Which Europe?
Im Wahljahr 2019 sieht sich die Europäische Union mit internen und externen Herausforderungen konfrontiert. Wenige Wochen vor der Europawahl wird spürbar, dass es bei dieser Wahl um Grundsätzliches geht. Während europaskeptische Parteien in mehreren Mitgliedsstaaten Sinn und Zweck der EU ganz grundsätzlich in Frage stellen, formiert sich gleichzeitig eine proeuropäische Gegenbewegung. Denn die Mehrheit der Europäer will die Union nicht abschaffen – sie will sie stärken und reformieren. Die Europawahl kommt daher zur rechten Zeit: Sie verschafft den Bürgerinnen und Bürgern der europäischen Mitgliedstaaten die Chance, in dieser kritischen Phase mitzubestimmen: Wie soll die Zukunft Europas aussehen?
Die Geschichte lehrt, dass die Europäische Union (EU) aus Krisensituationen meist gestärkt hervorgeht. Die aktuellen Herausforderungen werfen jedoch Grundsatzfragen auf, die nach einer Antwort verlangen: nach dem Mehrwert, den Zielen und der Bedeutung der EU in einer im Umbruch begriffenen Weltwirtschaft. Wir müssen uns fragen: In welchem Europa wollen wir leben? Klar ist jedoch eines: nur ein wirtschaftlich starkes Europa kann die Zukunft global gestalten und sichern.
Zwischen EU-Skeptikern und Reformern
Seit der Entscheidung Großbritanniens, die Union zu verlassen, sinkt europaweit die Zahl der Europa-Skeptiker: Der Brexit wirkte wie ein Weckruf, der viele Menschen an den ganz konkreten Mehrwert der EU für ihr Land und für jeden Einzelnen erinnerte. Das Eurobarometer, eine regelmäßige Umfrage des Europäischen Parlamentes, zeigte im Herbst 2018: acht von zehn Deutschen (81 Prozent) halten die EU-Mitgliedschaft grundsätzlich für eine gute Sache. EU-weit liegt der Anteil der EU-Befürworter bei 62 Prozent – der höchste Zustimmungswert, der in den vergangenen 25 Jahren gemessen wurde.
Die Mehrheit der Menschen in der EU wünscht sich also, dass die EU Lösungen für wichtige Zukunftsfragen erarbeitet, darunter an erster Stelle Fragen der Einwanderung (50 Prozent), Maßnahmen zur Stärkung von Wirtschaft und Wachstum in den Mitgliedsstaaten (47 Prozent) und für den Kampf gegen Jugendarbeitslosigkeit (47 Prozent). Der Fraktion der EU-Skeptiker steht die Fraktion derjenigen gegenüber, die diese Wünsche der EU-Bürger ernst nehmen – und deshalb eine Reform und Stärkung der bestehenden Wirtschafts- und Währungsunion anstreben statt deren Auflösung.
Konkrete Vorschläge für eine Reform liegen auf dem Tisch: Ein Europäischer Währungsfonds und weitere strukturelle Reformen könnten die bestehenden Mechanismen, die für die Stabilität der gemeinsamen Währung sorgen, stärken. Auch der BDI tritt dafür ein, den Euro und den EU-Binnenmarkt zu stärken. Denn die gemeinsame Währung und der Binnenmarkt sind wichtige Wachstumstreiber und Beschäftigungsmotor für alle europäischen Mitgliedsstaaten. Wird der Binnenmarkt vollendet, könnte er bis zu 1,1 Billionen Euro zusätzlich zur europäischen Wirtschaftsleistung beitragen.
Mehr als nur eine Währung: 20 Jahre Euro
„Die einheitliche Währung gehört zu den größten Erfolgsgeschichten Europas, an ihrer Bedeutung und Tragweite in den ersten zwanzig Jahren ihres Bestehens kann es keinen Zweifel geben“, sagte der heutige Eurogruppen-Vorsitzende Mario Centeno anlässlich des 20-jährigen Jubiläums des Euros. Was mit elf Mitgliedsstaaten als reine Buch-Währung begann, ist heute Alltagswährung von 340 Millionen Europäern in 19 EU-Ländern. Rund 60 weitere Länder nutzen den Euro als offizielles Zahlungsmittel oder haben ihre Währung an die europäische Währung gekoppelt. 19,9 Prozent der globalen Währungsreserven werden in Euro gehalten – damit liegt der Euro auf Platz zwei hinter dem US-Dollar.
