Ballast abwerfen: EU-Binnenmarkt stärken. Bürokratie konsequent abbauen
Empfehlungen für die europäische Legislaturperiode 2024-2029
Der größte Trumpf Europas in der Welt? Seine wirtschaftliche Stärke mit seinem europäischen Binnenmarkt. Drei Jahrzehnte nach Beginn gleicht dieser allerdings einem zerfaserten Flickenteppich aus unterschiedlichen nationalen Regeln und Gesetzen für Waren und Dienstleistungen. Die Folgen sind drastisch: Synergien werden nicht bestmöglich genutzt, Unternehmen investieren sicherheitshalber anderswo mit besseren Bedingungen, Europa fällt im internationalen Standortwettbewerb zurück. Der EU-Binnenmarkt muss wieder zur Top-Priorität der EU werden, er muss einfacher, schneller und einheitlicher werden – vom Bürokratieabbau über eine vollständige Banken- und Kapitalmarktunion bis zu einem Wettbewerbsfähigkeits-Check von Gesetzen. Das schafft Wettbewerbsvorteile und macht die europäische Wirtschaft widerstandsfähig gegenüber äußeren Schocks.
Auf was es jetzt ankommt
Vertiefung des Binnenmarktes zur politischen Top-Priorität der EU machen
Die Vollendung des EU-Binnenmarktes in allen Bereichen muss wieder zu einem zentralen Zukunftsprojekt der EU werden. Dazu gehören auch Anpassungen in der Struktur und Arbeitsweise der Europäischen Kommission, insbesondere eine bessere Koordinierung.
EU-Gesetzgebung binnenmarktfreundlich ausrichten
In der EU-Gesetzgebung sollte als goldene Regel gelten, dass jede neue Regulierung grenzüberschreitende unternehmerische Tätigkeit befördern muss.
Nationale Märkte europäisieren
Die EU-Mitgliedstaaten müssen ihre nationalen Märkte rasch entlang der länderspezifischen Empfehlungen der Europäischen Kommission öffnen. Nationale Befindlichkeiten dürfen nicht länger als Vorwand dienen, um die Vertiefung des Binnenmarkts zu blockieren. Die EU-Mitgliedstaaten sollten EU-Recht immer 1:1 umsetzen.
Mangelhafte Umsetzung von EU-Recht stärker ahnden
Die Europäische Kommission muss stärker gegen mangelhafte Umsetzung von EU-Recht in den EU-Mitgliedstaaten vorgehen. Politische Erwägungen sollten dabei keine Rolle spielen. Zur Bekämpfung von EU-Rechtsverstößen sollte die Europäische Kommission Vertragsverletzungsverfahren konsequenter nutzen.
Verbindungen der Industrie zur Dienstleistungswirtschaft Rechnung tragen
Die EU-Mitgliedstaaten sind aufgefordert, die EU-Dienstleistungsrichtlinie endlich vollständig umzusetzen. Ferner sollte die EU das Notifizierungsverfahren für dienstleistungsbezogene Maßnahmen reformieren und die Anwendung des Proportionalitätstests stärken. Die EU muss die grenzüberschreitende Entsendung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern erleichtern.
Geltungsbereich von Binnenmarktregelungen nicht reduzieren
Teils geäußerte Forderungen nach Erhöhung der Schwellenwerte der EU-Richtlinien für öffentliche Aufträge sind abzulehnen, da sie zum Rückbau von Marktöffnung, Transparenz, und nötigem effektiven Vergaberechtsschutz führen würden. Gleiches gilt auch für Forderungen nach erweiterten Ausnahmen und Reduzierung des Vergaberechtsschutzes.
New Legislative Framework (NLF) konsistent anwenden
Dank des NLF können Produkte in ganz Europa frei vermarktet werden. Allerdings führt die mangelnde und inkonsistente Anwendung des NLF oft zu einer fehlenden Kohärenz zusammenhängender Rechtsvorschriften. Daraus ergeben sich negative Auswirkungen auf die Chancen der Industrie, Produkte auf dem Europäischen Binnenmarkt in Verkehr zu bringen und zu vermarkten. Nur eine Implementierung und konsistente Anwendung garantieren einen funktionsfähigen, modernen und wettbewerbsfähigen Binnenmarkt.
Evidenz-basierte Rechtsetzung sicherstellen
Die EU ist auf eine bessere Rechtsetzung angewiesen. Das kann gelingen, indem jede Gesetzesinitiative von einer umfassenden Folgenabschätzung begleitet wird. Das trägt dazu bei, potenzielle wirtschaftliche, ökologische und soziale Auswirkungen gleichberechtigt zu untersuchen und Handlungsoptionen neutral und faktenbasiert zu prüfen.
