Über den Mut zum Risiko
Jede Entscheidung bringt immer auch ein Risiko mit sich. Dabei würden wir Risiken und Unsicherheiten oft am liebsten ganz aus unseren Entscheidungen verbannen – wohl wissend, dass das nicht möglich ist. Philosophen, Psychologen und Ökonomen stellen sich seit langem die Frage, was es mit dem Risiko auf sich hat und wie sich ein rationaler, kompetenter Umgang mit Risiken erlernen lässt.
Was würden Sie tun, wenn Sie keine Angst hätten? Diese Frage stellen Psychologen, wenn jemand Schwierigkeiten hat, eine Entscheidung für die Zukunft zu treffen. Denn sie wissen: Angst lähmt. Diese starke Emotion gehört zwar aus gutem Grund zur menschlichen, evolutionären Grundausstattung. Sie soll uns helfen, in Gefahrensituationen nicht allzu lange nachzudenken, sondern schnell zu handeln. In als bedrohlich empfundenen Situationen lässt uns der Botenstoff Noradrenalin im Gehirn blitzschnell reagieren – schaltet allerdings gleichzeitig weite Teile der Großhirnrinde ab. Risiken werden in einer solchen Situation unter- oder überschätzt. Rationale Entscheidungen sind kaum noch möglich.
Risiken bedeuten auch Chancen
Deshalb also die Frage: Was würden Sie tun, wenn Sie keine Angst hätten? Diese Frage verändert den Blick darauf, was wir als Risiko verstehen. Denn ursprünglich bedeutet der Begriff „Risiko“ nicht nur Gefahr oder Schaden. Er bedeutet: Glück und Unglück, negative und positive Auswirkungen einer Entscheidung liegen nicht allein in unseren Händen. Der renommierte Risikoforscher Gerd Gigerenzer fasst dieses Bedeutungsspektrum so zusammen: Ein Risiko kann eine Bedrohung oder eine Hoffnung sein. Da niemals alle Einflussfaktoren bekannt sind, geht mit jeder Entscheidung auch ein Wagnis einher. Oder, wie der Volksmund weiß: Wo ein Risiko ist, ist meist auch eine Chance nicht weit. Wer nicht wagt, der nicht gewinnt.
Ohne die Bereitschaft, Risiken einzugehen, gäbe es keine Innovation, keinen Fortschritt – keine Chance, Zukunft aktiv und konstruktiv zu gestalten. Das größte Risiko unserer Zeit liege in der Angst davor, Risiken einzugehen, analysierte daher der österreichische Soziologe Helmut Schoeck. Eine Analyse, die heute wohl mehr denn je gilt: In einer komplexen, global vernetzten Welt müssen wir immer schneller immer mehr und immer komplexere Entscheidungen treffen, große und kleine Risiken erkennen, einordnen, steuern und managen.
Mit Risiken umgehen lernen
Um dabei gute Entscheidungen zu treffen, die nicht maßgeblich von irrationalen Ängsten und Befürchtungen geleitet sind, so argumentiert Gigerenzer, müssen wir zwischen den Begriffen des Risikos und der Ungewissheit unterscheiden: Bekannte Risiken können wir mit logischem und statistischem Denken erkennen, analysieren, bewerten und steuern. Die Ungewissheit jedoch, also die Tatsache, dass uns einige Risiken immer unbekannt bleiben werden, müssen wir aushalten.
Die schlechte Nachricht lautet also: Risiken und Unsicherheiten lassen sich nicht einfach ignorieren oder ganz aus dem Leben verbannen. Die gute Nachricht: Menschen können lernen, mit Risiken kompetent und intelligent umzugehen. Mit dem richtigen Handwerkszeug lassen sich Entscheidungen und damit Verantwortung wagen, Gefahren begrenzen und Chancen eröffnen. Kurzum: Risikoverhalten ist erlernbar. Risikoforscher wie Gigerenzer plädieren sogar dafür, Risikokompetenz an Schulen und Universitäten zu lehren. In einer modernen Gesellschaft könne es nicht sein, dass viele Menschen Statistiken und Wahrscheinlichkeiten nicht richtig einordnen können und nie gelernt haben, wie man kompetent und rational Risiken bewertet und steuert, kritisiert Gigerenzer.
