Mit Wasserstoff in ein neues Energiezeitalter
Vor über 150 Jahren wurde erstmals Erdöl gefördert und ein weltweiter Öl-Boom ausgelöst. Was heute als Verursacher für den Klimawandel verdammt wird, hat erst die Industrialisierung ermöglicht und der Elektrizität zum Durchbruch verholfen. Das war die Voraussetzung für Wohlstand der breiten Bevölkerung. Heute kennen wir die negativen Nebenwirkungen fossiler Brennstoffe. Alternativen sind daher gefragt. Die verstärkte Erforschung, Förderung und Nutzung von erneuerbaren Energien zu Beginn des 21. Jahrhunderts hat mittlerweile eine globale Energiewende eingeleitet. Regenerativer Strom aus Wind, Wasserkraft, Biomasse und Sonne erobern den Energiesektor. Doch der Siegeszug der Erneuerbaren ist nicht ansatzweise mit der Entdeckung des Erdöls vergleichbar, weil es zunächst „nur“ eine zusätzliche Quelle für elektrischen Strom ist. Dieser macht in Deutschland nur rund 20 Prozent des gesamten Endenergieverbrauchs aus. 80 Prozent unseres Endenergieverbrauchs, den wir für Mobilität, Industrieproduktion und Wärme verbrauchen, wird heute fast ausschließlich von Öl und Gas gedeckt.
Ohne Wasserstoff keine echte Energiewende
Dass sich dieses Verhältnis langfristig komplett ins Gegenteil verkehrt, ist nicht absehbar. Wir werden nicht alle Bereiche einer Volkswirtschaft mit erneuerbarem Strom zu 100 Prozent direkt elektrifizieren können. Dafür reichen einfach nicht die hiesigen und europäischen Erzeugungskapazitäten. Die nächste Stufe der notwendigen Energierevolution wäre also, den riesigen Anteil von Gasen und Brennstoffen am Energiemix CO2-neutral zu gestalten. Hierfür kommt derzeit nur Wasserstoff mit seinen vielen Derivaten infrage. Dabei ist Wasserstoff der perfekte Partner für den erneuerbar produzierten Strom, der ihn speicherbar, transportierbar sowie in allen Sektoren einsetzbar macht. Mit diesem Tandem kann der Menschheit die zweite Energierevolution gelingen.
„Grünes Licht“ für Wasserstoff
Schon Jules Verne sagte: „Wasser ist die Kohle der Zukunft.“ Heute sind wir sogar in der Lage zu formulieren, dass Wasserstoff das Öl und Gas der Zukunft sein wird. Doch wird es wieder nur ein Hype um Wasserstoff bleiben? Ab den 1970er-Jahren trieb die Angst vor der nächsten Ölkrise, vor dem „peak oil“, die Debatte um Wasserstoff. Doch der globale Höhepunkt der Ölförderung ist weiter nicht in Sicht. Die Ausgangslage für eine erfolgreiche neue Energierevolution hat sich allerdings dramatisch verbessert. Drei Dinge sind heute grundlegend anders: das gesellschaftliche Bewusstsein für den Klimawandel, das politische Ziel der Klimaneutralität und die Perspektive auf global verfügbare erneuerbare Energien zu attraktiven Kosten.
Die europäische Gesellschaft ist im Jahr 2020 nicht durch die Angst um das Öl, sondern von der Sorge um das Klima geprägt. Die Risiken des Klimawandels sind auch in der Industrie spürbar. Und trotz mancher Rückschläge in der internationalen Klimadiplomatie genießt das Thema hohe politische Priorität. Europa will bis zum Jahr 2050 klimaneutral werden. Die in vielen Regionen der Welt dramatisch gesunkenen und weiter sinkenden Gestehungskosten für erneuerbaren Strom eröffnen erstmals eine greifbare Perspektive auf eine wirtschaftlich tragfähige globale Wasserstoffwirtschaft.
