Covid-19 und globale Wertschöpfungsketten in der industriellen Gesundheitswirtschaft
Die Corona-Krise zeigt, wie schnell das Thema Gesundheit zum Mittelpunkt unseres gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Handelns werden kann. Klar ist: Die Leistungsfähigkeit der industriellen Gesundheitswirtschaft (iGW) am Standort Deutschland ist einer der Schlüssel, warum Deutschland die Corona-Krise im internationalen Vergleich überdurchschnittlich gut meistert. „Made in Germany“ für Diagnostika, Medizinprodukte, Arzneimittel, Biotechnologie sowie Informations- und Kommunikationstechnik (IKT) gilt unverändert als internationales Gütesiegel. Die iGW ist wettbewerbsfähig und leistet seit Jahren einen positiven Beitrag zur deutschen Handelsbilanz: So betrug der Handelsüberschuss bei Medizingütern im Jahr 2019 laut ifo Institut 37 Milliarden Euro.
„Apotheke der Welt“ verliert im internationalen Wettbewerb an Boden
Deutschland zählt weltweit zu den Top-5-Standorten der iGW. Die hierzulande tätigen Unternehmen decken nahezu alle Bereiche der iGW-Wertschöpfungskette ab – von der Forschung und Entwicklung über die Herstellung bis zum Vertrieb. Das ist ein entscheidendes Kriterium zur Sicherung der europäischen Souveränität und Krisenresilienz bei der medizinischen Versorgung. Um den zukünftigen Erhalt aller Teilbereiche der Branche in Deutschland und damit der gesamten Wertschöpfungskette zu sichern, braucht die industrielle Gesundheitswirtschaft politische und gesellschaftliche Rückendeckung. Nur so können die gesamten Wertschöpfungsketten stabilisiert werden.
Innovationen werden woanders vorangetrieben
Seit Jahren zeigt sich in der iGW ein besorgniserregender Trend: Deutschland als einstige Apotheke der Welt verliert immer mehr an Boden gegenüber anderen Ländern, insbesondere den USA und asiatischen Staaten. Das betrifft alle wichtigen Zukunftsfelder der iGW, zum Beispiel die Digitalisierung im Medizintechnik- und Pharmabereich, die klinische Forschung oder auch die hochinnovative Biotech-Produktion. So ist die Zahl der Biotech-Neugründungen in Deutschland stark rückläufig. Ihre Finanzierung mit Risikokapital ist unterdurchschnittlich. Neuinvestitionen, insbesondere in neuartige Therapien wie Gen- und Zelltherapie finden, fast ausschließlich in den USA und Asien statt. Parallel zu der schleichenden Verlagerung der Forschung und Produktion zeichnet sich immer deutlicher eine protektionistische Handelspolitik einiger Nationen ab. Auch bisher stabile Lieferketten geraten dadurch ins Schwanken. Gehen diese Trends ungebremst weiter, gibt Deutschland in der strategischen Schlüsselindustrie der iGW ein großes Stück gesundheitliche und wirtschaftliche Eigenständigkeit auf.
Krisenanfälligkeit der Gesundheitswirtschaft weiter senken
Als erste Konsequenz aus der Corona-Krise haben Bundesregierung und EU-Kommission die Diskussion über die Stärkung der Krisenfall-Resilienz, also der Widerstandsfähigkeit deutscher und europäischer Gesundheitssysteme, intensiviert. Diese Debatte über eine gemeinsame europäische Pandemie- und Krisenvorsorge ist wichtig. Sie greift aber zu kurz, wenn sie die notwendige industriepolitische Stärkung der iGW in Europa ausklammert. Notfallpläne und strategische Notfallreserven an medizinischen Gütern werden den schleichenden Verlust von Know-how und Wertschöpfung in der iGW nicht aufhalten.
Was wir jetzt benötigen ist ein klares industriepolitisches Bekenntnis für einen wettbewerbsfähigen iGW-Standort in Europa. Jetzt gilt es, vorhandenes innovatives Know-how, zukunftsweisende Forschung und Entwicklung sowie Produktion in Europa zu halten und auszubauen. Das kann nur gelingen, wenn die EU-Kommission und die EU-Mitgliedsstaaten gezielt die Wettbewerbsfaktoren für die iGW stärken.