Risikozentrum im Gehirn
Die Erkenntnisse von Neurowissenschaftlern stützen die These, dass sinnvolles Risikoverhalten erlernbar ist. So zeigen Gehirnscans, dass Emotion und Verstand, Bauchgefühl und Kalkül bei menschlichen Entscheidungen eng zusammenarbeiten. Beide Entscheidungssysteme sind in unterschiedlichen Bereichen des Gehirns angesiedelt: Während die linke Gehirnhälfte die Vor- und Nachteile bei riskanten Entscheidungen rational abwägt, steuert die rechte Gehirnhälfte emotionale, verführerische oder ängstliche Impulse und Affekte. Im Idealfall spielen die beiden Gehirnhälften zusammen: Mit dem Verstand stellt man sich rational die Situationen vor, zu denen verschiedene Optionen führen könnten. Dann wägt man ab, wie man sich in diesen Situationen fühlen würde. Und trifft auf Basis dieser Mischung von Kalkül und Gefühl eine Entscheidung.
Bei Heranwachsenden zeigen Hirnscans hingegen, dass die rationalen Kontrollsysteme im Gehirn noch nicht vollständig ausgereift sind – während gleichzeitig die Areale der rechten Gehirnhälfte, die mit Affekten in Verbindung gebracht werden, geradezu hyperaktiv sind. Evolutionsbiologen gehen davon aus, dass in dieser Entwicklungsphase die Risikobereitschaft, die Bereitschaft Neues auszuprobieren und Veränderungen zu wagen, besonders ausgeprägt ist, damit ein möglichst breiter Erfahrungsschatz aufgebaut werden kann. Denn Erfahrungswissen ist wertvoll – und es zu sammeln das ein oder andere Risiko wert.
Bauchgefühl als Ratgeber bei Entscheidungen
Warum ist das Erfahrungswissen so wichtig für die Risikokompetenz? Psychologen der Universität des Saarlands haben in Experimenten gezeigt, dass Erwachsene bei Entscheidungen stets dazu neigen, die ihnen vertrautere Alternative zu wählen – also diejenige, bei der sie über Erfahrungswissen verfügen, und die ihnen daher als mit weniger Unsicherheiten behaftet erscheint. Die Forscher maßen die Hirnströme von Versuchspersonen in Entscheidungssituationen. Sie beobachteten, dass das Gehirn in Sekundenbruchteilen zunächst überprüft, welche Alternative ihm bekannter vorkommt – und dann erst auf zusätzliche Informationen aus dem Gedächtnis zugreift. Dieses Erfahrungswissen wird oft als Bauchgefühl oder Intuition beschrieben: Aufgrund unserer Erfahrungen bilden wir Faustregeln und Bewertungskriterien, die uns unbewusst bei Entscheidungen helfen. Erfahrungswissen unterstützt uns also dabei, Risiken einzuschätzen.
Gesellschaft prägt Risikobewertung
Das heißt im Umkehrschluss: Wie risikofreudig ein Mensch ist, hängt davon ab, welche Erfahrungen er im Laufe seines Lebens gesammelt hat. Hierbei kommen nun auch gesellschaftliche und kulturelle Faktoren ins Spiel: Wurde jemand für Fehler stets abgestraft? Wurde risikofreudiges Verhalten belohnt – oder im Gegenteil als moralisch fragwürdig angesehen? Welche Risiken werden im persönlichen Umfeld und in der Gesellschaft als akzeptabel angesehen – und welche Risiken versuchen Menschen in ihrem Kulturraum eher zu vermeiden?
Dieses soziale Lernen, bei dem sich Menschen in ihrem Risikoverhalten an Vorbildern in ihrem Umfeld, an kulturellen und sozialen Normen orientieren, erklärt auch, warum Menschen Risiken bisweilen sehr unterschiedlich beurteilen. Setzt man zwei Menschen mit unterschiedlichem Erfahrungshorizont dem gleichen Risiko aus, kann sich der eine relativ sicher fühlen – während der andere in Panik verfällt. Es erklärt ebenfalls, warum sich viele Menschen in einem Lebensbereich risikoscheu verhalten, in einem anderen aber sehr risikofreudig auftreten.
Jemand, der im Berufsleben stets auf Nummer sicher geht, springt vielleicht privat gerne mit dem Fallschirm aus Flugzeugen. Der Kettenraucher fürchtet sich vor Flugreisen. Und der Rennwagenfahrer hat womöglich Angst vor den Folgen ungesunden Essens. Diese Vorstellungen davon, welche Risiken wie gefährlich sind, werden von sozialem Umfeld und gesellschaftlichen kollektiven Risikobewertungen geprägt. Rational sind diese kollektiven Risiko-Urteile nicht immer.