Stakeholder-Positionen besser beachten
Relevante und repräsentative Interessengruppen müssen ausreichend Gelegenheit erhalten, sich sowohl bei der Ausarbeitung als auch bei der nachträglichen Überprüfung von Rechtsetzungsinitiativen sinnvoll einzubringen.
Wettbewerbsfähigkeits-Check einführen
Die von der Europäischen Kommission angekündigte Prüfung der Wettbewerbsfähigkeit in der EU-Gesetzgebung muss integraler Bestandteil jeder Folgenabschätzung werden. Sie muss über einzelne Legislativvorschläge hinaus auf allen Ebenen der EU-Politikgestaltung angewandt werden und die kumulativen Auswirkungen verschiedener Politiken und Regulierungsmaßnahmen auf die Wettbewerbsfähigkeit der EU erfassen.
Bessere Rechtsetzung im gesamten Politikzyklus sicherstellen
Das Europäische Parlament und der Rat sollten ergänzende Folgenabschätzungen zu ihren inhaltlichen Änderungen an Kommissionsvorschlägen durchführen. Außerdem müssen die EU-Institutionen die Transparenz bei den so genannten Trilog-Verhandlungen dringend verbessern.
Delegierte Rechtsakte stärker kontrollieren
Bei der Ausarbeitung delegierter Rechtsakte sollten die Gesetzgeber den Umfang und die Bedingungen der an die Europäische Kommission übertragenen Befugnisse im Basisrechtsakt besser definieren.
One-in-one-out-Regel effektiv umsetzen
Die One-in-one-out-Regel (OIOO) ist ein positiver Schritt, reicht aber nicht aus, um die ständig wachsenden Kosten und Belastungen für die Unternehmen zu bewältigen. OIOO sollte nicht nur die Verwaltungskosten, sondern auch den Erfüllungsaufwand ausgleichen.
Vorfahrt für den Mittelstand
Mittelstand und Familienunternehmen gilt es, operativ – hinsichtlich bürokratischer Entlastung und gezielter Förderung – wieder fest auf der EU-Agenda zu verankern. Dazu gehören weniger Bürokratie sowie eine bessere Abstimmung zumindest der EU-Strategien für Industrie, Außenhandel, KMU und Green Deal in der Umsetzung.
Finanzielle Förderung sichern
Der Mehrjährigen EU-Finanzrahmen (MFR) sollte auf Maßnahmen zur Stärkung der unternehmerischen Wettbewerbsfähigkeit setzen. Ein Ziel muss bleiben, dem Mittelstand bürokratiearmen Zugang zu EU-Förderprogrammen zu ermöglichen.
Zielgruppe klar adressieren
Für gezielte Politik sollten die finanziellen Schwellenwerte der KMU-Definition angesichts dramatischer Preisentwicklungen angepasst sowie Mid-Cap-Unternehmen als eigene Kategorie ergänzend zu KMU etabliert werden. Operativ wäre hilfreich, die Rolle des SME-envoy in der Europäischen Kommission überzeugend zu besetzen und über die Dienste hinweg wirkungsvoll einzusetzen.
Neue geo- und handelspolitische Gegebenheiten bei Marktanalyse berücksichtigen
Die Europäische Kommission sollte bei ihrer wettbewerbsrechtlichen Marktanalyse eine vorausschauende zukunftsgerichtete Betrachtung vornehmen und die globale Wettbewerbssituation, die dynamische Marktentwicklung und den zu erwartenden potenziellen Wettbewerbseintritt anderer Unternehmen bei der Marktabgrenzung stärker einbeziehen.
Auf neue Durchsetzungsinstrumente verzichten
Es bestehen keine strukturellen Wettbewerbsprobleme oder Rechtslücken, die es rechtfertigen würden, neue Durchsetzungsinstrumente für die Europäische Kommission zu schaffen – etwa durch eine Wiederbelebung der Diskussionen zum sogenannten New Competition Tool.
Kartell- und Fusionskontrollverfahren verhältnismäßig und rechtssicher ausgestalten
Der mit einem Auskunftsverlangen der Europäischen Kommission verbundene Verwaltungsaufwand für Unternehmen in fusions- oder kartellrechtlichen Verfahren ist beträchtlich, sodass Auskunftsverlangen stets dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen sollten. Die angekündigte Überarbeitung der kartellrechtlichen Verfahrensverordnung darf nicht zu Lasten der Verteidigungsrechte der Unternehmen erfolgen. Bei geplanten Zusammenschlüssen müssen Unternehmen rechtssicher vorhersehen können, ob die Europäische Kommission den Fall prüfen wird.
