Globale Wertschöpfungsketten unter Druck
Moderne Volkswirtschaften sind über Investitionen, Wissensaustausch und Arbeitsteilung eng miteinander verzahnt. Produktionsprozesse erstrecken sich über Landesgrenzen hinweg; häufig sind die Fertigungsschritte auf viele Unternehmen und mehrere Länder verteilt. Durch solche globalen Wertschöpfungsketten können die Stärken der unterschiedlichen Standorte optimal genutzt und Effizienzgewinne realisiert werden. So kann produktiver und oft nachhaltiger gewirtschaftet werden. Ohne eine globalisierte Wertschöpfung wäre unser Wohlstand nicht möglich.
Wohlstand durch internationale Verflechtung
Eine wichtige Vorbedingung für die Globalisierung der Wertschöpfungsketten war die Öffnung vieler Ländergrenzen für Handel und Investitionen, die mit dem Fall des Eisernen Vorhangs an Fahrt aufgenommen hatte. In der Folge hat sich die weltweite Wirtschaftsleistung zwischen 1990 und 2019 knapp vervierfacht (Faktor 3,8), obwohl die Weltbevölkerung mit einem Faktor von 1,5 deutlich langsamer gewachsen ist. Die globalen Handelsströme haben im selben Zeitraum überproportional um den Faktor fünf zugelegt. Noch deutlicher wird das Ausmaß der grenzüberschreitenden wirtschaftlichen Kooperation beim Blick auf die Auslandsinvestitionen: Hier haben die Bestände seit 1990 sogar um den Faktor 14 zugelegt (UNCTAD).
Global agierende Industrieunternehmen beziehen ihre Kooperationspartner aus aller Welt in die Produktion mit ein. Das geschieht über Lieferantennetzwerke, Auslandsniederlassungen vor Ort oder über Joint Ventures. Der strukturelle Wandel in der Weltwirtschaft hat dazu beigetragen, dass im Zuge der Globalisierung Millionen von Menschen in die industrielle Wertschöpfung einbezogen und aus der Armut befreit werden konnten. Der Anteil der in extremer Armut lebenden Menschen hat sich laut Weltbank von 36 Prozent (1990) auf zehn Prozent (2015) verringert.
Auch Deutschland ist ein klarer Globalisierungsgewinner. In kaum einem anderen Land sind die Einkommenszuwächse durch die Globalisierung größer als in Deutschland (Bertelsmann/prognos). Die Gründe dafür sind vielfältig. Der Erfolg der deutschen Industrie beruht auf der Offenheit unserer Volkswirtschaft und der tiefen Integration der deutschen Industrie in internationale Wertschöpfungsketten. So ist Deutschland neben den USA und zunehmend China eines der drei wichtigsten Zentren globaler Wertschöpfungsketten (WTO). Laut WTO werden 43 Prozent der deutschen Netto-Exporte überhaupt erst durch die Einbettung in globale Wertschöpfungsketten ermöglicht.
De-Globalisierungstendenzen seit 2008
Allerdings scheint die Globalisierung der Wertschöpfungsketten an Fahrt zu verlieren. Zwar hat sich der Trend eines wachsenden Welthandels auch im letzten Jahrzehnt im Grundsatz fortgesetzt. Doch wenn man den Welthandel ins Verhältnis zur weltweiten Produktion (Globales BIP) setzt, sieht man deutlich, wie der Welthandel relativ an Bedeutung für die Weltwirtschaft verliert (Weltbank). Das Verhältnis stieg zwischen 1970 und 1990 von 19 Prozent auf 30 Prozent und bis 2008 auf 51 Prozent an. Seitdem ist der Trend leicht fallend, 2018 stand er bei nur noch 46 Prozent. Betrachtet man den gesamten Handel – zieht man also den globalen Austausch von Dienstleistungen hinzu – zeigt sich auf etwas höherem Niveau eine ähnliche Entwicklung. So machte der Handel mit Waren und Dienstleistungen im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) im Jahr 1970 etwa 27 Prozent des BIP aus, stieg bis 1990 auf etwa 39 Prozent, stieg dann bis 2008 weiter auf 61 Prozent und stagniert seitdem (2018 auf 59 Prozent).
Die relative Bedeutung des Handels für die globale Produktion nimmt also, zumindest statistisch betrachtet, ab. Der Trend ist aber keineswegs ein Beleg dafür, dass die globale Produktionsweise sich nicht bewährt hätte oder die Globalisierung zurückgefahren würde. Es gibt eine Reihe von Gründen für die Änderung globaler Wertschöpfungsketten.
Ursache 1: Strukturelle und technologische Trends
Erstens werden für die globale Wirtschaft Güter wichtiger, die weniger physischen Handel erfordern, wie etwa Dienstleistungen. Hier spielen digitale Dienstleistungen eine immer größere Rolle, seien es Software, Daten oder Künstliche Intelligenz. Durch die Digitalisierung ändert sich außerdem auch die industrielle Produktion in einer Weise, die internationalen Warenhandel oft hinfällig macht. Neue Technologien wie 3D-Druck oder selektives Laserschmelzen (SLM) erleichtern die Produktion vor Ort. Während die Digitalisierung seit den 70er Jahren zunächst die globale Koordination von Wertschöpfungsketten förderte, ermöglicht sie heute zunehmend Produktion vor Ort und damit häufig die Verkürzung von Wertschöpfungsketten. Die Globalisierung und die globale Arbeitsteilung schreiten dadurch zwar weiter voran, das Handelsvolumen sinkt allerdings.