Gesundheitsaußenpolitik: Globalisierung geht trotz Corona weiter
Die bestehenden industriepolitischen Herausforderungen und mögliche Wege zu deren Bewältigung sind nicht neu: Erwähnt seien nur die Innovationsförderung, der Abbau von Bürokratie, die Ausbildung von Fachkräften und die nachhaltige Digitalisierung des Gesundheitssystems. Daneben gehört zur Stärkung des Standortes Europa auch eine proaktive Gesundheitsaußenpolitik, die einen fairen Zugang zu den wichtigsten Export- und Investitionsmärkten sicherstellt. Die Souveränität eines starken iGW-Standort Europa darf jedoch nicht verwechselt werden mit einer Abkehr von der globalen Wertschöpfung. Wer die Globalisierung infolge der Corona-Pandemie für beendet erklärt, liegt damit falsch. Forderungen, in nationaler Regie sämtliche Güter des medizinischen Bedarfs selbst produzieren zu müssen, sind wenig glaubwürdig für ein Land, das vom Export und globalen Zulieferketten lebt. Eine derartig gelagerte nationale Symbolpolitik wird in der Zeit „nach Corona“ wenig helfen.
Der BDI zielt darauf ab, in den globalen iGW-Wertschöpfungsnetzen der zentrale Knotenpunkt für zukunftsweisende Innovationen zu sein – von dem die Impulse für die globale Forschung, Entwicklung und Produktion ausgehen und bei dem die weltweiten Wissens- und Produktionsstränge am Ende wieder zusammenlaufen. Mit Blick auf die Resilienz der europäischen Gesundheitsversorgung gehört dazu unter anderem, die Risiken einseitiger Abhängigkeiten von Zulieferern und Märkten neu zu bewerten – vor allem, wenn es um die Versorgung mit kritischen Medizingütern wie Antibiotika oder Impfstoffe, geht.
Deutschland bleibt Gigant
Fest steht: Globalisierung ist kein Selbstzweck. Es kommt auf ihre Leistungsbilanz an – und die ist im Bereich der industriellen Gesundheitswirtschaft gut, auch angesichts des globalen Corona-Stresstests. Deutschland gehört zu den stärksten Produktionsstandorten für Arzneimittel und Medizinprodukte in der Welt. Hierzulande wird hergestellt, was dann rund um den Erdball für die Behandlung von Krebs, rheumatischen Erkrankungen, Schlaganfällen, Diabetes, Grippe und Diphtherie zum Einsatz kommt. Die besondere Stärke in der Arzneimittel-, Medizintechnik- sowie Biotechnikproduktion liegt darin, die Qualität auch bei komplizierten Prozessen zu garantieren. Deshalb belegen Betriebe hierzulande europaweit die Spitzenposition bei der Zahl der produzierten Wirkstoffe für Biopharmazeutika. Das ist auch der Grund dafür, dass Deutschland in der Biotech-Produktion – etwa bei Insulinen, Rheuma- und Krebsmitteln weltweit auf Platz zwei hinter den USA liegt. Bewährtes sollte nicht infrage gestellt werden.
Industriepolitik ohne Abschottung
Kritisch zu beobachten ist vielmehr, ob weitere ordnungspolitische Maßnahmen wie zum Beispiel die 15. Novelle der Außenwirtschaftsverordnung Ergebnis einer sachgerechten Abwägung zwischen nationalen Protektionsinteressen und denen eines attraktiven Innovations- und Investitionsstandortes sind. Wie will man vermeiden, dass durch weitere planwirtschaftliche Eingriffe das so dringend notwendige Risikokapital nicht in die Vereinigten Staaten oder nach Asien umgeleitet wird? Wie will man sicherstellen, dass unsere Talente in Pharmazie, Biotechnologie, aber auch in Elektromobilität oder digitaler Innovation weiterhin hierzulande unternehmerisch erfolgreich sein können? Mehr Abschottung ist die falsche Antwort.
Die maßgebliche ordnungspolitische Frage ist die nach der Standortattraktivität für Investoren — bewertet im globalen Wettbewerb. Das bedeutet Öffnung statt Abschottung. Außerdem bedarf es mutiger Investitionen in die Bildung und ihre Institutionen sowie in neue Technologien wie die Digitalisierung, um weiterhin eine breite Teilhabe der Gesellschaft zu ermöglichen.
Jetzt ist es an der Zeit, entscheidende Weichen zu stellen. Jetzt muss eine moderne Industriepolitik betrieben werden, die Forschung und Produktion der industriellen Gesundheitswirtschaft am Standort Deutschland und in Europa mit verlässlichen internationalen Partnern gezielt fördert.