International Procurement Instrument und Foreign Subsidies Instrument pragmatisch umsetzen
Die EU muss die europäische Industrie gegen Wettbewerbsverzerrungen durch Abschottungen von Vergabemärkten in Drittändern sowie durch ungerechtfertigte Subventionen von Drittländern bei Aktivitäten im Binnenmarkt schützen. Eine wichtige Rolle können insoweit neue EU-Instrumente wie das International Procurement Instrument (IPI, internationales Beschaffungsinstrument) sowie das Foreign Subsidies Instrument (FSI, Instrument zur Bekämpfung wettbewerbsverzerrender Drittstaatssubventionen) spielen. Dabei muss allerdings darauf geachtet werden, dass bei der Anwendung dieser Instrumente ein zu hoher bürokratischer Aufwand vermieden wird.
Steuerliche Compliance-Pflichten evaluieren
Die EU hat zahlreiche neue steuerrechtliche Compliance-Pflichten für Unternehmen geschaffen, die zu einer enormen administrativen Belastung führen und dringend evaluiert, vereinheitlicht und abgebaut werden sollten.
Gesamtkonzept für eine wachstumsfreundliche Unternehmensbesteuerung entwickeln
Die EU sollte das Inkrafttreten der globalen Mindeststeuer ab dem 1. Januar 2024 zum Anlass nehmen, um ein Gesamtkonzept für die Unternehmensbesteuerung zu erarbeiten, bestehende Anti-Missbrauchsbestimmungen zu evaluieren und unnötige Bestimmungen zu streichen. Um grenzüberschreitendes Wirtschaften zu erleichtern, müssen steuerrechtliche Vereinfachungen stärker als bisher in den Blick genommen werden. Dies gilt insbesondere auch für den am 12. September 2023 vorgelegten Richtlinienvorschlag zur Einführung eines EU-weiten, gemeinsamen Körperschaftsteuersystems (BEFIT, Business in Europe: Framework for Income Taxation). Die mit dem Vorschlag vorgesehene Möglichkeit zum grenzüberschreitenden Verlustausgleich wäre ein wichtiges Element, um Wirtschaftstätigkeit über Grenzen hinweg und damit Wachstum und Beschäftigung in Europa zu fördern. Angesichts des hochkomplexen europäischen Steuerrechts muss die BEFIT-Initiative jedoch zwingend vereinfacht und mit der globalen Mindeststeuer und nationalstaatlichen Sonderregelungen wie der deutschen Gewerbesteuer in Einklang gebracht werden, um Inkonsistenzen und neue Komplexitäten zu vermeiden. Der BDI lehnt zudem eine verbindliche Einführung von BEFIT ab.
Grenzüberschreitendes mobiles Arbeiten rechtssicher regeln
Die EU sollte im Einklang mit internationalen Partnern wie der OECD an rechtssicheren Regelungen arbeiten, um die steuerrechtlichen Fragen von mobilem Arbeiten im grenzüberschreitenden Kontext für Unternehmen und Beschäftigte zu lösen.
KV- Richtlinie ambitioniert überarbeiten
Die EU-Institutionen sollten die Vorschriften der Richtlinie zur Förderung von Investitionen in Umschlaganlagen des Kombinierten Verkehrs (KV) klarer fassen, um nationale Sonderwege zu vermeiden. Mehr Harmonisierung darf jedoch nicht zu Lasten ambitionierter Vorschriften gehen: Die Privilegien beziehungsweise die Attraktivität des KV dürfen keinen Schaden nehmen.
Europäische Mobilitätsstrategie für die Schiene mit Leben füllen
Die Industrie unterstützt das in der europäischen Mobilitätsstrategie gesetzte Ziel der Verlagerung auf die Schiene. Um dieses Ziel zu erreichen und das für die Industrieproduktion entscheidende europäische Schienennetz zu entlasten, sind kapazitätswirksame kleinere und mittlere Maßnahmen wie z. B. zusätzliche Weichen und Gleise entscheidend. Außerdem gilt es, den Einzelwagenverkehr durch die Einführung der Digitalen Automatischen Kupplung (DAK) europaweit zu sichern und zu stärken. Hierzu braucht es neben einer Bündelung bestehender Initiativen auch eine breit angelegte, marktgerechte und auf europäischer Ebene koordinierte DAK-Investitions- und Migrationsstrategie. Des Weiteren sind zusätzliche Maßnahmen zur Optimierung des Managements und der Koordinierung der Infrastrukturkapazitäten erforderlich. Außerdem sollten die EU-Institutionen die infrastrukturellen Voraussetzungen für eine durchgängige Fahrbarkeit von 740-Meter Zügen im europäischen Schienennetz schaffen.
Optimierungspotenzial des Flugführungsmanagements nutzen
Die Umsetzung des Single European Sky (SES, Einheitlicher Europäischer Luftraum) kann nicht nur zu klimaoptimierten Flugrouten und Kraftstoffeinsparungen führen, sondern auch weitere Kapazitäten im europäischen Flugraum schaffen. Die ambitionierte Weiterentwicklung des SES muss daher Priorität bleiben.