Wie soll die Wirtschaft mit Autokratien umgehen?
Europa sieht sich mit einer neuen Realität konfrontiert: Der völkerrechtswidrige Krieg Russlands gegen die Ukraine seit dem Februar 2022 ist eine Zäsur für die europäische Sicherheitsordnung. Das autoritäre Herrschaftssystem von Präsident Putin stellt seine nationalen Sicherheitsinteressen über eine prosperierende Entwicklung der russischen Volkswirtschaft. Abhängigkeiten im Energiesektor haben sich als strategisches Risiko für ganz Europa, aber insbesondere für das Exportland Deutschland entpuppt. Das Großmachtgebaren Russlands entgegen internationalen Verträgen und Rechtsgrundlagen ist ein Weckruf für die liberal-demokratischen Staaten, ihr freiheitliches Gesellschaftsmodell zu verteidigen und Wohlstand zu sichern. Mit einer Abnabelung von der Welt wird dies allerdings sicherlich nicht funktionieren. Zudem existieren unterschiedliche Formen autoritärer Systeme, die nicht wie Russland die Geschäftsgrundlage des freien Welthandels aufkündigen.
Siegeszug der liberalen Demokratien hat Höhepunkt überschritten
So historisch der Moment der russischen Invasion in der Ukraine ist, so ist er trauriger Höhepunkt einer sich seit längerer Zeit andeuteten Entwicklung des geostrategischen Umfelds, an die sich Deutschland und Europa anpassen müssen. Die demokratische Welle ist vorübergezogen, die Zahl der Demokratien stagniert seit der Jahrtausendwende, die Qualität demokratischen Regierens nimmt weltweit ab, die Repression in autoritären Systemen nimmt zu – darin ist sich die Fachliteratur weitestgehend einig. Die liberaldemokratischen Staaten müssen sich bewusst sein, dass in anderen Teilen der Welt die Integration in das globale Handelssystem nicht mit der Übernahme von Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit einhergeht.
Nach dem Triumph des transatlantischen Westens über die Sowjetunion standen zunächst die Tore der Welt für die Unternehmen offen und der Siegeszug der Demokratie schien unaufhaltsam. Jedoch hat sich in der Rückschau herausgestellt, dass sich autokratische Herrschaftsformen durchaus dynamisch entwickeln. Die Zementierung autoritärer Herrschaft in Russland bereits Ende der 1990er Jahre war dafür ein erstes Warnzeichen, das in der vorherrschenden Euphorie gerne übersehen wurde. Das Ende der Bipolarität nach dem Kalten Krieg ist in eine zunehmende Komplexität der internationalen Beziehungen übergegangen. Die Handelspolitik nimmt dabei einen zentralen Stellenwert ein, weil sich geoökonomische Einflusssphären bilden und eine schrittweise Integration der Weltwirtschaft einer Regionalisierung und Ausdifferenzierung in verschiedene Allianzen gewichen ist.
China an der Spitze des Systemwettbewerbs mit demokratischen Industriestaaten
China voran stellt unter Beweis, dass ein zunehmend autoritärer Einparteienstaat die Legitimität seines Gesellschaftsvertrags durch die millionenfache Befreiung von Menschen aus der Armut erfolgreich festigt und Wohlstand für breite Bevölkerungsteile hervorbringen kann. Durch Übernahme und Weiterentwicklung von Technologien, eine ambitionierte Industriepolitik und durch gigantische staatliche Subventionen und Investitionen in Schlüsselbranchen hat sich China nun an die Spitze des Systemwettbewerbs mit den demokratischen Industriestaaten gestellt und scheint gegenüber dem demokratisch-marktwirtschaftlichen Modell eine Alternative zu bieten – was freilich nicht bedeutet, dass innovationsblockierende Strukturen, ineffektive Investitionen, zunehmende Klima- und Umweltprobleme sowie die demografische Frage in Zukunft keine ernst zu nehmenden Herausforderungen für den kommunistischen Einparteienstaat darstellen werden. Ohne die Strahlkraft autoritärer Ordnungsmodelle zu überschätzen, stellt sich für Deutschland und die Europäische Union (EU) als Teil des transatlantischen Westens eine entscheidende Frage: Wie bewahren wir unseren Wohlstand und behaupten unsere demokratischen Werte, ohne uns aus diesen autoritären bzw. demokratisch defizitären Staaten rigoros zurückzuziehen?