Globale Risiken im Wandel
Die Vorstellungen davon, welche Risiken wie wahrscheinlich und wie einflussreich sind, befinden sich zudem in ständigem Wandel. In der Bewertung von Risiken spiegeln sich immer auch aktuelle Ereignisse und Trends, gesellschaftliche, technologische und wirtschaftliche Entwicklungen. Das zeigt der Global Risk Report des World Economic Forum (WEF). Dessen jährlich aktualisierte Rangliste verdeutlicht, dass sich die global als am gefährlichsten wahrgenommenen Risiken in den vergangenen zehn Jahren massiv verändert haben. So standen in den Jahren 2008 bis 2011 wirtschaftliche Risiken wie die Gefahr einer erneuten Finanz- und Wirtschaftskrise klar an vorderster Stelle der globalen Ängste. Seither aber dominieren vor allem Umwelt-Risiken wie der Klimawandel und extreme Wetterereignisse, soziale Risiken wie die globalen Migrationsbewegungen sowie geopolitische Risiken wie die Bedrohung durch Massenvernichtungswaffen und regionale Konflikte die vorderen Plätze der Rangliste.
Manager gestalten Entscheidungs- und Risikokultur
Bleibt die Frage: Wie können nationale und internationale, wirtschaftliche und politische Organisationen und Unternehmen Risiken adressieren und sinnvoll mit ihnen umgehen? Ein wirksames Risikomanagement ist gefragt. Unter „Risikomanagement“ versteht man allgemein gesprochen den planvollen Umgang mit Risiken. Die Phase der Risikoidentifikation ist dabei vielleicht die herausforderndste: Zunächst einmal muss überhaupt erkannt werden, dass ein Risiko vorliegt. Bei der Entwicklung und Umsetzung von Managementstrategien für diese Risiken spielen Faktoren wie etwa die Vorbildfunktion von Führungspersönlichkeiten eine große Rolle. Diesen Schluss legt jedenfalls die Arbeit der Wirtschaftswissenschaftler Donald Hambrick und Phyllis Mason nahe. Die beiden Forscher entwickelten im Jahr 1984 an der New Yorker Columbia University die sogenannte Upper-Echelon-Theorie.
Der Begriff „Upper Echelon“ kommt aus der Militärsprache und bezeichnete ursprünglich höhere Offiziere der US Army. Inzwischen steht er als Synonym für Führungsteams in Wirtschaft und Politik. Nach der Upper-Echeolon-Theorie prägen die Persönlichkeiten, Emotionen, Moralvorstellungen und Werte von Führungskräften maßgeblich die Art, wie diese Entscheidungen treffen – und beeinflussen so die Entscheidungs- und Risikokultur der gesamten Organisation. Wie Entscheider Risiken beurteilen und mit ihnen umgehen, bestimmt also zum Beispiel maßgeblich, wie Mitarbeiter quer durch alle Hierarchiestufen in einem Unternehmen Risiken bewerten. Das hat Einfluss auf Unternehmenskultur und kann Dynamik und Erfolg des Unternehmens beeinflussen.
Modernes Risikomanagement
Experten empfehlen daher, Risikomanagement nicht als reine Pflichtaufgabe zu betrachten, sondern als strategische Managementfunktion, deren Ziel es ist, den Blick nicht nur für Risiken, sondern auch für Chancen zu öffnen. Risikomanager sprechen von einem risikokontrollierten Chancenmanagement: Es geht darum, Chancen an den Märkten zu nutzen, ohne dabei die Risiken aus dem Blick zu verlieren. Ob das gelingt, entscheidet sich weniger an der Frage, ob ausgefeilte datengetriebene und modellgestützte Risikomanagement-Tools zum Einsatz kommen. Künstliche Intelligenz und smarte Algorithmen, die Risiken und Chancen automatisiert identifizieren und berechnen, können zwar zukünftig zu wichtigen Helfern werden, um in einer komplexen, digitalisierten Welt leichter den Überblick zu behalten.
Wichtiger ist allerdings, dass das Thema Risiko- und Chancenmanagement überhaupt systematisch und transparent angegangen, in Entscheidungsstrukturen und Unternehmenskultur verankert wird. Teil eines modernen Risikomanagements ist es dabei, über Risiken offen zu sprechen und Mitarbeitern klare Leitlinien zum Umgang und zur Bewertung von Risiken zu bieten. Sprich offen über Ungewissheit, stelle Vergleiche mit bekannten Risiken an und erkläre, was getan werden kann – diese Schritte empfiehlt Risikoexperte Gigerenzer Führungskräften und Meinungsbildnern in Medien, Wirtschaft und Politik für die Risikokommunikation. Anders als vielleicht vermutet, mache das Erklären und Aufzeigen von Risiken Menschen nämlich nicht ängstlicher. Im Gegenteil: Ein Risiko, das man kennt und einschätzen kann, wird eher als Chance wahrgenommen als ein unkalkulierbares Risiko. Wenn alle Risiken und Unsicherheiten klar auf dem Tisch liegen, schafft das wieder Sicherheit und Raum für die Frage: Was würden wir tun, wenn wir keine Angst hätten? So kann Risikomanagement zu einem echten Chancenmanagement werden.