Ein wirtschaftlich starkes Europa setzt Standards
Vor dem Hintergrund des Handelsstreits zwischen den USA und China ist die EU als zweitstärkste Wirtschaftsmacht der Welt besonders gefragt: Sie muss ein Zeichen für freien und fairen Handel setzen und gegen alle Formen des Protektionismus vorgehen. In Zeiten der Globalisierung werden offene Märkte für Handel und Investitionen immer wichtiger, um den europäischen Wohlstand abzusichern und Wohlstand weltweit zu ermöglichen. Ganze 46 Prozent der EU-Wirtschaftsleistung basieren auf dem Außenhandel. Freihandel und offene Märkte sichern nicht nur Arbeitsplätze, sondern auch niedrige Preise und eine breite Produktauswahl in Europa. Die EU muss ihre ambitionierte bilaterale Verhandlungsagenda mit Nachdruck vorantreiben und vor allem den Austausch mit den USA, den ASEAN- und Mercosur-Staaten sowie weiteren großen Märkten liberalisieren.
Ein Zeichen gegen Protektionismus und Abschottung
Durch JEFTA, das bisher größte Freihandelsabkommen der EU, entsteht ein gemeinsamer Wirtschaftsraum von mehr als 600 Millionen Menschen – die größte Freihandelszone der Welt. Dieser Erfolg stärkt der EU auch beim Aushandeln neuer Handelsabkommen mit den USA und China den Rücken. Das neue Freihandelsabkommen beweist: Ein Europa, das wettbewerbsfähig ist, wirtschaftlich stark und geeint auftritt, kann aktiv gestalten, wie die Wirtschaftswelt von morgen aussieht.
Digital Europe: Neue Technologien für mehr Wachstum und Wohlstand
Allein durch eine konsequente Fokussierung auf Künstliche Intelligenz (KI) könnte Europa seine Wirtschaftsleistung bis zum Jahr 2030 um 2,7 Billionen Euro oder 19 Prozentpunkte erhöhen. Und KI ist nur eine von vielen digitalen Zukunftstechnologien, die Unternehmen in Europa und weltweit in den kommenden Jahren in erfolgreiche Geschäftsmodelle umwandeln und zur Lösung aktueller gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Herausforderungen einsetzen werden. Das wirtschaftliche Potenzial eines vertieften digitalen Binnenmarktes liegt schätzungsweise bei bis zu 415 Milliarden Euro jährlich.
Um den Wandel zum digitalen Binnenmarkt erfolgreich zu gestalten, sind allerdings gut ausgebildete Fachkräfte ein entscheidender strategischer Standortfaktor. Neun Millionen Erasmus-Teilnehmer sind schon heute eine Erfolgsgeschichte der EU. Damit in Zukunft kein Fachkräftemangel den digitalen Wandel ausbremst, sind zusätzliche Mittel für die Erasmus-Programme und zur Förderung der MINT-Bildung ebenso notwendig wie vereinfachte Bedingungen für Arbeitnehmer, die innerhalb Europas ihre Kompetenz zur richtigen Zeit am richtigen Ort einsetzen wollen. Vor diesem Hintergrund muss der EU-Haushaltsrahmen wachstumsorientiert ausgerichtet werden und insbesondere Forschungs- und Innovationsförderung fokussieren. Nur so können europäische Unternehmen technologische Trends mitgestalten und Standards für deren Einsatz setzen.
Nachhaltiges Europa: Investitionen in Klimaschutz und Kreislaufwirtschaft
Öffentliche und private Investoren müssen sich auf gemeinsame, belastbare politische Rahmenbedingungen verlassen können, wenn nachhaltiger Umwelt- und Klimaschutz gelingen soll – und das im Idealfall weltweit. Je größer der internationale Konsens und je ähnlicher die Klimaschutzinstrumente in den verschiedenen Ländern, desto besser werden auch die Risiken und Lasten von Klimaschutzinvestitionen verteilt, wie die Klimapfade für Deutschland des BDI zeigen.
