Prof. Dr. Angelika Niebler, Mitglied des Europäischen Parlaments © Angelika Niebler

Diversifizierung ist auch Aufgabe der Industrie

Angelika Niebler ist seit 1999 Mitglied des Europäischen Parlaments. Neben ihrer Tätigkeit als Co-Vorsitzende der CDU/CSU-Gruppe im Europäischen Parlament ist sie Mitglied des Ausschusses für Industrie, Forschung und Energie (ITRE). Im Interview erläutert sie die Bedeutung eines geeinten Europas, die wichtige Rolle des Europäischen Parlaments und die Herausforderungen, vor welchen sie die deutsche Industrie sieht.

Was motiviert Sie für Ihre Arbeit?

Europa ist für mich schon immer eine Herzensangelegenheit gewesen. Ich bin zutiefst überzeugt, dass wir eine starke Europäische Union brauchen, die global als verlässlicher Partner wahrgenommen wird. Das Europäische Parlament, dem ich seit vielen Jahren als Abgeordnete angehöre, spielt dabei eine zentrale Rolle. Europa ist unsere Gegenwart und unsere Zukunft. Nur wenn wir zusammen handeln, werden wir zukünftige Herausforderungen und Krisen meistern können. Der brutale Krieg Russlands gegen die Ukraine zeigt uns deutlich, wie wichtig der Zusammenhalt in der Europäischen Union ist und wie sehr wir darauf hinwirken müssen, dass wir in Europa mehr Verantwortung für unsere eigene Sicherheit übernehmen. Wir brauchen zudem einen europäischen Energiebinnenmarkt, um die Energieversorgung sicherzustellen und die Energiepreise in den Griff zu bekommen. Auch die Covid-19-Pandemie hat gezeigt, wie wichtig gemeinsames Handeln, z.B. bei der gemeinsamen Beschaffung des Impfstoffs, ist. Der Binnenmarkt und die gemeinsame Währung sind zentral für unseren Industriestandort Deutschland. An diesem gemeinsamen europäischen Haus tagtäglich mitbauen zu können, motiviert mich ungemein, wie mich auch die vielen Debatten und Diskussionen mit Kolleginnen und Kollegen aus den anderen 26 Mitgliedstaaten um die richtigen Lösungen jeden Tag inspirieren und bereichern.

Wie tragen Sie mit Ihrer Tätigkeit zur Stärkung Europas bei?

Das Europaparlament ist die demokratische Herzkammer Europas. Die Europaabgeordneten sind zusammen mit den Mitgliedstaaten Gesetzgeber, entscheiden über den Haushalt und kontrollieren die Kommission. Unzählige Einzelthemen stehen jeden Tag auf unserer Tagesordnung: Von der Abschaffung der Roaminggebühren, den Vorschriften zu mehr Produktsicherheit und besseren Verbraucherschutz über die Harmonisierung von Rechtsvorschriften im Binnenmarkt, Regeln für Fair Play im Internet, den Vorgaben, um bis 2050 in der EU klimaneutral zu werden, oder der Abschluss von Handelsverträgen und die Stärkung unseres Finanzmarktes – das Parlament entscheidet über jeden einzelnen Gesetzgebungsvorschlag. Maßstab für meine politische Arbeit ist stets die soziale Marktwirtschaft. Außerdem ist es mir ein Anliegen, mit meiner Arbeit vor Ort den Bürgerinnen und Bürgern in Bayern Europa näher zu bringen. Vor wenigen Wochen haben wir das 30-jährige Jubiläum des Europäischen Binnenmarktes gefeiert. Berichtet wurde über diesen großartigen Erfolg – den größten Binnenmarkt in der Welt aufgebaut zu haben – wenig.

Was halten Sie für das europapolitische Top-Thema, dem sich die deutsche Industrie in den nächsten sechs Monaten stellen muss?

Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat nochmals deutlich gezeigt, wie sehr wir bei der Energieversorgung, bei Rohstoffen, bei einzelnen (Vor-)Produkten abhängig sind. Diversifikation ist das Gebot der Stunde, das ist nicht nur eine Aufgabe der Politik, sondern gerade auch der Industrie. Ferner ist die deutsche Industrie in Sachen Nachhaltigkeit und Digitalisierung gefordert. Die Herausforderungen für unsere Unternehmen sind gewaltig: hohe Energiepreise, Arbeitskräftemangel, Lieferkettenunterbrechungen. Wir müssen politisch sicherstellen, dass die Betriebe nicht noch mehr an überbordender Regulatorik leiden. Unsere innovativen Unternehmen brauchen Luft zum Atmen, keine immer neuen Verbote. Deshalb fordern wir im Europaparlament seit einiger Zeit ein Belastungsmoratorium. Unsere Industrie muss international wettbewerbsfähig bleiben. Nur so können wir unseren Wohlstand in der EU halten.