Unternehmen müssen in der internationalen politischen Ökonomie viel langfristiger und vorausschauender handeln
Europas und insbesondere Deutschlands Wohlstand mit seiner exportorientierten Industrie sind von funktionierenden internationalen Lieferketten abhängig. Die Exportquote der 27 EU-Mitgliedstaaten – das Verhältnis von Exporten von Waren und Dienstleistungen zum BIP – lag 2020 bei 46,8 Prozent. Die vernetzte Wertschöpfung in der Welt sichert rund 36 Millionen Arbeitsplätze in Europa. Dabei ist die Exportabhängigkeit auch nicht mit einer China-Abhängigkeit gleichzusetzen, die sich vielmehr selektiv auf einige Vorprodukte und Hochtechnologien erstreckt. Die im europäischen Vergleich hohen Exporte Deutschlands in das Riesenreich machen rund sieben Prozent an den Gesamtausfuhren aus. Es geht also weniger um eine »Lex China« als vielmehr um eine Standortbestimmung und strategische Ausrichtung der Außen- und Handelspolitik. Klar ist, die neuen geoökonomischen Vorzeichen zwingen die Unternehmen und die Politik, sich umfassend damit auseinanderzusetzen. Unternehmen müssen in der internationalen politischen Ökonomie viel langfristiger und vorausschauender handeln. Zudem sind sie angehalten, zunehmend auf Grundlage heterogener Anforderungen in Politik, Gesellschaft und Mitarbeiterschaft zu entscheiden. Die Diskussion um ein sogenanntes "Lieferkettengesetz" hat dies verdeutlicht.
Unter zehn wichtigsten Handelspartnern der EU drei Autokratien
Das wird unter anderem dadurch sichtbar, dass sich unter den zehn wichtigsten Handelspartnern der EU bereits drei Autokratien befinden, wenn natürlich auch in völlig unterschiedlichen Ausprägungen: China, Russland und die Türkei. Diplomatie in den etablierten internationalen Organisationen ist kein Garant mehr für Berechenbarkeit und Planungssicherheit. Die Schwächung etablierter Ordnungsstrukturen wie der Welthandelsorganisation (WTO) ist Zeugnis einer Zunahme der Abhängigkeit von äußeren Kräften, die sich dem unternehmerischen Einfluss entziehen – kurz »Heteronomie«. Denn die Auflösung gegensätzlicher Interessen durch geregelte Verfahren ist immer seltener zu beobachten. Der Versuch einer Reparatur würde die Rückkehr zum alten Normalzustand bedeuten, wäre hier aber wohl bequemes Wunschdenken. Neue, multi- und plurilaterale Formen der Kooperation mit wechselnden Partnern sind stattdessen unter Umständen aussichtsreicher. Die andere Alternative wäre eine strikte Konditionalisierung von Menschenrechten.
