Die Industrie macht Europa erlebbar
Empfehlungen für die 20. Legislaturperiode
Die Europäische Union (EU) ist die Heimat der deutschen Industrie. Rund zwei Drittel der deutschen Exporte und Importe gehen auf den Handel innerhalb der EU zurück. Der Binnenmarkt ist das Fundament für Wachstum, Arbeitsplätze und Wohlstand in Deutschland und Europa. Zugleich ist der Zugang zum europäischen Markt ein entscheidender Faktor, um unsere Interessen, aber auch unsere Werte, weltweit durchzusetzen. Für die großen globalen Herausforderungen unserer Zeit brauchen wir europäische Lösungen. Dies haben zuletzt die Corona-Pandemie und der Ukrainekrieg gezeigt. Nur Europa ist in der Lage, mit anderen Weltmächten ebenbürtig zu agieren. Jeder einzelne Mitgliedstaat – auch Deutschland – ist für sich genommen zu klein. Eine starke und handlungsfähige EU ist daher im ureigenen nationalen Interesse. Die Zukunft Europas ist eng mit der Zukunft der europäischen Industrie verknüpft. Eine starke und innovative Industrie ist Voraussetzung dafür, dass Europa globale Zukunftsthemen, wie den Klimawandel oder die Digitalisierung, mit eigenen Technologien und Konzepten auf Augenhöhe mit den Vereinigten Staaten und China mitgestalten kann. Ein starkes Europa wird es nur mit einer starken Industrie geben.
Für die Zukunft braucht Europa…
Europas Stimme in der Welt stärken
Europa muss international mit einer Stimme sprechen und gegenüber Partnern wie Wettbewerbern geschlossen auftreten. Ein wichtiger Schritt wäre, das Prinzip der Einstimmigkeit in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) durch Mehrheitsentscheidungen zu ersetzen. Dies würde die außenpolitische Handlungsfähigkeit der EU deutlich stärken.
Europäische Partner außenpolitisch stärker einbinden
Insbesondere in den Beziehungen zu Weltmächten, wie z. B. China oder den Vereinigten Staaten, sollte die Bundesregierung die europäische Dimension stärker betonen. Beispielsweise wäre es sinnvoll, bei Staatsbesuchen, Regierungskonsultationen oder Delegationsreisen auch Vertreter der EU-Institutionen, anderer europäischer Regierungen oder entsprechender Verbände und Unternehmen einzubeziehen. So wäre sichergestellt, dass die EU als Einheit wahrgenommen wird. Dies wäre auch ein starkes Signal für andere europäische Regierungen und könnte Spaltungsversuchen von außen entgegenwirken.
Europas Einfluss gezielt nutzen
Europas größter Trumpf auf der politischen Weltbühne ist seine wirtschaftliche Stärke. Sie resultiert maßgeblich aus Europas großem Binnenmarkt und der Wettbewerbsfähigkeit seiner Unternehmen, allen voran seinen kleinen und mittleren Unternehmen (KMU). Diese Position gilt es auszubauen und gezielt einzusetzen, denn nur ein wirtschaftlich starkes Europa ist ein politisch starkes Europa, das Wohlstand und gesellschaftlichen Zusammenhalt gewährleistet und seine Interessen, Standards und Werte in der Welt einbringen und verteidigen kann.
Ganzheitliche und globale Antworten bei der Green Deal-Umsetzung geben
Europa muss auch bei der Umsetzung seiner ambitionierten Klimaziele auf eine wettbewerbs- und zukunftsfähige Industrie setzen. Daneben braucht es einen belastbaren Ordnungsrahmen und einen konsistenten Instrumentenmix auf EU-Ebene und vor allem eine aktive europäische Klimadiplomatie, denn der Klimawandel ist eine globale Herausforderung, die Europa nicht allein bewältigen kann.