Ursache 2: Mehr Wertschöpfung in aufstrebenden Schwellenländern
Ein weiterer Faktor für die abnehmende Bedeutung des globalen Handels ist die zunehmende technologische Autarkie großer Schwellenländer. Insbesondere China wird technologisch unabhängiger und stellt Hightech-Produkte zunehmend selbst her, anstatt sie zu importieren. Zugleich rückt China auch bei technologieintensiveren Wertschöpfungsschritten in zuvor von traditionellen Industrieländern dominierte Bereiche auf. Grundsätzlich ist das eine positive Entwicklung, die den globalen Wohlstand steigert und somit auch Deutschland nützt. Gleichzeitig nimmt mit der industriellen Unabhängigkeit Chinas jedoch auch die Konkurrenz für deutsche Unternehmen auf dem Weltmarkt zu.
Ursache 3: Protektionismus und nationale Unabhängigkeit
Die globale Arbeitsteilung verändert sich nicht nur durch Entwicklungen, die wirtschaftliche Vorteile mit sich bringen. Zunehmend werden auch künstliche Hürden für den Handel errichtet. So wurden von WTO-Mitgliedern zwischen Oktober 2008 und Mai 2020 mindestens 1.728 neue handelsbeschränkende Maßnahmen (etwa Zollerhöhungen oder Importverbote) erlassen (WTO). Prominentes Beispiel für die Hinwendung zu Protektionismus und wirtschaftlichem Nationalismus ist die Außenwirtschaftspolitik der US-Regierung unter Präsident Donald Trump. Allerdings sind Politiker weltweit zunehmend bereit, den durch Handel entstehenden Wohlstand für die Interessen ihrer Staaten zu opfern. Die Corona-Pandemie hat das eindrucksvoll vor Augen geführt. Um die Versorgung mit krisenrelevanten Gütern sicherzustellen, schotteten sich Anfang 2020 viele Staaten gegen das Ausland ab, etwa durch Investitions- und Exportverbote im Bereich der Gesundheitswirtschaft. Durch Handelsbeschränkungen können Politiker zwar punktuell Arbeitsplatzabbau hinauszögern oder die Versorgung mit bestimmten Gütern sicherstellen. Doch in der Summe führt eine solche Politik zum Verlust von Innovationskraft, Wohlstand und letztlich auch zur höheren Krisenanfälligkeit von Volkswirtschaften. Gerade die Corona-Pandemie hat gezeigt, dass die Versorgung mit krisenrelevanten Gütern nur durch die internationale Arbeitsteilung und die Nutzung internationaler Zulieferer möglich ist.
Ursache 4: Resilienz der Unternehmen
Unabhängig von politischen Maßnahmen zur Sicherstellung nationaler Versorgungssicherheit haben Unternehmen ein betriebswirtschaftliches Interesse an einem gewissen Maß an Sicherheit ihrer Lieferketten. Bei vielen global aufgestellten Unternehmen hat die weltweite Corona-Pandemie zu Veränderungen geführt. In vielen Branchen hat sich gezeigt, dass global weitverzweigte Zulieferketten im Krisenfall schnell zu Produktionsausfällen, Umsatzeinbruch und Existenzbedrohung führen können. Doch nur in wenigen Fällen wird eine Renationalisierung der Produktion die betriebswirtschaftlich sinnvollste Lösung sein. Weitere Möglichkeiten sind die Diversifizierung der Lieferantennetzwerke, vertragliche Absicherungen oder eine Ausweitung der Lagerhaltung.
Globale Wertschöpfungsketten fordern die Politik heraus
Veränderungen der grenzüberschreitenden Produktionsnetzwerke und Lieferketten sind nicht zwangsläufig gefährlich für den globalen Erfolg der deutschen Wirtschaft. Unsere Unternehmen haben schon oft unter Beweis gestellt, dass sie bei Veränderungen der globalen Rahmenbedingungen als Gewinner hervorgehen können. Auch die technologischen und strukturellen Änderungen im globalen Umfeld können als Chance begriffen werden. Eine ernste Gefahr ist allerdings der weltweite Trend zum Protektionismus. Denn obwohl die deutsche Industrie innovativ und global wettbewerbsfähig ist, braucht sie den offenen Zugang zu Auslandsmärkten, um ihre Leistungsfähigkeit unter Beweis stellen zu können. Gleichzeitig ist sie auf Zulieferungen und Kapital aus dem Ausland ebenso angewiesen wie auf ihre Zugänge zu Absatzmärkten im Ausland.
Die Bundesregierung und die Europäische Kommission müssen in den nächsten Monaten alles daransetzen, gegen Protektionismus vorzugehen. Dazu gehört auch, mit gutem Beispiel voranzugehen und die eigene Offenheit für Handel und Investitionen zu bewahren. Dringend notwendig ist außerdem die Reform der WTO sowie der Abschluss neuer Freihandels- und Investitionsabkommen. Zudem braucht es unbürokratische Rahmenbedingungen, damit die deutsche Industrie bei der Implementierung von Zukunftstechnologien, wie etwa dem 3D-Druck, rasch voranschreiten kann. Hierzu zählen insbesondere praxistaugliche rechtliche Rahmenbedingungen für internationalen Datentransfer und massive Investitionen in den Ausbau der digitalen Infrastruktur.