dies strategisch einzusetzen. Wir werden aber auch strategisch Felder definieren müssen, die wir für unsere Resilienz für relevant halten und dafür für gezielte Industriepolitik betreiben. Dabei muss gelten, die Politik gibt das Ziel vor aber niemals den Weg. Die Voraussetzungen in beiden Fällen muss immer die strategische Überlegung am Anfang sein.
Eine weitere Grundüberzeugung, von der wir uns verabschieden müssen, ist, dass interessengetriebene Außenpolitik nicht unser Weg ist. Im Interesse der Resilienz und des Marktzugangs für neue Märkte werden wir Partnerschaften auf Augenhöhe eingehen müssen auch mit solchen, die uns in Manchem unappetitlich sind und auf deren Partnerschaft wir in der Vergangenheit lieber verzichtet haben.
3. Strategie als Grundsatz des Handelns
Ein fundamentales Problem der Vergangenheit ist, dass wir breit Strategie durch kurzfristiges, taktisches Denken und auch teilweise durch Ideologie ersetzt haben. Wenn man den Green Deal mit Made in China 2025 vergleicht, wird einem klar, was ich damit meine.
Tragisch daran ist, dass der kurzfristige Ansatz andere Strukturen und Kompetenzen entstehen lässt als die, die man für strategisches Vorgehen benötigt. Wir planen also nicht nur nicht gut genug, wir verlernen dabei auch, wie strategische Planung geht.
Gegensteuern können wir, indem wir die Langfristigkeit im Denken von der Politik fordern. Dies muss wieder Teil der politischen Kultur werden.
Wir sollten zweitens diejenigen einbeziehen in die Erarbeitung von Strategien, die die Kompetenz haben, dies zu tun. Beispielsweise könnten wir die Wirtschaft stärker einbeziehen bei Planungsprozessen. Dies ist Kernkompetenz der Wirtschaft, wir sollten sie besser nutzen. Das ist nicht unproblematisch, darüber bin ich mir im Klaren, aber ich glaube nicht, dass wir uns noch leisten können, auf strategische Kompetenz zu verzichten, wo auch immer sie vorhanden ist.
Wir sollten drittens bei guten Konzepten, wie dies beispielsweise der Draghi Bericht ist, unmittelbar mit einer Umsetzungsplanung nachlegen. Diese fehlt im Falle von Draghi bisher.
4. Die Privatwirtschaft muss ihre Verantwortung für die politische Mitgestaltung annehmen
Ein Nebeneffekt der Globalisierung war, dass sich viele Wirtschaftsvertreter mehr als Weltbürger gefühlt haben und glaubten, sie müssten nur noch die Interessen einer internationalen Investorenschaft vertreten. Die Konsequenz daraus war ein sich Heraushalten aus der Innenpolitik. Pauschalisierung ist immer falsch, ich weiß, aber der Trend war vorhanden.
Wir von der Wirtschaft müssen wieder viel aktiver öffentlich für die soziale Marktwirtschaft und für eine wettbewerbsgerechte Wirtschaftspolitik eintreten. Dies erfordert zeitlichen Einsatz und auch die Bereitschaft, sich Kritik auszusetzen.
Der vielleicht wichtigste Aspekt ist etwas, was ich als „Last Mile Lobbying auf EU-Ebene“ bezeichnen möchte. Das europäische Parlament ist aus meiner Sicht der wichtigste und am meisten unterschätzte Machtfaktor. Diesem Parlament fehlt es aber an Kundenkontakt. Auch hierfür müssen wir uns Zeit nehmen.
5. Das Wichtigste: EU grundlegend reformieren.
Es ist tragisch. Die Geschichte spielt uns „ohn unser Verdienst und Würdigkeit“, wie Luther es ausgedrückt hat, die größte Chance unseres Lebens in die Hände. Durch die geschilderten weltpolitischen Veränderungen wird die EU über Nacht zum einzigen bedeutenden Wirtschaftsraum der Welt, der sowohl rechtssicher als auch frei ist. Dies könnte uns in nie dagewesener Weise Wohlstand, Zuzug von Talenten und Zufluss von Investitionen bringen.
Aber die EU ist in ihrer jetzigen Verfassung und Verfasstheit vermutlich nicht in der Lage, diese Chance zu nutzen.
Eine EU, die dazu in der Lage wäre, möchte ich versuchen zu skizzieren:
Dies ist eine EU, die bei Krisen wie der Finanzkrise, COVID, oder Ukraine zusammensteht und schnell und stark reagiert. Wir haben dies erlebt, das war gut und wir sind dankbar dafür.
Eine EU, die in Handelsbeziehungen und bei der Zusammenführung der 27 Länder pragmatisch vorgeht und hierüber gute Lösungen mit Geschwindigkeit umsetzt. Bei MERCOSUR oder der Möglichkeit, ein 28. Regime schnell und pragmatisch umzusetzen, erleben wir Anfänge davon.
Und im Inneren eine EU, die nicht staatliche Lenkung und Regulierung als Königsweg sieht, sondern Freiheit und Verantwortung des Einzelnen wieder schätzt. Hier ist eine radikale Änderung nötig.
In Krisen stark, politisch pragmatisch und nach innen „Hands Off“. Das ist die EU, die die einmalige Chance, die ich beschrieben habe, nutzen könnte. Lassen Sie uns hieran arbeiten.
Es kann gelingen, am Ende bin ich Optimist: Gefordert ist Mut in der Politik, diese sehr schwierigen, weil oft unpopulären Fragen zu adressieren.
Und der Mut von uns allen, unseren Beitrag zu leisten, damit das gelingen kann.
Vielen Dank