Globale Handlungsfähigkeit der EU stärken
Der politische Handlungsdruck zur Gestaltung der Globalisierung ist so groß wie nie. Globale Wertschöpfungsketten sind unverzichtbar für den weltweiten Wohlstand. Gleichzeitig legen die Akteure im globalen Systemwettbewerb immer härtere Bandagen an, wenn es um den Zugang zu Märkten und um geoökonomischen Einfluss geht. Die Handelskonflikte zwischen EU und den USA haben manche wachgerüttelt und mit dem Ende der Ära Trump sind sie längst nicht beigelegt. Die USA bemühen sich weiterhin intensiv um den Ausbau ihrer weltweiten Handelsbeziehungen. Ebenso das Vereinigte Königreich, das seit dem Brexit als eigenständiger Akteur auf der Bühne des Welthandels auftritt. Als stärkste nicht-westliche Handelsmacht baut China seinen Einfluss aus. Mit der „Regionale Comprehensive Economic Partnership“ – kurz RCEP – haben sich Anfang Januar 2022 die asiatischen Wirtschaftsmächte zur größten Freihandelszone der Welt zusammengeschlossen. Damit ist der Westen mit einem mächtigen Gegenspieler konfrontiert. Dass China seine ökonomische Stärke zunehmend in politischen Einfluss bis nach Europa übersetzt, beweist die Supermacht durch ihr länderübergreifendes Seidenstraßen-Projekt.
Zukunft Europas entscheidet sich an seiner Geschlossenheit
Wenn Europa seine eigenen Interessen im globalen Systemwettbewerb erfolgreich in multilateralen Foren und Freihandelsabkommen zur Geltung bringen will, dann wird das – wenn überhaupt – nur durch ein geschlossenes Auftreten möglich sein. Durch den Vertrag von Lissabon ist die EU schon seit über einem Jahrzehnt mit zentralen Kompetenzen ausgestattet, etwa in der Handels- und Investitionspolitik. Mit der europäischen Bündelung der Verhandlungsmacht ist Europa überhaupt imstande, ein Gewicht in internationale Verhandlungen einzubringen. Ohne mit einer kräftigen Stimme zu sprechen, wird sich Europa gegenüber globalen Verhandlungspartnern wie den USA oder China nur schwer positionieren können. Und tatsächlich ist der EU seit 2009 der Abschluss mancher Handelsabkommen gelungen, etwa mit Korea, Vietnam oder Japan.
Doch zehn Jahre nach Lissabon steckt die europäische Handelspolitik in einer Krise. Spätestens seit dem Scheitern des Abkommens mit den USA (TTIP) kommt die Öffnung von Auslandsmärkten nur noch langsam voran. Das Handelsabkommen mit Kanada (CETA) wurde zwar 2016 unterzeichnet, wird bislang aber nur vorläufig angewendet. Auch, weil Deutschland das Abkommen immer noch nicht ratifiziert hat. Das Abkommen mit den lateinamerikanischen Staaten (Mercosur) wartet nach zwei Jahrzehnten Verhandlung noch immer auf seine Unterzeichnung. Die im Jahr 2013 begonnenen Verhandlungen für ein Investitionsabkommen mit China (CAI) wurden zwar beendet, aus politischen Gründen wurde das Abkommen aber nicht unterzeichnet.
Die Gründe für die Atempause in der europäischen Handelspolitik sind ebenso komplex und vielfältig wie die globalisierte Wirtschaft. Anzuführen ist die wichtige Abwägung zwischen klima-, sozial- und handelspolitischen Prioritäten. Aber auch die abnehmende relative Verhandlungsmacht Europas und widerstrebende Interessen verschiedener Branchen sowie Differenzen zwischen Mitgliedsstaaten erschweren das Voranschreiten in handelspolitischen Fragen. Und das in einer Zeit, in der entschlossenes und zügiges Handeln notwendiger denn je wäre.
Europa – weiterhin Gestaltungsmacht für die Globalisierung?