Eine selbstbewusste Außenwirtschaftspolitik entwickeln
Europa muss seine Interessen und Werte in der Außenwirtschaftspolitik selbstbewusst vertreten. Wir brauchen eine Handelspolitik, die die wirtschaftlichen und politischen Interessen Europas in den Mittelpunkt stellt, zu einem internationalen Wettbewerb auf Augenhöhe beiträgt und unsere Unternehmen vor Zwangsmaßnahmen anderer Staaten schützt. Die Außenwirtschaftspolitik muss dabei neben der wirtschaftlichen auch die soziale und ökologische Nachhaltigkeit sowie die Durchsetzung von Menschenrechten im Blick haben. Dadurch dürfen Handels- und Investitionsabkommen allerdings nicht überfrachtet werden. Durch eine Blockadehaltung und überzogene Forderungen an die Partner geht die Handlungsfähigkeit und letztlich jeglicher Einfluss verloren. Das muss auch die Bundesregierung in Brüssel wieder stärker berücksichtigen.
Alle Politikfelder auf Wettbewerbsfähigkeit ausrichten
Vor dem Hintergrund der aktuellen Krisen müssen die EU-Institutionen alle Politikfelder auf Wettbewerbsfähigkeit ausrichten („Industrie-Mainstreaming“), um die Perspektive industrieller Wettbewerbsfähigkeit frühzeitig in umwelt-, klima- und verbraucherpolitische Diskussionen einzubringen. Zusätzliche Bürokratie und Belastungen müssen vermieden werden. Im Rat sollte Deutschland zur führenden Stimme für industrielle Wettbewerbsfähigkeit avancieren.
Industrieziel 2030 setzen
Die EU sollte sich neben dem Klimaziel auch ein ambitioniertes Industrieziel für 2030 setzen und dieses durch ein Indikatoren-Set ergänzen, das ein quantitatives Monitoring der industriellen Entwicklung Europas im globalen Vergleich ermöglicht.
Klima- und Industriepolitik in Einklang bringen
Die erhöhten klimapolitischen Ambitionen der EU müssen mit Wettbewerbsfähigkeit, Wachstum und der Schaffung neuer Arbeitsplätze in Einklang gebracht werden. Die „grüne Transformation“ kann nur mit einer starken Wirtschaft gelingen. Nur dann wird sie auch Nachahmer in anderen Teilen der Welt finden.
Digitale Transformation als Innovationstreiber verstehen
Eine erfolgreiche Industriestrategie muss von einer starken Innovations- und Digitalpolitik flankiert werden. Europas digitale Souveränität sollte entschieden vorangetrieben werden. Dabei muss Europa seine Kräfte bei der Förderung von Schlüsseltechnologien bündeln, um auf internationaler Ebene konkurrenzfähig zu bleiben. Digitale Technologien sind auch als Katalysator zur Erreichung der Nachhaltigkeitsziele zu nutzen.
Konkreten industriepolitischen Maßnahmenplan entwickeln und umsetzen
Die EU-Industriestrategie sollte von einem konkreten Maßnahmenplan begleitet werden, über dessen Umsetzung die EU-Kommission den Mitgliedstaaten regelmäßig im EU-Wettbewerbsfähigkeitsrat Bericht erstattet.
Vollendung des Binnenmarkts zum zentralen Zukunftsprojekt machen
Neben dem jahrzehntelangen Frieden in Europa ist der Binnenmarkt die größte Errungenschaft der Europäischen Union. Er ist aber nach wie vor unvollendet. Die Wiederherstellung des Binnenmarkts nach Ende der Coronapandemie allein reicht nicht. Die Vertiefung des Binnenmarkts in allen Bereichen – insbesondere für Energie, Dienstleistungen und Digitales – muss zu einem zentralen Zukunftsprojekt der EU ausgebaut werden.
Politische Bekenntnisse endlich umsetzen
Die deutsche Politik steht in der Pflicht, ihren regelmäßigen politischen Bekenntnissen zu einer Vertiefung des Binnenmarkts endlich Taten folgen zu lassen und Blockadehaltungen, vor allem in dienstleistungsbezogenen Fragen, zu beenden.
Binnenmarkt-Maßnahmenpaket vollständig umsetzen
Das Maßnahmenpaket der EU-Kommission für den Binnenmarkt (Aktionsplan für eine bessere Um- und Durchsetzung von Binnenmarktvorschriften sowie Bericht über Hindernisse) muss schnell und vollständig umgesetzt werden. Die dafür notwendigen nationalen Kapazitäten, Ressourcen und Know-how müssen aufgestockt werden. Die EU-Kommission sollte den EU-Wettbewerbsfähigkeitsrat regelmäßig über den Umsetzungsfortschritt informieren.