Die EU muss bei internationalen Verträgen wie dem Pariser Klimaschutzabkommen künftig mit einer Stimme sprechen, um ihren Einfluss für globale Klimaschutz- und Umweltschutz-Standards geltend machen zu können. Entscheidend ist auch, dass Projekte wie das EU-Abfallgesetz vollständig umgesetzt und Förderprogramme wie der ETS-Innovationsfonds, der kohlenstoffarme Technologien fördert, gestärkt werden können.
Wenn alle gewinnen: Zukunftsinvestition Umweltschutz
Der „Aktionsplan für die Kreislaufwirtschaft“ in Europa soll natürliche Ressourcen besser schützen – besonders Mineralien, Erze, fossile Brennstoffe und Biomasse. Ziel ist nicht nur der Umweltschutz allein. Eine ressourceneffizientere Wirtschaft macht sich nicht zuletzt auch unabhängiger von internationalen Rohstoff-Lieferanten und stärkt die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie. Allein die vollständige Umsetzung der EU-Abfallgesetze kann Schätzungen zufolge bis 2020 mehr als 400.000 Arbeitsplätze schaffen. Ein effizienter Einsatz knapper Ressourcen setzt zudem Anreize für intelligentes und innovatives Wachstum der EU-Wirtschaft. Die deutsche Industrie trägt mit innovativen Technologien und Produkten bereits heute entscheidend zu einem nachhaltigen Einsatz bei.
Sicherheit für alle: Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik
Europa ist zuallererst ein Friedensprojekt – und muss diese Funktion auch in Zukunft erfüllen können. Denn Wohlstand und Freiheit für die Bürgerinnen und Bürger der EU ist ohne Frieden und Sicherheit nicht möglich. In einer Welt, die von zunehmender Instabilität und grenzübergreifenden Bedrohungen geprägt ist, kann kein Land allein diese Sicherheit gewährleisten. Nur eine nach innen und außen geeinte EU kann wirtschaftliche und sicherheitspolitische Strukturen international mitgestalten. Um als eigenständiger Impulsgeber in der Außen- und Sicherheitspolitik wahrgenommen zu werden, müssen die EU-Mitgliedsstaaten ihre Zusammenarbeit deutlich vertiefen. Ein Baustein einer intensivierten Kooperation ist, gemeinsame Entwicklungs- und Beschaffungsprojekte von Rüstungsgütern voranzutreiben. Nur so können Effektivität und Effizienz gesteigert sowie technologische Souveränität gesichert werden.
Gemeinsam für mehr Sicherheit: Verteidigungsfonds und Cyber-Security-Act
Mit dem Europäischen Verteidigungsfonds, der mit 13 Milliarden Euro ausgestattet sein soll, sowie der „Permanent Structured Cooperation“ (PESCO) sind bereits wichtige Schritte auf dem Weg zur Verteidigungsunion getan worden. Diese müssen jedoch zügig vorangetrieben werden – nur so kann Europa als weltweiter Stabilitätsanker auftreten. Bereits Ende 2018 vereinbarte die Kommission mit dem Cyber-Security-Act zudem die Eckdaten für eine gemeinsame digitale Sicherheitspolitik. Wie wichtig die Zusammenarbeit auch auf diesem Feld ist, zeigen aktuelle Cyber-Attacken im Vorfeld der Wahl: Der IT-Konzern Microsoft berichtet über Angriffe auf europäische Thinktanks und Organisationen.
Gemeinsam wachsen: Wachstum und Wohlstand auch in Zukunft
Die Europäische Union von heute ist nicht mehr die Union der Gründungszeit. Unverändert ist das Ziel, Sicherheit, Wachstum und Wohlstand für Mitgliedsstaaten und ihre Bürgerinnen und Bürger zu schaffen. Um dieses Ziel zu erreichen, entwickelt sich die Gemeinschaft der europäischen Staaten kontinuierlich weiter. Die globale Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft ist eine Voraussetzung dafür, dass dieser Wandel gelingt. Denn nur mit einer leistungsfähigen Wirtschaft im Rücken können die Institutionen der EU international erfolgreich und auf Augenhöhe die Ziele der Gemeinschaft vertreten.
Die Europawahlen sind die Chance, sich in diesen Veränderungsprozess einzubringen. Und sie werden zur Grundsatzentscheidung, ob ein starkes und souveränes Europa in Zukunft ein Zentrum des globalen, verantwortungsbewussten, zukunftsfähigen Wachstums sein kann.