Wirtschaftsabkommen zwischen der EU und Indien: Ein neuer Anlauf
Nicht nur der Zeitplan für die Verhandlungen ist ambitioniert. Angesichts von Wahlen in Indien und der EU im Jahr 2024 haben sich beide Partner zum Ziel gesetzt, die Abkommen bis Ende 2023 zu finalisieren. Zumindest die geopolitischen und geoökonomischen Interessens-Konvergenzen lassen auf erfolgreiche Gespräche hoffen. Herausforderungen wie die Spannungen zwischen China und demokratischen Marktwirtschaften, Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine, die globale Erwärmung und die Covid-Pandemie sowie unter Druck geratene Lieferketten haben die Dringlichkeit für Europa und Indien gleichermaßen erhöht, ihre strategische Souveränität durch eine Diversifizierung ihrer Partnerschaften zu behaupten. Europa ist zunehmend daran interessiert, in Indien einen verlässlichen Verbündeten zu finden, der nicht nur geostrategische Ziele verfolgt, sondern auch gemeinsame Werte wie Multilateralismus, die Achtung des Völkerrechts, Demokratie und Menschenrechte teilt und verteidigt. Die Position Neu-Delhis zu diesen Themen wird mehr denn je genau beobachtet.
Interesse an Indien innerhalb der EU gestiegen
In jeder Hinsicht ist das Interesse an Indien innerhalb der EU gestiegen. Die „Leitlinien zum Indo-Pazifik“ der Bundesregierung wurden nach deren Veröffentlichung 2020 als Aufruf zum Ausbau deutscher Interessen besonders auch in Südasien verstanden. Als Portugal die Beziehungen zu Indien zu einem Eckpfeiler seiner Ratspräsidentschaft 2021 machte, die im EU-Indien-Gipfel im Mai 2022 und in der Ankündigung neuer Verhandlungen über Wirtschaftsabkommen mündete, rückte das viel beschworene Potenzial Indiens erneut in den Fokus. Das spiegelt sich auch in der „EU-Strategie für die Zusammenarbeit im indo-pazifischen Raum“ wider, in der Indien als Partner in den Bereichen Regulierungszusammenarbeit, Menschenrechte, Handel und Investitionen, grüner Wandel, Digitalisierung, Datenschutz, Konnektivität, Sicherheit und Gesundheitswesen genannt wird.
Während einige diese Entwicklung als überfällige Erkenntnis begrüßten, dass Indien ernster genommen werden muss, wiesen andere auf protektionistische und demokratische Rückschläge in Indien hin, die die Offenheit des Landes für eine stärkere Partnerschaft und sein Wachstumspotenzial einschränken könnten.
Wiederaufnahme der Verhandlungen zwischen EU und Indien
Ungeachtet dieser unterschiedlichen Einschätzungen die Wiederaufnahme der Verhandlungen zwischen EU und Indien wird von der deutschen Wirtschaft als willkommener Schritt angesehen. Einige Industriezweige setzen große Hoffnungen auf die Abkommen und betrachten diese sogar als Voraussetzung für ein vertieftes Engagement mit Indien, während andere einen Verhandlungserfolg begrüßen würden aber darauf hinweisen, dass auch ohne ein Abkommen in der Vergangenheit bereits einige positive Entwicklungen zu beobachten waren.
Ein Beispiel dafür ist die Maschinenbauindustrie mit einem jährlichen Anteil von 25 bis 30 Prozent am gesamten Warenverkehr. Die Zollbelastung des Sektors bei Importen nach Indien ist seit dem ersten Jahrzehnt des Jahrhunderts stetig gesunken und liegt derzeit bei fünf bis 7,5 Prozent Basiszoll für die meisten Produktgruppen.
Deutscher Automobilsektor in Indien benachteiligt
Andere Branchen, deren Indien-Engagement unter anhaltend hohen Zollbelastungen leidet, warten noch auf den Abbau von Barrieren. So ist beispielsweise der deutsche Automobilsektor in Indien aufgrund von Zöllen auf importierte Komponenten aus der EU derzeit gegenüber seinen asiatischen Konkurrenten benachteiligt. Mit dem Freihandelsabkommen zwischen Indien und dem Verband Südostasiatischer Nationen (ASEAN), in dem japanische und koreanische Hersteller stark vertreten sind, können einige Komponenten zollfrei nach Indien exportiert werden. Im Gegensatz dazu liegt die steuerliche Belastung für vollständig montierte Fahrzeuge aus Europa zwischen 66 und satten 110 Prozent.