Dienstleistungsbezogene nationale Maßnahmen notifizieren
Transparenz und Vermeidung neuer Barrieren im Binnenmarkt sollten durch systematische Notifizierung neuer Maßnahmen mit Binnenmarktbezug sowie durch die systematische Anwendung des Proportionalitätstests verbessert werden. Gleichzeitig gilt es, die grenzüberschreitende Kooperation mit Behörden anderer EU-Staaten zu verbessern sowie das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung systematisch anzuwenden.
EU-Recht einheitlich umsetzen
EU-Recht sollte auf nationaler Ebene immer 1:1 umgesetzt und auf „Gold-Plating“ verzichtet werden. Nur so ist ein einheitlicher Rechtsrahmen im Binnenmarkt sichergestellt.
EU-Agenda für Bessere Rechtsetzung ausbauen und vertiefen
Die EU-Agenda für Bessere Rechtsetzung muss ausgebaut und vertieft werden. Die Mitteilung der Kommission zu „Better Regulation“ vom April 2021 bleibt weit hinter den Erwartungen der Wirtschaft zurück.
„One-In-One-Out“ auf EU-Ebene endlich umsetzen
Das von Kommissionspräsidentin von der Leyen angekündigte One-in-One-Out-Prinzip muss auf europäischer Ebene endlich umgesetzt werden. Neben administrativen Belastungen, muss auch der erhebliche Erfüllungsaufwand für Unternehmen („substantive compliance costs“), allen voran für KMU, erfasst und abgebaut werden.
Folgenabschätzungen verbessern
Die Qualität von Folgenabschätzungen der EU-Kommission sowie die unabhängige Prüfung durch den Ausschuss für Regulierungskontrolle (Regulatory Scrutiny Board, RSB) müssen gestärkt werden. Vor allem die zahlreichen im Green Deal und in der Digitalstrategie der EU-Kommission vorgesehenen neuen Initiativen bedürfen genauer Kosten-Nutzen-Rechnungen und sollten die Ergebnisse der öffentlichen Konsultation stärker berücksichtigen und miteinarbeiten.
Bekenntnisse der interinstitutionellen Vereinbarung für bessere Rechtsetzung erfüllen
Gemäß der interinstitutionellen Vereinbarung für bessere Rechtsetzung aus dem Jahr 2016 ist der Rat aufgefordert, eigene Kapazitäten für Folgenabschätzungen zu wesentlichen Abänderungsanträgen zu schaffen und diese systematisch einzusetzen. Das Europäische Parlament sollte seine bestehenden Kapazitäten ausweiten und systematischer zur Anwendung bringen. Es sollte eine gemeinsame, interinstitutionelle Definition von „wesentlichen Änderungen“ erarbeitet werden.
Transparenz verbessern
Nach wie vor sind viele Verfahren und Abläufe der europäischen Rechtssetzung intransparent und nicht nachvollziehbar. Die Interinstitutionelle Vereinbarung für bessere Rechtsetzung sollte auch in allen anderen Bereichen, wie der Gewährleistung von Transparenz in den Arbeitsabläufen des Rates und in Trilogverhandlungen, vollständig umgesetzt werden, um dem Anspruch demokratischer Legitimität gerecht zu werden.
Europapolitische Koordinierung der Bundesregierung verbessern
Die Bundesregierung muss ihre Positionierung zu europapolitischen Dossiers frühzeitig ressortübergreifend abstimmen, um deutsche Interessen im Rat besser vertreten zu können. Bislang ist in Brüssel nicht erkennbar, dass die im Koalitionsvertrag dazu vereinbarten Maßnahmen wirken.
Ratsarbeit politische Priorität einräumen
Die Bundesregierung sollte an den Tagungen des Rates stets auf Ministerebene teilnehmen, um der Bedeutung der EU für die politische und wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands Rechnung zu tragen.
Allianzen mit Gleichgesinnten schmieden
Die Bundesregierung sollte in den wichtigen Fragen der Wirtschaftspolitik Allianzen mit gleichgesinnten Partnern suchen und gezielt vorantreiben. Eine enge deutsch-französische Abstimmung bleibt der zentrale Faktor für die Entscheidungsfindung in der EU. Sie muss aber um andere Mitgliedstaaten unterschiedlicher Größe und aus verschiedenen Regionen ergänzt werden.