Halbzeit für die EU-Kommission
Im Herbst schlägt im Brüsseler Politikbetrieb die Stunde der strategischen Zukunftsplanung. Auch dieses Jahr machte die EU-Kommission mit ihrem Bericht zur strategischen Vorausschau den Anfang. Dieser definiert Handlungsfelder, die für die Stärkung der offenen strategischen Autonomie Europas künftig entscheidend sind – darunter die Sicherstellung einer kohlenstoffarmen und erschwinglichen Energieversorgung, die Förderung digitaler Technologien, stabile Gesundheitssysteme, eine sichere Rohstoffversorgung und der Zugang zum Weltraum.
Im September hielt die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ihre jährliche Rede zur Lage der Union. Spürbar stolz blickte die Präsidentin auf Fortschritte bei Impfungen gegen das Corona-Virus, beim wirtschaftlichen Wiederaufbau und Klimaschutz zurück. Darüber hinaus stimmte sie die Parlamentarier auf die Herausforderungen des nächsten Jahres ein: Europa soll klimaneutral, digitaler und widerstandsfähiger werden.
Arbeitsprogramm 2022 der EU-Kommission
Den Abschluss bildete das Arbeitsprogramm der EU-Kommission für das Jahr 2022, das Vizepräsident Maroš Šefčovič - nach intensiver Abstimmung mit Parlament und Rat - Mitte Oktober im Europaparlament in Straßburg vorstellte. Es enthält alle wichtigen Initiativen, die die EU-Kommission im Jahr 2022 lancieren will. Zudem listet die Kommission darin auf, welche offenen Gesetzgebungsverfahren vorrangig abgeschlossen, welche Gesetzesvorschläge zurückgezogen und welche bestehenden Rechtsakte überarbeitet werden sollen.
Zwei Jahre nach Amtsantritt von Ursula von der Leyen läutet das Arbeitsprogramm die zweite Halbzeit ihrer Amtszeit ein, die noch bis zur Europawahl 2024 geht. Kommissionsvorschläge, die nicht frühzeitig im kommenden Jahr gestartet werden, haben nur noch geringe Chancen, in dieser Legislaturperiode vom europäischen Gesetzgeber verabschiedet zu werden. Denn die durchschnittliche Dauer eines ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens in Brüssel beträgt rund eineinhalb Jahre.
42 neue EU-Gesetzesinitiativen angekündigt
Für 2022 plant die EU-Kommission deutlich weniger neue Vorschläge als 2021. Während die Kommission für das laufende Jahr über 80 neue Initiativen im Programm hatte, will sie im nächsten Jahr noch 42 neue politische und legislative Texte vorlegen. Ausnahmen bestätigen die Regel: In einigen besonders industrierelevanten regulatorischen Bereichen wie der EU-Umweltpolitik stehen wichtige Kommissionsvorschläge – u. a für eine nachhaltige Produktpolitik – an. Insgesamt liegt der Fokus jedoch auf den 76 bereits eingereichten Gesetzesinitiativen, die Kommission, Rat und Parlament in den kommenden zwölf Monaten vorrangig voranbringen wollen – allen voran die diversen klimapolitischen Maßnahmen zur Umsetzung des Europäischen Green Deal.
Der BDI erwartet für das nächste Jahr erneut wichtige Kommissionsinitiativen mit Industriebezug. Die Umwelt will die Brüsseler Behörde gleich durch mehrere Gesetzpakete besser schützen. Unter anderem soll ein Legislativvorschlag zu Kunststoffen die Verwendung von Mikroplastik in Produkten und dessen Freisetzung in die Umwelt verringern. Im Bereich Digitalisierung plant die Kommission mit einem europäischen Computerchip-Gesetz, um auf die aktuellen Lieferengpässe bei Halbleitern zu reagieren. Zahlreiche Industriesektoren – allen voran die Automobilindustrie – sind davon momentan erheblich betroffen. In Zukunft soll Europa bei Halbleitern unabhängiger und innovativer werden. Ferner sollen gemeinsame Normen für die Cybersicherheit von Produkte in einem Gesetz zur Cyberabwehrfähigkeit festgelegt werden.
Zudem will die EU-Kommission die Steuergerechtigkeit fördern, indem sie Vorschläge zur Umsetzung der globalen OECD-Vereinbarungen zur Neuverteilung von Besteuerungsrechten und einer weltweiten Mindestbesteuerung vorlegt. Schließlich soll Europas Rolle in der Welt u. a. durch eine Änderung der sogenannten Blocking-Verordnung gestärkt werden. Ziel ist es, Drittstaaten effektiver von extraterritorialen Sanktionierungen abzuhalten. In der Vergangenheit fehlten Europa überzeugende Instrumente, um zu verhindern, dass beispielsweise die Vereinigten Staaten europäische Unternehmen sanktionieren, die Geschäftsbeziehungen zu Personen oder Ländern unterhielten, die die USA mit Sanktionen belegt hatten.
„One-in-one-out“-Grundsatz anwenden
Nun sind die Dienststellen der EU-Kommission gefragt, die Ankündigungen der Kommissionsspitze in politische Papiere und Gesetzesvorschläge zu überführen. Auf die Interessenvertreter der deutschen Industrie in Brüssel kommen weitere spannende Monate zu. Die Industrie wird bei allen Vorschlägen darauf drängen, dass die EU-Kommission ihre Versprechen einhält, neue Belastungen durch den Abbau bestehender zu kompensieren (sogenannter „One-in-one-out“-Grundsatz).