Westliches Ordnungsmodell bleibt nur dann konkurrenzfähig, wenn es weiter Wohlstand schafft
Die Welt wird interdependent bleiben, aber durchaus anfälliger für Konflikte und diplomatische Missverständnisse – was auch die Gefahr militärischer Eskalationen einschließt, obwohl dies jeder Seite mehr schadete als nützte. So würde der Zusammenbruch internationaler Warenströme sowohl für die USA als auch für China keine Verbesserung des Status quo bedeuten – die Volkswirtschaften sind vom gegenseitigen Austausch abhängig. Jedoch müssen wir pragmatisch anerkennen, dass verschiedene Gesellschaftssysteme zumindest auf absehbare Zeit nebeneinander existieren und sich vielfache, gleichzeitige (Ziel-)Konflikte und Krisen ergeben. Vor allem der internationale Technologiewettbewerb wird künftig stärker durch geopolitische Interessen getrieben. Diese Koexistenz ist jedoch nicht zu verwechseln mit dem Ende internationaler Zusammenarbeit. So ist es im europäischen Interesse, auch mit China weiterhin – aus einer selbstbewussteren, stärkeren Position heraus – gemeinsame Interessen auszuloten und sich für gegenseitigen Marktzugang und Investitionsschutz einzusetzen. Unternehmen brauchen durch einen strategisch ausgerichteten außen- und handelspolitischen Rahmen einen berechenbaren Handlungsspielraum, um Investitionsentscheidungen verantwortlich zu treffen. Zudem sind globale Fragen wie der Klimawandel nur in Kooperation lösbar. Technologische Lösungen müssen auch durch autokratische Mitbewerber übernommen werden – insbesondere China mit einem Anteil an den globalen CO2-Emissionen von ca. 27 % – um dem 1,5-Grad-Ziel näherzukommen. Wenn stattdessen der Protektionismus durch Schutzmaßnahmen befördert wird, entsteht keine notwendige Konvergenz in den Zielen und Maßnahmen. Das westliche Ordnungsmodell aus Demokratie und Marktwirtschaft wird nur konkurrenzfähig gegenüber den autokratischen Systemwettbewerben bleiben, wenn es weiter Wohlstand schafft und zugleich die vielfältigen Transformationsprozesse bewältigt. Nur die globale Wettbewerbsfähigkeit und Innovationskraft kann sicherstellen, dass Europa über ausreichend Ressourcen und technologische Souveränität verfügt, um ein globaler, durchsetzungsstarker Akteur zu werden.
Kohärente Außen- und Handelspolitik gefragt
Jeder Versuch, Antworten auf globale Fragen und Gefahren von Abhängigkeiten zu geben, muss die vernetzte Wirtschaftsweise als Grundlage für Wohlstand und politische Einflussmöglichkeiten zum Ausgangspunkt nehmen, beides bedingt sich gegenseitig. Die Industrie, die Gewinne erwirtschaften muss, um weiterhin global wettbewerbsfähig zu bleiben, ist hierfür Mittel zum Zweck. Damit Unternehmen im zunehmend diffusen Umfeld agieren können, muss die Politik eine kohärente Außen- und Handelspolitik formulieren, die ebenfalls langfristige Interessen verfolgt und den Unternehmen möglichst viel Verlässlichkeit und Berechenbarkeit schafft. Die Unternehmen sind hingegen noch stärker gefordert, ihre Richtlinien zur Corporate Social Responsibility (CSR) weiterzuentwickeln und konsequent umzusetzen. Das heißt auch, neben Sozialverantwortung Umweltbewusstsein und nachhaltige Unternehmensführung als Kriterien (ESG) zu integrieren. Internationalen Handel zu treiben ist das oberste Gebot und Europa muss die Öffnung von Märkten ganz oben auf die Agenda setzen, um potenzielle neue Partner nicht an Mitbewerber zu verlieren. Wie dringlich dies ist, verdeutlicht schon der Diskurs in Europa um Handels- und Investitionsabkommen wie TTIP mit den USA bis hin zu CETA mit Kanada. Wenn wir nicht in der Lage sind, mit unseren engsten Verbündeten am anderen Ende des Atlantiks Abkommen zu schließen, wie wollen wir andere Partner überzeugen, sich uns anzuschließen?
Wir sind überzeugt, dass Deutschland als technologieführendes Industrie-, Innovations- und Exportland vernetzter mit der Welt werden muss – denn nur durch wirtschaftliche und gesellschaftliche Attraktivität finden wir Nachahmer. Dabei sind zunehmend ethische Gesichtspunkte miteinzubeziehen, weil universelle Menschenrechte eben keine »innere Angelegenheit« sind und die Wirtschaft sich klar positionieren muss. Wie Wohlstand künftig erwirtschaftet wird, ist eine gesamtgesellschaftliche Frage und muss durch eine viel intensivere Debatte als bisher beantwortet werden. Diese Buchausgabe ist ein Beitrag der Industrie, sich auch unbequemen Fragen zu nähern und an Antworten mitzuarbeiten.
Siegfried Russwurm und Joachim Lang sind die Herausgeber des Bandes "Wie soll die Wirtschaft mit Autokratien umgehen?", der im Mai 2022 mit Beiträgen von Ole Oermann, Sabine Herold, Hans-Jürgen Wagener und Edna Schöne im Herder Verlag erschienen ist.