Eine Lähmung der außenwirtschaftspolitischen Gestaltungsmacht würde die Fähigkeit Europas gefährden, an der Gestaltung der Globalisierung künftig mitzuwirken. Die neue Bundesregierung sollte innerhalb der laufenden Legislaturperiode die EU als globale Gestaltungmacht deutlich stärken. Noch im Verlauf der 2020er-Jahre muss sich die EU als werteorientierte Führungsmacht im globalen Systemwettbewerb positionieren. Vor Ablauf der Dekade wird sich entscheiden, ob die Staatengemeinschaft überhaupt eine eigenständige Rolle in der Globalisierung einnehmen kann. Gelingt dies nicht, wird Europa mit seinen Werten im Wettlauf um wirtschaftspolitische Allianzen ins Hintertreffen geraten, als Verhandlungspartner auf internationaler Ebene an Bedeutung verlieren und im schlechtesten Fall zwischen den großen Playern USA und China aufgerieben.
Die Politik der neuen Bundesregierung muss deshalb darauf ausgerichtet sein, die handelspolitische Schlagkraft der Europäischen Union zu stärken:
- Die europäische Handelspolitik muss ausschließliche Angelegenheit der EU sein. Die Ratifizierung von Handels- und Investitionsabkommen sollte allein durch die europäischen Gesetzgeber erfolgen. Die Zuständigkeit der EU ist in den Europäischen Verträgen begründet, durch Urteile des Europäischen Gerichtshofes bekräftigt und sie wird der Europäischen Kommission für jedes einzelne Abkommen mit den Verhandlungsmandaten der Mitgliedsstaaten erteilt. Einzelne Mitgliedstaaten oder einzelne Regionen dürfen in Zukunft Abkommen weder nachträglich verzögern noch blockieren.
- Zur Überwindung einzelstaatlicher Interessen kommt es außerdem auf die Bereitschaft der nationalen Regierungen an, regionale oder nationale Interessen in entscheidenden Fragen von gesamteuropäischer Bedeutung hinten anstellen zu können. Eine offen geführte Diskussion um das rauer werdende globale Umfeld – Aufstieg Chinas, der Konflikt der Großmächte USA und China, Tendenzen eines Decoupling der Weltwirtschaft, sinkender internationaler Einfluss Europas – könnten dazu beitragen, diese Bereitschaft zu erhöhen.
- Offene Märkte sind die Grundlage für Wirtschaftsleistung in Deutschland. Ohne den Austausch von Gütern und Kapital ist keine Produktion möglich, sind weder gesellschaftspolitische noch ökologische Ziele erreichbar. Zunehmend scheitern handelspolitische Fortschritte jedoch an zu vielen Regelungsbereichen. Die Öffnung von Auslandsmärkten muss daher zentrales Ziel der Außenwirtschaftspolitik bleiben. Das bedeutet nicht die bedingungslose Unterordnung anderer Politikziele unter ökonomischen Interessen. Transparenz, Beteiligungsmöglichkeiten der Zivilgesellschaft und klare Sanktionsmechanismen sind aus einer modernen Handelspolitik nicht wegzudenken. Die Handelspolitik der EU kann aber nur erfolgreich sein, wenn ihr oberstes Ziel die rasche und umfangreiche Öffnung von Auslandsmärkten bleibt. Sie muss es noch besser schaffen, soziale, ökologische und wirtschaftliche Anforderungen in Einklang zu bringen.
- Deutschland als größter EU-Mitgliedstaat hat maßgeblichen Einfluss auf die Handelspolitik der EU. Um diesen Einfluss voll zur Geltung zu bringen, muss die europapolitische Koordinierung innerhalb der Bundesregierung so effektiv wie möglich organisiert werden. Bei Themen von außenwirtschaftlicher Bedeutung sind frühzeitig die betroffenen Staatssekretäre und Minister einzubinden, damit bei wichtigen Themen schon zu Beginn von Verhandlungen im Rat eine gemeinsame Linie der Bundesregierung gefunden werden kann.
International agierende Unternehmen aus Deutschland bleiben weiterhin auf freien Marktzugang und Offenheit für Investitionen angewiesen. Auch, wenn der globale Systemwettbewerb die Öffnung von Auslandsmärkten politisch immer schwieriger macht: Das Ziel der deutschen Industrie ist und bleibt die Öffnung von Auslandsmärkten für Handel und Investitionen. Erreichbar ist dieses Ziel nur dann, wenn sich die EU als Gestaltungsmacht in der Globalisierung behaupten kann – und zwar vor Ablauf der angebrochenen Dekade. Die neue Bundesregierung muss hierfür alle Hebel in Bewegung setzen.