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Neue Unsicherheiten in der Fusionskontrolle

Die Europäische Kommission prüft über Verweisungen nach Artikel 22 Fusionskontrollverordnung (FKVO) bestimmte Zusammenschlussvorhaben, obwohl weder die nationalen noch die europäischen Prüfschwellenwerte überschritten wurden. Dies führt sowohl bei europäischen wie auch bei internationalen Unternehmen zu großer Rechtsunsicherheit.

Das europäische Wettbewerbsrecht und die entsprechenden Gesetze der Mitgliedstaaten geben klare Kriterien vor, wann ein geplanter Unternehmenszusammenschluss zur Prüfung und fusionskontrollrechtlichen Genehmigung bei der Europäischen Kommission oder bei einer nationalen Wettbewerbsbehörde angemeldet werden muss und wann dies nicht der Fall ist. Diese Kriterien basieren in erster Linie auf den Umsatzwerten der beteiligten Unternehmen. Wenn die europäischen Aufgreifschwellenwerte nicht überschritten und die Europäische Kommission daher nicht für die Prüfung eines Zusammenschlusses zuständig ist, können die Mitgliedstaaten nach Artikel 22 FKVO einen Fall dennoch an die Kommission verweisen, wenn der Zusammenschluss den Handel zwischen den Mitgliedstaaten und den Wettbewerb im Hoheitsgebiet des jeweiligen Mitgliedstaates erheblich beeinträchtigen könnte. Von dieser Möglichkeit wurde in der Vergangenheit so gut wie nie Gebrauch gemacht – die Kommission soll Mitgliedstaaten sogar davon abgeraten haben, Fälle nach Art. 22 FKVO an sie zu verweisen.

In den letzten Jahren hat jedoch die Diskussion um eine bessere Überprüfung sogenannter „Killer Acquisitions“ an Fahrt aufgenommen. So können Fälle, an denen Unternehmen mit geringem Umsatz, aber hohem Wettbewerbspotenzial beteiligt sind, bislang weder von der Kommission noch von den meisten Mitgliedstaaten aufgegriffen werden, wenn die Umsatzschwellenwerte nicht überschritten sind. Aus diesem Grund hat die Kommission Artikel 22 FKVO wieder hervorgeholt und angekündigt, künftig in Bezug auf bestimmte Zusammenschlussvorhaben die Verweisung des Falles durch die Mitgliedstaaten aktiv zu fördern, selbst dann, wenn der Fall nicht einmal nach den nationalen Fusionskontrollvorschriften des verweisenden Mitgliedstaates anmeldepflichtig wäre. Sie hat daher im März 2021 einen Leitfaden zu Artikel 22 FKVO veröffentlicht, der im Dezember 2022 um ein begleitendes Q&A-Dokument ergänzt wurde. Inzwischen wurden bereits mehrere Zuammenschlussvorhaben nach der neuen Praxis an die Europäische Kommission verwiesen. Der erste Fall Illumina/Grail, der im Anschluss durch die Europäische Kommission untersagt wurde, wird aktuell durch den EuGH überprüft. Im August 2023 akzeptierte die Europäische Kommission die Verweisungen der Übernahme von Autotalks durch Qualcomm und der Übernahme von Nasdaq Power durch die European Energy Exchange ("EEX").  Beide Transaktionen erfüllten nicht die in der EU-Fusionskontrollverordnung festgelegten Umsatzschwellen und waren in keinem Mitgliedstaat meldepflichtig.

Warum ist das Vorgehen kritisch zu sehen?

Das neu entstandene Interesse der Kommission an Artikel 22 FKVO-Verweisungen steigert die Rechtsunsicherheit bei geplanten Zusammenschlüssen insbesondere in innovativen Geschäftsfeldern deutlich. Während die bestehenden Umsatzschwellen eine klare Einordnung ermöglichen, wann ein Vorhaben durch die Europäische Kommission aufgegriffen wird, ist nun nicht mehr sicher, ob ein grundsätzlich nicht anmeldepflichtiger Fall doch noch zur Prüfung in Brüssel landen wird – mit dem damit verbundenen Zeit- und Kostenaufwand und unsicherem Ausgang. Erschwerend kommt hinzu, dass die Kommission ankündigt, gegebenenfalls auch Verweisungen zu bereits vollzogenen Zusammenschlüssen anzunehmen und diese nachträglich zu untersagen.

Die Unsicherheit, ob ein Zusammenschlussvorhaben nach einer Artikel 22 FKVO – Verweisung von der Kommission aufgegriffen wird oder nicht, könnte dazu führen, dass Unternehmen sich gezwungen sehen, ein Projekt, trotz fehlender Anmeldepflicht, vorsorglich allen 27 mitgliedstaatlichen Wettbewerbsbehörden zu melden und anschließend die 15-Tagesfrist abzuwarten, innerhalb derer eine Verweisung erfolgen kann. Alternativ müssten sie um einen informellen Vorabkontakt mit der Europäischen Kommission ersuchen, um auszuschließen, dass diese ein Interesse an der Prüfung des Vorhabens haben könnte. In beiden Fällen steigt der Zeit- und Bürokratieaufwand der Unternehmen deutlich.

Kommt die Kritik nur von europäischen Unternehmen?

Die entstehende Rechtsunsicherheit betrifft nicht nur europäische Unternehmen. Die Europäische Kommission überprüft auch internationale Zusammenschlüsse, sofern diese Auswirkungen auf den Wettbewerb im Europäischen Binnenmarkt haben können. Auch für diese Fälle ist nicht vorhersehbar, wann Zusammenschlussvorhaben unterhalb der Anmeldeschwellen durch die Kommission aufgegriffen werden. Da es nach der neuen Praxis nicht zwingend auf (europäische) Umsatzzahlen ankommt, können theoretisch auch Fälle betroffen sein, in denen überhaupt kein „Local Nexus“ zum europäischen Binnenmarkt besteht. Zusammen mit der US Chamber of Commerce sowie verschiedenen europäischen Wirtschaftsverbänden und -kammern hat der BDI daher die wesentlichen Kritikpunkte an der neuen Kommissionspraxis zu Artikel 22 FKVO in einem gemeinsamen Positionspapier adressiert.