Heimische Industrie vor großen Herausforderungen
Die Unternehmen der Industrie und die Wissenschaft haben diese Herausforderung angenommen. Wege zeichnen sich ab, doch diese werden nicht einfach, und die Prognosen für den Umbau notwendigen Wasserstoff sprengen jeden national oder europäisch vorstellbaren Rahmen. Daher muss Deutschland mit Europa bei der Entwicklung einer globalen Wasserstoffwirtschaft eine treibende Kraft einnehmen. Wenn Deutschland Forschung, Entwicklung und Demonstrationsprojekte im Industrieformat gut koordiniert, gibt es hervorragende Chancen, Technologieführer auf dem globalen Wasserstoffmarkt zu werden.
Auch wenn Wasserstoff kein Unbekannter für die deutsche Industrie ist, erfordert der Umstieg auf eine umfassende Wasserstoffwirtschaft eine erhebliche Lernkurve. Der Betrieb von dezentralen erneuerbaren Erzeugungsanlagen, Elektrolyse- sowie Synthese-Anlagen im großen Stil muss aufeinander abgestimmt werden. Deutschland mit seiner einzigartigen Kompetenz in der Entwicklung von systemischen Konzepten kann hier Maßstäbe setzen. Deshalb ist der zügige Aufbau eines Heimatmarkts für grünen Wasserstoff dringend erforderlich. Denn dieser technologische Vorsprung wird nicht einfach nachzuahmen sein. Doch die Konkurrenz schläft nicht: Insbesondere Japan und Südkorea haben die Vorteile von Wasserstoff bereits sehr früh erkannt und treiben ihre Technologieentwicklung massiv voran.
Infrastruktur und Marktimpulse schaffen
Für den Aufbau einer globalen Wasserstoffwirtschaft bedarf es schon kurzfristig erster internationaler Demonstrationsprojekte mit deutscher Beteiligung. Die Erfolgsformel ist die Kombination aus günstigem Strom aus erneuerbaren Quellen, technologischem Know-how und international vergleichbaren Zertifizierungsstandards. Ein rascher Markthochlauf von Wasserstoff in allen Sektoren hin zu Anwendungen im Industriemaßstab ist dafür Voraussetzung. Wenn wir schnellere Wege in eine nachhaltige Zukunft beschreiten wollen, werden wir zunächst auch alternative Erzeugungsformen wie Wasserstoff aus Erdgas für unsere Versorgung akzeptieren müssen, ohne die Perspektive von ausschließlich „grünem“ Wasserstoff aufzugeben. Gerade in Zeiten der Corona-Pandemie würden damit wichtige Marktimpulse für unsere angeschlagene Volkswirtschaft gesendet werden.
Globaler Ansatz statt nationale Alleingänge
In bestimmten Regionen, z.B. in Australien und Chile, ist die Produktion von erneuerbarem Strom an bestimmten Standorten bereits für zwei US-Cent pro kWh möglich. Dies können sich Deutschland und Europa zum Vorteil machen und mit neuen Partnerschaften einen wichtigen Grundstein für den Aufbau eines „grünen“ Wasserstoffmarkts legen.
Der Aufbau solcher internationalen Wasserstofflieferketten hat auch eine außen- und geopolitische Bedeutung. So beobachten die klassischen Energieexporteure weltweit die klimapolitische Entwicklung mit Interesse bis Sorge und befassen sich zunehmend intensiver mit langfristigen Alternativen zur Wertschöpfung aus fossilen Ressourcen. Diese Länder brauchen auch in einer klimaneutralen Welt eine Perspektive. Verlierer der globalen „Energiewende“ zu schaffen wäre mit großen außenpolitischen Risiken behaftet. Die Verfügbarkeit von Wasserstoff zu wettbewerbsfähigen Preisen, sei es aus heimischer Quelle oder als Import, wird über die Zukunftsfähigkeit unseres Industriestandorts und den Erhalt des heutigen Wohlstands in Deutschland und Europa entscheiden.