Die Erfolgschancen der Verhandlungen mit Indien beurteilt die deutsche Wirtschaft jedoch eher pessimistisch.. Diese vorsichtige Einschätzung beruht vor allem auf den gegensätzlichen Erwartungen, die beide Verhandlungspartner zu haben scheinen. Während die EU ein umfassendes Handelsabkommen im Auge hat, das voraussichtlich auch den Dienstleistungssektor einbeziehen würde, könnte dies als Angriff auf die vielen Subsistenzbetriebe in Indiens tertiärem Sektor empfunden werden.
Soziale und ökologische Nachhaltigkeit
Noch wichtiger ist, dass ein umfassendes Abkommen auch hohe Standards in Bezug auf soziale und ökologische Nachhaltigkeit beinhaltet, während Indien ein Abkommen mit Blick auf „low-hanging fruits“ zu bevorzugen scheint. Während die EU sicherstellen möchte, dass eine Zunahme des Handels keine negativen Auswirkungen auf Arbeitnehmer und Umwelt hat, verweist Indien auf seine individuellen Bedingungen, etwa durch Verweis auf seinen großen informellen Sektor, der kaum nach europäischen Vorstellungen reguliert werden kann. Das Beharren Indiens auf der historischen Verantwortung der Industrieländer für den Klimawandel macht es nicht leichter, hohe Umweltstandards auszuhandeln. Der aktuelle europäische Nachhaltigkeitsdiskurs, in dem Ökonomie, Ökologie und Gesellschaft als zusammenhängend betrachtet werden, müsste von Indien jedoch als ein Kernaspekt der strategischen Positionierung Europas verstanden werden.
Darüber hinaus erinnern sich die Wirtschaftsakteure noch lebhaft daran, wie die letzten Handelsverhandlungen im Jahr 2013 ins Stocken geraten waren. Sie fragen sich, ob die Veränderungen, die seither in Indien zu beobachten sind, substanziell genug sind und einen optimistischeren Ausblick rechtfertigen. Eines der Hindernisse ist die Ausschlussliste der indischen Seite, in der Herstellergruppen aufgeführt sind, die bestimmte Produkte dauerhaft vom Zollabbau ausgenommen sehen möchten.
Projektbezogene Zollaussetzungen für benötigte Investitionsgüter
Während die Handels- und Investitionsverhandlungen mit vollem Einsatz geführt werden müssen, erscheint vorerst eine pragmatische Überwindung der bestehenden Barrieren am erfolgversprechendsten. Da Indien auf absehbare Zeit nicht von seiner generellen Schutzzollpolitik abweichen wird, wären projektbezogene Zollaussetzungen für benötigte Investitionsgüter, sowohl für Direktinvestitionen als auch für Infrastrukturprojekte, eine Möglichkeit der Erleichterung − insbesondere im Hinblick auf die von der indischen Regierung immer wieder geäußerten Investitionswünsche im High-Tech-Sektor.
Dennoch sollten beide Verhandlungsparteien die Gespräche mit einem klaren Verständnis für die damit verbundenen Möglichkeiten führen. Indien muss sich darauf vorbereiten, die Hürden der Nachhaltigkeitskapitel im Interesse der Stärkung von Allianzen zu überspringen, während die EU bereit sein muss, Indien flexiblere Übergangsfristen oder ein schrittweises Inkrafttreten einzelner Module anzubieten. Zudem müssen die EU und Indien dem heimischen Publikum erklären, dass die Abkommen Teil von Diversifizierungsbemühungen sind, die die übermäßige Abhängigkeit von etablierten Handelspartnern verringern.
Dieser Artikel ist ein übersetzter Auszug aus dem am 27. Juni 2022 veröffentlichten Papier zu Indien des Asien-Pazifik Ausschuss der Deutschen Wirtschaft (APA).